Rede anlässlich der Jahresversammlung der Max-Planck-Gesellschaft zur Föderung der Wissenschaften

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. Juni 2001

Lieber Herr Markl,lieber Herr Bürgermeister,meine Damen und Herren,

I.

Unter drei Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, unter Staab und Zacher und Markl, habe ich Mitglied des Senats sein dürfen, als einer, der aus der Stadt kommt, aus der ein früherer Präsident - Reimar Lüst - stammt. Und deshalb ist es für mich besonders schön, dass ich jetzt, als Bundespräsident, Ihr Gast sein und zu Ihnen sprechen darf. Ich tue das trotzdem ein wenig betroffen von der Nachricht, dass Sie, lieber Herr Markl, andere Aufgaben nach Ihrer beruflichen Lebenszeit suchen. Ich finde das schade für die Max-Planck-Gesellschaft und schön für Sie.

Meine Damen und Herren, unsere Welt ist in einem Maß von wissenschaftlich-technischer Rationalität geprägt wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Kein verantwortlicher Politiker entscheidet heute noch Dinge von einiger Bedeutung, ohne seine Entscheidungen durch wissenschaftlichen Sachverstand abzusichern. Kein größeres Unternehmen kann sich auf Dauer am Markt behaupten, wenn es darauf verzichtet, eine Menge Geld in Forschung zu stecken und niemand kann es sich mehr leisten, nichts für seine Bildung zu tun.

Das alles sind Erfolge für die Wissenschaft. Von einer fern stehenden Beobachterin ist sie immer stärker zu einem Teil unseres Lebens geworden.

Schon unser Alltag macht den phänomenalen Erfolg der Wissenschaft deutlich: Wer wollte auf die vielen praktischen Hilfen verzichten, die unser Leben erleichtern und bequemer machen und an deren Erfindung und ständiger Weiterentwicklung die Wissenschaft meist maßgeblichen Anteil hat?

Der offensichtliche, der ganz praktische Nutzen der Wissenschaft hat aber auch zwei Folgen, die uns zu denken geben sollten:

  • Erstens: Die Wissenschaft gewinnt viele Freunde, die lieber Äpfel essen als Apfelbäume pflanzen,

  • und zweitens: Es gibt auch Wissenschaftler, die dafür mehr Verständnis haben als nötig.

Was meine ich damit? Ganz einfach: Ich habe manchmal den Eindruck, dass erstens Ökonomie und Politik aus lauter Begeisterung über die praktischen Nutzanwendungen der Wissenschaft häufig vergessen, dass die nutzbringenden Früchte erst reifen müssen und dass zweitens der große Erfolg der Wissenschaft sie manchmal selber dazu verführt zu vergessen, was ihre inneren Triebkräfte sind:

  • Der Zweifel,

  • die Kritik,

  • die Neugierde und

  • die unbedingte Suche nach der Wahrheit.

Die Orte der Wissenschaft sind zuerst Tempel nagenden Zweifels und furchtloser Respektlosigkeit, und erst dann sind sie Brutplätze freundlicher Nützlichkeit; sie sind zunächst weite Landschaften, in denen der Erkenntnistrieb frei umherschweift, und erst dann sind sie Plantagen des Bruttosozialprodukts.

Ich weiß, dass Politiker und Vertreter der Wirtschaft in der Regel das Gegenteil von der Wissenschaft fordern: Mehr Anwendungsbezug, weg von einer Forschung, die nur Geld verlangt und keines bringt. Ist es nicht das, was die Forscher ständig hören?

Ja, das stimmt, und auch ich bin weit davon entfernt, einem romantischen Wissenschaftsideal das Wort zu reden. Wir sind zu sehr auf die Wissenschaft angewiesen, und sie braucht auch zu viel Geld, als dass wir die Gestalt des Freibeuters der Erkenntnis zum allein maßgeblichen Ideal machen könnten. Unser Wissenschaftssystem und unsere Gesellschaft brauchen offenbar beides: Die vielen Wissenschaftler, die anwendungsorientierte Forschung betreiben, genauso wie jene, die sich der Grundlagenforschung verschreiben. Gewiss: Nicht jeder Wissenschaftler kann ein Freibeuter der Erkenntnis sein. Jeder Wissenschaftler sollte aber die "Leidenschaft", das "Erlebnis der Wissenschaft" kennen und spüren, von denen Max Weber in seiner Rede über den "Inneren Beruf zur Wissenschaft" gesprochen hat.

Was die Wissenschaft tut, das wird auch in Zukunft nicht jede Bürgerin und jeder Bürger nachvollziehen können. Alle müssen aber sehen: Auch die vielen angenehmen und nützlichen Dinge, die wir uns wünschen, bekommen wir von der Wissenschaft nur dann, wenn wir ihr Vertrauen schenken und Freiraum schaffen. Angst vor dem, was die Wissenschaft tut und Angst vor den Resultaten des Fortschritts wird es auch in Zukunft immer wieder geben. Das ist in einer stets komplexer werdenden Welt nicht ganz zu vermeiden. Angst ist zwar kein guter Ratgeber, aber manchmal doch ein Alarmzeichen zur rechten Zeit und ein Hinweis darauf, dass die Wissenschaft immer wieder versuchen muss, sich verständlich zu machen, weil sie in der Demokratie auf Zustimmung angewiesen ist.

Ich bin davon überzeugt, dass die Wissenschaft ganz erheblich dazu beitragen kann und beitragen sollte, Ängste ernst zu nehmen und zu vermindern: Nicht, indem sie sich einschnürt und selbst ohne Not begrenzt, sondern indem sie die ihr eigenen Tugenden sichtbar kultiviert und öffentlich zeigt, dass sie sich ihrer Grenzen bewusst ist. Eine Wissenschaft, die so handelt, macht deutlich, was sie von Anbeginn war und ist: Eine Schwester der Freiheit und der Demokratie.

Ich weiß, dass ich Eulen an die Isar trage, aber es ist mir wichtig, der Max-Planck-Gesellschaft dafür zu danken, dass sie über den Äpfeln die Äpfelbäume nicht vergisst, und dass sie die Apfelbäume nicht nur pflegt, sondern auch immer wieder neue pflanzt.

II.

Ich habe in der zitierten Rede am 18. Mai vom menschlichen Maß und damit von Grenzen gesprochen. Lassen Sie mich darauf noch einmal kurz zurückkommen. Wenn wir über Grenzen in der Forschung sprechen, die wir aus ethischen Gründen akzeptieren müssen, dann sollten wir uns keine falschen Gegensätze einreden oder einreden lassen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Es ist ja nicht so, dass auf der einen Seite "die Ethik" steht und auf der anderen Seite "die Forschung". Es kann keine ethische Urteilsfindung geben, ohne dass man sich auf konkrete Fragen und Entscheidungssituationen einlässt, ohne Kenntnis, was geforscht wird und welche Ziele die Forschung verfolgt. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite findet Forschung nicht in einem ethisch neutralen Raum statt. Forscherinnen und Forscher sind Menschen mit ethischen Überzeugungen, mit Wertmaßstäben und Wertbindungen. Als Bürger sind sie Teil der Gesellschaft, die im Grenzfall als Ganze entscheiden muss, was erlaubt sein soll und was nicht.

Hier Ethik, dort Forschung - das ist falsch gedacht. Es ist doch nicht so, dass Menschen, die sich Gedanken um ethische Fragen machen, forschungs- oder wissenschaftsfeindlich sind und es ist auch nicht so, dass sich Forscher und Wissenschaftler grundsätzlich gegen ethische Fragestellungen oder gar Grenzziehungen wenden. Wir müssen alles dafür tun, dass dieser falsche Gegensatz sich nicht in den Köpfen festsetzt. Das schadete der Forschung und uns allen.

Forschung und Wissenschaft - das bedeutet stets, Neuland zu betreten, an Grenzen der Erkenntnis zu stoßen und sie zu überschreiten. Es gibt auch Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Sie, lieber Herr Markl, haben sich kürzlich auf einem Symposium damit auseinandergesetzt und festgestellt: "Wir müssen uns bewusst sein, dass jeder Wissenschaft ethische Grenzen gesetzt bleiben müssen." Dass Sie in einem anderen Zusammenhang diese Grenzen anders und an anderen Stellen setzen, als ich das in meiner erwähnten Rede getan habe, das hat mich nicht bekümmert. Das wäre ja noch schöner, wenn man ex cathedra die Grenzen bestimmen wollte. Nein, man möchte, dass die cathedra Gehör und Antwort findet. Aber nicht bloßes Ja und Amen. Ich füge hinzu: Dies Bewusstsein schafft die Voraussetzungen für den Dialog, den wir brauchen, und für die Entscheidungen, die wir treffen müssen.

Wir alle, Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler, leben in einer pluralen Gesellschaft. Wir leben aber alle in einer Gesellschaft. Darum ist es auch ein falscher Gegensatz, wenn man von "der Forschung" auf der einen Seite und "der Gesellschaft" auf der anderen Seite spricht. Gerade die Fragen nach dem menschlichen Leben müssen von der gesamten Gesellschaft diskutiert und entschieden werden, denn sie gehen alle an.

Ich weiß, dass der eine oder andere das als inkompetente und unzulässige Einmischung empfindet. Fragen grundsätzlicher Art seien am besten in der Scientific Community aufgehoben. Das ist ein Irrtum. Was alle angeht, muss von allen entschieden werden - und das bedeutet in einer parlamentarischen Demokratie, dass es letzten Endes um Entscheidungen geht, die im Parlament getroffen werden müssen. Niemand ist dafür besser legitimiert als die frei gewählten Abgeordneten. Die Anhörungen in den Gesetzgebungsverfahren geben Gelegenheit, die Erfahrungen von Experten für die Arbeit von Regierung und Parlament nutzbar zu machen.

Ich muss gestehen, dass ich immer ein Unbehagen empfinde, wenn ich von bestimmten Spartenethiken höre und lese, wie zum Beispiel von der Bioethik. Ich kann den Begriff akzeptieren, wenn er meint, dass es spezielle Fragen in einem Gebiet gibt, die in anderen Gebieten so nicht auftreten. Nicht akzeptieren kann ich den Begriff allerdings, wenn er einen begrenzten Kreis von Experten beschreiben soll, der allein kompetent sei, hier ethische Urteile zu fällen.

Manche sagen, dass durch ethisch begründete politische Entscheidungen die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft und Forschung beschnitten würde. Politik dürfe sich nicht in wissenschaftliche Prozesse einmischen. Es stimmt: Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes und schützenswertes Gut. Dass sie im Grundgesetz unter die grundlegenden Rechte aufgenommen worden ist, ist das Ergebnis einer langen Emanzipationsgeschichte, aber auch Ergebnis der Erfahrungen mit Zensur und mit dem totalitären Missbrauch von Wissenschaft. Auch hier sollten wir aber keine falschen Gegensätze konstruieren: Die Freiheit von Forschung und Lehre und ihr grundgesetzlicher Schutz sind keine wissenschaftlich unumstößlichen, empirischen Tatsachen, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundüberzeugung und Ergebnis einer politischen Entscheidung.

Politik muss die Freiheit der Wissenschaft fördern und schützen. Die Freiheit der Wissenschaft findet aber nach der Wertordnung unseres Grundgesetzes da ihre Grenze, wo die Freiheit, die Würde oder das Lebensrecht des Menschen bedroht ist.

III.

In den zurückliegenden Jahrzehnten haben sich in allen modernen Gesellschaften der Fortschrittsbegriff und die Erwartungen an die Wissenschaft verändert. In den sechziger Jahren waren viele fasziniert von kybernetischen Modellen, die für sich in Anspruch nahmen, die Entwicklung einzelner Länder, ganzer Erdteile oder der ganzen Welt auf Jahre, ja auf Jahrzehnte hin exakt vorhersagen zu können. Politik schien sich danach auf die Aufgabe zu reduzieren, dem wissenschaftlich vorausgesagten Gang der Geschichte den Weg zu ebnen und sich ihm nicht in den Weg zu stellen. In anspruchsvolleren Zukunftsentwürfen wurde der unbegrenzt scheinende wissenschaftliche Fortschritt gleichgesetzt mit ständig verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle. Es hat sich herausgestellt, dass wir von der wissenschaftlich-technischen Rationalität zuviel erwartet haben. Wir haben die "Dialektik des Fortschritts" erfahren.

Das hat bei manchen zu dem Fehlschluss geführt, die Menschheit müsse auf wissenschaftliche Rationalität verzichten. Ich halte das für einen ganz gefährlichen Irrtum. Wissenschaft ist dem Vorurteil und dem Ressentiment ja nicht deshalb überlegen, weil sie immer Recht hat. Wissenschaft ist aber aller Erfahrung nach am besten geeignet, Zusammenhänge zu analysieren, die komplizierte Wirklichkeit zu verstehen, Entwicklungen vorherzusagen und Vorschläge dafür zu machen, wie bestimmte Aufgaben möglichst klug gelöst werden können.

Vor wenigen Jahrzehnten schien es vor allem bei den Naturwissenschaften so, als könne man wissenschaftlich und unwissenschaftlich eindeutig unterscheiden. Heute erleben wir immer häufiger, dass Wissenschaftler der gleichen Fachrichtung zum gleichen Thema ganz unterschiedliche Auffassungen vertreten, die sich sogar oft ausschließen. Das führt zu der "Dialektik von Gutachten und Gegengutachten", die schon häufig beschrieben worden ist. Weder dem einen noch dem anderen Wissenschaftler aber kann man vorwerfen, dass sie die Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens verletzen.

Für die Politik entsteht dadurch ein Problem: Je mehr unterschiedliche wissenschaftliche Auffassungen es zu bestimmten Fragen gibt, umso schwieriger wird es für die politisch Verantwortlichen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Sie können ja nicht immer warten, bis eine gemeinsame Position da ist, auf die sich alle verständigt haben. Weil das so ist, müssen politische Entscheidungen immer besonders berücksichtigen, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse verändern können und dass sich auch ihre Bewertung durch die Gesellschaft verändern kann. Im Zweifelsfall sollte sich die Politik so verhalten, dass die Gesellschaft in der Lage bleibt, aus neuen Erkenntnissen und neuen Bewertungen zu lernen, ohne dass sie dafür einen übermäßig hohen Preis zahlen müsste.

Die Politik, meine Damen und Herren, ist auf wissenschaftliche Arbeit und auf wissenschaftliche Beratung angewiesen. Die Maßstäbe für politische Entscheidungen müssen aber aus einer wertegebundenen Haltung kommen. Dazu gehören unterschiedliche Vorstellungen darüber, was gut ist für den Menschen und wie menschliches Zusammenleben aussehen soll. Dazu gehört es, gesellschaftliche Konflikte, Interessen und Gegensätze zu sehen, zu bewerten und Prioritäten zu setzen.

Angesichts der historisch einmaligen Möglichkeiten, die der Erkenntnisgewinn der Naturwissenschaften mit sich bringt, wächst die Verantwortung der Politik. Sie hat eine doppelte Aufgabe: Sie muss dafür sorgen, dass Wissenschaft und Forschung unter günstigen Bedingungen stattfinden können. Das geht weit über das Materielle hinaus. Sie muss zum anderen dafür sorgen, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt nicht in Widerspruch gerät zu universellen Moralvorstellungen. Der Appell an Eigenverantwortung, transparentes Handeln und an die Selbstkontrolle der Wissenschaft wird immer der erste und vorrangige Weg sein müssen, Fehlentwicklungen zu korrigieren oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Wo das aber nicht hinreicht, da hat demokratische Politik nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zu handeln.

Wir alle wissen, dass das Ausnahmefälle sind. Im Alltag muss es darum gehen, politisch das zu nutzen, was die Wissenschaft beitragen kann.

Wissenschaft und Politik müssen sich ihrer unterschiedlichen Rollen und ihrer unterschiedlichen Aufgaben bewusst sein: Noch so gut fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse können politische Entscheidungen nicht ersetzen. Sie können aber mithelfen, dass die Politik die richtigen Entscheidungen trifft.

Wir leben in einer Zeit "neuer Unübersichtlichkeit". Damit die Politik verantwortungsbewusst entscheiden kann, muss sie sich deshalb mehr denn je die absehbaren und die möglichen Folgen ihres Tuns vergegenwärtigen. Dabei geht es immer auch um Grenzen: Grenzen für andere, aber auch für die Politik selber. Ohne die Wissenschaft und ihre Grenzüberschreitungen kann die Politik diese Grenzen nicht finden. Ohne die Grenzziehungen der Politik fände die Wissenschaft auch nicht das gesellschaftliche Klima und die Zustimmung, die sie braucht, um auf Dauer zu gedeihen und die ich Ihnen von Herzen wünsche.