Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau auf dem Weltkongress der Union Network International am 5. September 2001 in Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 5. September 2001

Wenn man die Bilder sieht, die hier gerade gezeigt worden sind, dann möchte man viel erzählen, vor allen Dingen, weil man vieles selber miterlebt hat. Man möchte erzählen von den Situationen, die diese bewegenden Bilder uns wieder vor Augen geführt haben. Man möchte erklären. Man möchte Fragen zu manchem Bild stellen.

So ist das: Menschen habe ihre Geschichte. Völker haben ihre Geschichte. Menschen werden daran gemessen, wie weit sie mit ihrer Geschichte, mit dem Geschehenen, auch mit dem, was sich geschichtet hat, identisch bleiben: wie es ihr Gesicht verändert, wie es ihre Sprache moduliert, wie sie selber werden, welches Format, welches Profil sie haben. Das gilt für Völker und für Menschen.

Übrigens: Wörter haben auch ihre Geschichte. Wir benutzen heute auch bei diesem Kongress Wörter, die hat es in meiner Kindheit, die hat es in meiner Jugend noch gar nicht gegeben. Das Wort Globalisierung steht in keinem Lexikon der fünfziger oder der sechziger Jahre. Es kommt auch in den Siebzigern und in den Achtzigern noch nicht vor. Aber plötzlich ist dies Wort schon wie eine abgegriffene Münze; jeder hat es benutzt und keiner macht sich klar, dass dies Wort ganz neu ist, dass es eine offenbar veränderte Wirklichkeit beschreibt. So ist das bei Globalisierung, eine veränderte Wirklichkeit, keine ganz andere. Das, was Globalisierung meint, gibt es in Ansätzen im 19. Jahrhundert, vielleicht schon zum Ende des 18., ganz bestimmt aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts - es hieß nur nicht so, es hieß Internationalisierung. Gemeint war der Warenaustausch, der Austausch von Waren und Gütern zwischen verschiedenen Ländern, und niemand war so früh dabei wie die Gewerkschaften.

Gewerkschaften haben sich seit ihrer Gründung immer international verstanden. Das war richtig so. Das musste so sein, denn viele der Probleme, viele der Fragen und Forderungen, machten an Ländergrenzen nicht halt.

Inzwischen gibt es ganz neue Wörter. Das Wort Internet, mit dem meine Kinder umgehen als gebe es das immer schon, habe ich erst gelernt, als ich jenseits der 60 war. Nicht jedes Wort freut einen, wenn es neu kommt.

Seit ein paar Monaten, ich weiß nicht ob das den deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern schon deutlich geworden ist, gibt es ein ganz neues Wort, jedenfalls in den Nachrichtensendungen, das heißt Gewinnwarnung. Das hatte ich nie gehört. Wie kann man vor Gewinnen warnen? Offenbar ist etwas anderes gemeint. Dieses Wort Gewinnwarnung macht uns aufmerksam darauf, dass wir in einer Zeit leben, und das will das Wort Globalisierung uns sagen, in einer Zeit fast unendlicher Beschleunigung.

Es geht alles schrecklich schnell. Je schneller es geht, desto disponibler werden die Maßstäbe. Dann bekommen wir Meldungen, die sind widersprüchlich. Wir bekommen nämlich die Meldung, dass der und der sich zusammengeschlossen haben, um stärker zu werden und dass sie, weil sie stärker werden wollen in einem schwächer werden, nämlich am Arbeitsmarkt.

So hat es eine Zeit gegeben, und ich fürchte sie ist nicht vorbei, in der erfahren wir von Bilanzpressekonferenzen, in denen ist die erste Meldung, mit denen der Manager sich schmückt, die über die Steigerung des Gewinnes und die zweite die über den Abbau der Arbeitsplätze. Das kann nicht der Sinn des Wirtschaftens sein. Das ist nach meiner Überzeugung mit sozialer Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen, nicht vereinbar, dass offenbar die Gewinnmaximierung auch um den Preis des Abbaus von Arbeitsplätzen auf den Platz Eins der Managerpflichten gehört, sondern es müsste immer beides geben: Den berechtigten Wettbewerb um den hohen Gewinn und den unerlässlichen Wettbewerb darum, Menschen in Arbeit und Brot zu bringen, auch deshalb, weil man nicht nur Arbeiter braucht, sondern auch Kunden. Da gibt es manche Irritation. Da gibt es im Herzen manches Gewerkschafters auch schwierige Entscheidungssituationen.

Ich habe bewusst gesagt im Herzen nicht im Kopf. Ich habe das erlebt, als ich Oberbürgermeister meiner Heimatstadt war. Ein großes Werk, Textil, Chemietextilien: Da hieß es, es würden so und so viel Arbeitsplätze abgebaut. Ich sagte, ich fahre sofort dahin. Ich fuhr dahin und bekam als Antwort der sehr freundlichen Manager: "Das wird nicht mehr hier entschieden. Die Entscheidung fällt in Utrecht."

In den Jahren, in denen ich dann Ministerpräsident meines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen war, habe ich dann oft erfahren, dass die Entscheidung nicht in Düsseldorf und nicht in Köln fiel, sondern in Pittsburgh oder in London oder in Kapstadt. Das ist offenbar die neue Wirklichkeit, die sich auch in diesen neuen Wörtern ausdrückt, dass Internationalisierung, dass Globalisierung nahezu alle Lebensbereiche und alle Branchen erfasst.

Man kann sich das gut vorstellen, wie da 24 Stunden am Tag bei unterschiedlichen Zeiten - in Tokio ist eine andere Zeit als in New York und als in Berlin - das Kapital um den Globus rast. Wir kriegen, wenn die Stoppuhr einsetzt, gewissermaßen eine Art Momentaufnahme: Wie steht der Dollar jetzt? Was ist der Euro jetzt wert? Wie sieht der DAX jetzt aus? Wir wissen, in zwölf Stunden ist alles ganz anders. In zwölf Stunden gibt es ganz andere Strukturen von Firmen, ganz andere Entwicklungen von Konjunkturen, als wir sie gestern noch in der Zeitung gelesen haben.

Nachrichten, Güter, Dienstleistungen und Kapital rasen um den Globus. Niemand kann das stoppen. Niemand will das stoppen, denn wir leben in der einen Welt und diese eine Welt lässt sich nicht reduzieren auf mein kleines Grundstück, auf meinen kleinen Wahlkreis, auf meine familiäre Einflusszone. Nein, es wäre unsinnig, das zu stoppen.

Ebenso unsinnig wäre es aber zu vergessen, dass Güter, Dienstleistungen, Kapital um den Globus rasen können, wir Menschen aber nicht. Wir Menschen brauchen die Füße auf dem Boden. Wir brauchen das Heim und die Heimat. Wir brauchen den Nachbarn und die Nähe. Das bringt den Riss ins Herz: Dass ich einerseits hier streite für Arbeitnehmer, für Lohnerhöhungen, für verbesserte Arbeitsbedingungen, und dass ich weiß, mit all dem, was ich erstreite, haben diese meine Entscheidungen und meine Erfolge inzwischen Auswirkungen auf Menschen in gleicher Lebenssituation, in gleicher oder größerer Abhängigkeit, in anderen Ländern, in anderen Erdteilen.

Weil es das gibt, die Verpflichtung, vor Ort und am Ort zu verändern, was zu verändern ist und zu verbessern, was verbesserungsfähig ist, und weil es die internationale Verantwortung gibt aller Menschen füreinander, darum ist die Internationalität von Gewerkschaften ein unabweisbarer Anspruch.

Wir können es uns nicht leisten, der Internationalisierung des Kapitals eine ständige Provinzialisierung der Arbeitnehmerrechte entgegenzusetzen.

Weil das so ist, darum wird einem natürlich schwindelig bei den Zahlen, die wir eben gehört haben: 150 Länder, 15 Mio. Mitglieder - ich habe die Zahlen nicht mehr alle im Kopf, sie ändern sich ja auch. Aber wir wissen, dass sich keiner zurückziehen kann. Keiner kann sagen, ich will mich nur um mich kümmern. Jeder, der sich um sich kümmert hat auch Verantwortung für den anderen.

Es darf nicht so sein, dass das Kapital, das Geld, der Shareholder sich internationalisiert, sich gleichzeitig anonymisiert und dass wir uns davor verstecken. Darum ist es wichtig, dass Sie mit UNI diesen Weg gegangen sind. Darum bin ich gern gekommen, um Ihnen meine Grüße mit auf den Weg zu geben. Nicht, weil ich mit jeder Gewerkschaftsforderung übereinstimmte. Das habe ich nie tun können. Nicht, weil ich in allen Bereichen sachkundig wäre, die Sie in Ihren vielen Ländern und in den vielen Branchen vertreten, sondern weil ich glaube: Wenn das nicht mehr gilt, dass die Wirtschaft für den Menschen da ist, sondern der Mensch nur noch für die Wirtschaft da ist, dann ist diese Welt nicht mehr menschlich, aber sie soll menschlich sein. Darum muss die Wirtschaft für den Menschen da sein und nicht umgekehrt.

Es gibt noch einen zweiten Grund, warum ich heute Nachmittag gekommen bin: Der heißt Kurt van Haaren. Ich weiß nicht, wie lange wir uns kennen. Er hat mich immer nach dem Bibelwort behandelt: "Heute hat ihn der Herr in meine Hand gegeben." Dann hat er mich nicht mehr losgelassen, viele, viele Jahre, als ich in unterschiedlicher Verantwortung war. Er wird nun mit diesem Kongress seine nationale gewerkschaftliche Arbeit abgeben und aufgeben. Nicht, um nichts mehr zu tun, sondern um Neues zu entdecken und um soziale Verantwortung an anderer Stelle wahrzunehmen. Da habe ich gedacht, ihm öffentlich zu danken, das ist den Weg in die Sonnenallee allemal wert.

Lieber Kurt, alles Gute, bleib gesund und versprich uns, mindestens so tätig zu bleiben, wie du es jetzt bist.

Nun sage ich diesem Kongress ein herzliches Willkommen, nicht nur in Berlin, in der Bundeshauptstadt, für die Klaus Wowereit hier ist, sondern in Deutschland, in diesem liebenswerten und schwierigen Vaterland zwischen See und Gebirge mit unterschiedlichen Menschen und Temperamenten und Talenten, mit Dialekten, im Prozess des Zusammenfindens zwischen Ost und West, zwischen jung und alt. Es ist aufregend und schön, hier zu leben. Dass wir in diesem Land seit 56 Jahren im Frieden leben, seit 56 Jahren - länger als je in der Geschichte unseres Volkes und unseres Landes - das ist ein Anlass zu großem Dank. Darum wollen wir auch in Zukunft ein Volk sein und ein Land, das dem Frieden dient, den Frieden fördert, dem Hass widersteht, der Gewalt absagt und das Miteinander jeden Tag freudig einübt.

Glück auf für Ihren Kongress.