Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau bei der Übergabe der Fontane-Manuskripte der Stadt Wuppertal an das Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam am 20. September 2001

Schwerpunktthema: Rede

Potsdam, , 20. September 2001

in diesen Tagen, so kurz nach den Terroranschlägen in den U.S.A., denkt wohl jeder mehr an Washington und New York als an Wuppertal, Potsdam und Berlin. Man weiß noch gar nicht, wie man sich von den schrecklichen Bildern, die sich in unsere Herzen eingebrannt haben, wieder lösen soll und ob man das kann.

Meine Frau und ich bekamen gestern einen Brief von einer Freundin, die schrieb: "Ich bin in meinem Leben noch nie so oft in der Kirche gewesen wie in dieser Woche." So geht es vielen Menschen. Sie suchen offenbar Orte, an denen sie Stille, Trost, Hilfe und Rat finden können.

Viele fragen sich auch: "Wo darf man hingehen? Darf man noch Geschichten erzählen, bei denen die Zuhörer lachen?" Dann denkt man an Salomo: "Alles hat seine Zeit: Trauern hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit". Wir alle kennen den Text aus Prediger 3: "Eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, /...eine Zeit zum Weinen / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz / ...eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden."

Nun ist die Zeit des Tanzes sicher noch nicht gekommen. Die Zeit für den Frieden ist aber immer da. Wir dürfen sie uns von denen nicht nehmen lassen, die hinter den Anschlägen stehen. Denn dann erst hätten sie gewonnen.

Zum Frieden, zum inneren Frieden in uns, in unserem Land, in der Welt, gehört vor allem, dass wir uns in der Überzeugung nicht beirren lassen, dass es zu Humanität und Toleranz keine Alternative gibt. Ich meine, dass wir uns darauf auch aus diesem Anlass, bei der Übergabe der Fontane-Autographen, einlassen und uns gemeinsam darauf besinnen können.

Wir sind am Todestag Theodor Fontanes zusammengekommen. Wir ehren ein Werk, das von Humanität und Toleranz geprägt ist. Gerade deswegen ist Fontane oft nicht genügend gewürdigt worden. Heinrich Mann hat 50 Jahre nach Fontanes Tod geschrieben: "Was er sieht, ist bei allem, in jedem auch das andere, weshalb er abgelehnt wird, wo und wann fanatische Einseitigkeit die Macht antritt."

Fontanes Lebensweg hat dazu beigetragen, dass er ein Beobachter wurde, der "in jedem auch das andere" sehen konnte. Er hat seinen Lebensunterhalt als Apotheker, als Journalist, als Kriegsberichterstatter, als Theaterkritiker und als Schriftsteller verdient. Er hat die Revolution von 1848 genauso erlebt wie deren blutige Unterdrückung. Er hat am deutsch-französischen Krieg von 1870/71 teilgenommen, und er hat die Gründung des Kaiserreichs in Versailles erlebt. Er hat beobachtet, wie eine alte Welt verging und wie sich eine neue bildete.

Fontane hat immer wieder, auch an sich selber, den Kampf zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Konvention beobachtet und beschrieben. Er hat - ich denke, darüber werden wir nachher noch mehr hören - einige der interessantesten Frauengestalten der deutschen Literatur geschaffen. Er war ein genauer Beobachter seiner Zeit, ein scharfsinniger, aber kein scharfzüngiger Beobachter. Wenn ich mich richtig erinnere, dann gibt es in all seinen Werken keine Figur, die gänzlich negativ dargestellt wäre.

Fontane hat junge Autoren gefördert, z.B. Gerhart Hauptmann, die anders und anderes schrieben als er. Darüber war Gerhart Hauptmann sehr verwundert. Das hat er Fontane auch geschrieben. Fontane hat ihm geantwortet: "Die realistische Schule hat nicht einzig undalleinrecht, aber sie hat so gut recht wie die ihr entgegengesetzte." Ich glaube, es lohnt sich, in diesen Tagen wieder Fontane zu lesen, der "in jedem auch das andere" sehen konnte.

Dass wir heute zusammenkommen ist Folge eines Kriegsgeschehens. Das Fontane-Archiv hat im Zweiten Weltkrieg vieles verloren. Darum freue ich mich darüber, dass es möglich ist, heute Autographen von Fontane an das Archiv zurückzugeben, und ich freue mich darüber, dass ich dabei ein wenig mithelfen konnte.

Ich möchte all denen danken, die dazu beigetragen haben: Reinhard Appel und Herrn Professor Frowein, ohne den der heutige Tag nicht möglich wäre; der Stadt Wuppertal, ihrer Bibliothek und dem Förderverein der Bibliothek.

Die Stadt Wuppertal zeigt uns heute durch ihr Geschenk an das Fontane-Archiv, dass man in jedem auch das andere sehen kann. Darüber hätte sich Theodor Fontane gefreut. An seiner Stelle und in seinem Namen freuen wir uns alle gemeinsam, und ich grüße Sie ganz herzlich, ob Sie aus Wuppertal kommen oder aus Berlin, aus Bonn oder aus Potsdam. Wichtig ist nicht, woher man kommt, sondern mit welcher Gewissheit man seinen Weg geht, und ob man Ziele hat, die anzustreben und anzugehen sich lohnt.

Alles Gute für Potsdam und alles Gute für das Theodor-Fontane-Archiv.