Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich eines Abendessens für den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin im Schloss Bellevue am 25. September 2001

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 25. September 2001

Sehr geehrter Herr Präsident Putin,
sehr geehrte Frau Putina,
meine Damen und Herren,

viele von uns haben heute Nachmittag eine sehr persönliche, eine sehr bewegende Rede von Präsident Putin anlässlich seines Staatsbesuches gehört. Wenn man es übersetzen könnte, würde ich am liebsten sagen: Das ist eine sehr wirkungsmächtige Rede gewesen. Mit großer Aufmerksamkeit waren wir dabei und gespannt haben wir zugehört, als zum ersten Mal ein russisches Staatsoberhaupt im wiedergeeinten Deutschland und in der ungeteilten deutschen Hauptstadt sprach. Seien Sie mit Ihrer Frau und Ihrer Delegation sehr herzlich willkommen!

Sie kennen unser Land gut und Sie sprechen unsere Sprache. Sie werden wissen und spüren, dass es für uns etwas ganz besonderes ist, den russischen Präsidenten zum Staatsbesuch zu empfangen.

Ihr Besuch, Herr Präsident, fällt in eine Zeit, von der manche sagen, sie sei eine Zeitenwende. Auch ich habe am elften September gesagt, die Welt hat sich verändert. Die Terrorangriffe auf New York und auf Washington haben die internationale Gemeinschaft eng zusammen rücken lassen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben am vergangenen Mittwoch ganz einmütig eine klare Botschaft formuliert: Wir werden und wir dürfen uns terroristischer Bedrohung nicht beugen, wir werden ihr mit allen erforderlichen und geeigneten Mitteln begegnen, entschlossen und solidarisch.

Wir tun das nicht, weil hier bestimmte Weltanschauungen oder Glaubensüberzeugungen gegeneinander stehen, nicht, weil es um die Macht oder um den Vorrang bestimmter Völker oder Regionen ginge. Nein, wir tun das, weil diese Anschläge Angriffe auf die ganze Menschheit sind und, wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen festgestellt hat, weil sie eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit sind.

Wir müssen den Terrorismus bekämpfen und wir werden ihn besiegen. Dazu brauchen wir entschlossenes Handeln. Es darf nicht bei kurzfristigen Maßnahmen bleiben. Wir müssen politische und wirtschaftliche Konzepte finden, die dem Terrorismus seinen Nährboden entziehen.

Darum muss die internationale Gemeinschaft zusammenstehen. Die Vereinigten Staaten bemühen sich mit großem Nachdruck und mit Besonnenheit darum, eine möglichst breite Allianz gegen den Terrorismus zu formen. Dabei erhalten sie weltweit fast einhellig Unterstützung. Auch Sie, Herr Präsident, haben von Anbeginn unmissverständlich deutlich gemacht, dass Ihr Land in dieser Frage an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika steht. Ich bin außerordentlich ermutigt durch das Zusammenrücken der Staatengemeinschaft. Wenn wir der Vernunft Raum geben, dann birgt die gegenwärtige Entwicklung auch Chancen für uns alle.

Die Bereitschaft Russlands an der Bewältigung dieser Herausforderung mitzuhelfen, verdient große Anerkennung, denn Russland muss ja gleichzeitig den beispiellosen Transformationsprozess fortführen, der vor mehr als zehn Jahren begonnen hat. Viele Reformen sind schon auf den Weg gebracht.

Zu den wichtigsten Voraussetzungen für ein Gelingen der Reformen gehören Rechtssicherheit und rechtsstaatliche Strukturen. Sie selber, Herr Präsident, haben von der Notwendigkeit gesprochen, die richterliche Unabhängigkeit zu stärken. Wenn die Menschen uneingeschränkt demokratische Rechte genießen, wenn Wirtschaft und Medien sich frei entfalten können, dann werden sich die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmer und die Journalisten engagieren und sie werden die Reformen in ihrem Land zum Erfolg machen.

Deutschland hat versucht, den Reformprozess in Russland von Anfang an mit Rat und Tat und auch mit erheblichen finanziellen Mitteln zu unterstützen. Ich bin zuversichtlich, dass Russland seinerseits zu seinen Verpflichtungen steht, so dass Deutschland auch weiterhin zum Reformprozess beitragen kann.

Wir haben es heute gehört, gesehen, Ihr Land, Herr Präsident, öffnet sich und sucht - ganz in der Tradition Peters des Großen und der Aufklärung - die enge Zusammenarbeit mit den Ländern und Völkern in der Mitte und dem Westen Europas. Der Beitritt Russlands zum Europarat und zur Europäischen Menschenrechtskonvention zeigt, dass Russland sich der europäischen Wertegemeinschaft zugehörig fühlt. Europa, das ist unsere gemeinsame Heimat.

Deutschland und Russland stehen am Beginn dieses Jahrhunderts vor einem neuen Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte. Dieses Kapitel wird ein europäisches Kapitel sein, denn es geht nicht um einen deutsch-russischen Sonderweg in Europa, sondern um gemeinsame Verantwortung für Europa und für die Welt. Deutschland ist fest verankert in den europäischen und nordatlantischen Kooperationsstrukturen der Union und der NATO. Zugleich ist es ein wichtiges Ziel unserer Politik, dass Ihr Land, Herr Präsident, einbezogen wird in die europäische Zusammenarbeit, dass es die Chancen erkennt und nutzt, die die Europäische Union und die NATO-Erweiterung für Russland bedeuten und dass es sich an europäischer Verantwortung für regionale Stabilität beteiligt.

Die Rolle, die ein Staat heute in der Weltpolitik spielen kann, die bemisst sich nicht mehr nur danach, wie groß sein Bruttosozialprodukt ist oder sein Militärhaushalt. Nein, seine Rolle bemisst sich danach, wie überzeugend sein Politikangebot ist und danach, ob die politische Führung bereit ist daran mitzuwirken, Lösungen für die Probleme unserer Welt zu finden. Die Bilder aus Washington und aus New York haben uns gezeigt: Es gibt grenzüberschreitende Herausforderungen an die ganze Menschheit, denen wir nur wirksam begegnen können, wenn wir alle Kräfte des Friedens bündeln. Wir Deutsche hoffen, wir sind sicher, dass auch Russland dabei eine wichtige Rolle spielt.

Ihr Besuch in Deutschland, Herr Präsident Putin, ist der sichtbare Ausdruck für den lebendigen Austausch zwischen Deutschen und Russen. Ich wünsche mir, dass dieser Austausch auf allen diesen Ebenen, den bilateralen, den europäischen und den multilateralen, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur und vor allem für die Menschen reiche Früchte trägt, dass es keine Giftfrüchte gibt, wie Sie heute gesagt haben. Ich bin froh darüber, dass Sie, Herr Präsident, mit Ihren hervorragenden Kenntnissen unserer Sprache und unserer Kultur mithelfen, den deutsch-russischen Dialog zu vertiefen. Ihr Staatsbesuch ist so ein Symbol für eine neue Qualität unserer Beziehungen. Dafür sind wir dankbar, darüber sind wir froh, das wollen wir zu nutzen versuchen im Interesse des Friedens, im Interesse der Freiheit und der Menschenwürde. Wir wollen jeder an seinem Platz unserer Pflicht genügen und mehr tun als unsere Pflicht.

Wir sind heute Abend zusammengekommen, um Ihnen, Herr Präsident Putin, und Ihnen, verehrte Frau Putina, von Herzen alles Gute zu wünschen. Ich bitte unsere Gäste, dass Sie mit mir das Glas erheben, auf das Wohl von Staatspräsident Putin und Frau Putina, auf eine glückliche Zukunft Russlands, auf die enge und vertrauensvolle deutsch-russische Freundschaft in einem Europa des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands für alle.