Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Entgegennahme der Leo-Baeck-Medaille

Schwerpunktthema: Rede

New York, , 13. November 2001

Sehr geehrter Herr Rabbiner Dr. Schorsch,

Meine Damen und Herren,


ich danke dem Leo-Baeck-Institut herzlich für die hohe Auszeichnung und Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Cramer, für die freundlichen Worte.

Die Leo-Baeck-Medaille bedeutet für mich etwas Besonderes. Sie steht für das Bemühen - das hoffentlich ständig erfolgreichere Bemühen - um eine ehrliche Aufarbeitung der christlich-jüdischen Geschichte und dafür, dass der Dialog zwischen Juden und Nichtjuden im Bewusstsein der deutschen Vergangenheit in eine gute gemeinsame Zukunft führen kann. Ich fühle mich durch diese Auszeichnung geehrt, die den Namen des Mannes trägt, der das deutsche Judentum in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so stark geprägt und der wie wenige andere die fruchtbare Begegnung zwischen deutscher und jüdischer Kultur verkörpert hat.


I.

Ich würde wahrscheinlich manche enttäuschen, wenn ich nicht auch hier von einer persönlichen Begegnung berichten könnte. Tatsächlich haben sich unsere Wege einmal gekreuzt.

In meiner Jugend, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Barbarei, da waren wir auf der Suche, waren hungrig nach geistigen und geistlichen Wahrheiten. Damals, als es noch keine "gemütlichen Fernsehabende" gab, sind wir in jede Veranstaltung gegangen, die irgendetwas zu bieten hatte. Was haben wir für Konzerte gehört! Bei wie vielen Vorträgen haben wir nicht gesessen! Wie ein trockener Schwamm haben wir das Angebotene in uns aufgesogen.

Ich erinnere mich heute noch gut an einen Abend in Düsseldorf, von dem ich vermutet hatte, da spreche ein früherer Rabbiner. Damals habe ich Leo Baeck gehört. Zufällig.

Ich kannte seinen Namen nicht. Ich hatte nichts von ihm gelesen. Ich sehe ihn da sitzen, ich höre seine Stimme und erinnere mich an den Schmerz, mit dem er davon sprach, dass das christlich-jüdische Gespräch zu Ende sei.

Diesem christlich-jüdischen Gespräch hatte seine ganze Hoffnung gegolten. Dafür hatte er jahrzehntelang gearbeitet, und nun sah er sich vor den Trümmern all dessen. Er ist nicht mit der Hoffnung gestorben, dass das noch einmal anders werden könne. So tief hatte ihn das Dunkel über Deutschland und das Leid über den Juden getroffen.


II.

Leo Baeck und das deutsche Judentum seiner Zeit stehen am Ende einer Entwicklung, die den deutschen Juden nach der Befreiung aus dem Ghetto, nach langen Kämpfen, die vollständige Gleichberechtigung gebracht hatte.

Erst das junge Kaiserreich gewährte den deutschen Juden 1871 die volle Gleichberechtigung.

Nach der Reichsgründung kann sich die jüdische Gemeinschaft - wie die Gesellschaft insgesamt - in bisher ungekanntem Umfang entfalten. Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst nehmen einen ungeheuren Aufschwung, zu dem deutsche Juden einen herausragenden Beitrag leisten.

Innovationsbereitschaft und Risikofreude sind die Kennzeichen eines neuen Unternehmertyps, zu dem Emil Rathenau, der Gründer der AEG, gehört. Eugen Gutmann erkennt die neuen Möglichkeiten für Investitionsbanken und führt die Dresdner Bank zu großem Erfolg.

Paul Ehrlich, Fritz Haber, Albert Einstein sind nur drei von elf jüdischen Deutschen, die mit dem Nobelpreis Deutschland in den Naturwissenschaften zur Weltgeltung verhelfen. Ich sehe sie vor mir, die Galerie der Nobelpreisträger in dem schönen alten Stadthaus, in dem das Leo-Baeck-Institut bis vor über einem Jahr untergebracht war. Viele forschten in der offenen und internationalen Atmosphäre des "Kaiser-Wilhelm-Instituts", das hauptsächlich von deutsch-jüdischen Philanthropen finanziert wurde.

Das "Warburg-Institut" in Hamburg, das Frankfurter "Institut für Sozialforschung", das "Psychoanalytische Institut" in Berlin - sie alle wurden von deutschen Juden begründet und ganz maßgeblich durch jüdische Gelehrte geprägt. Sie verschafften Deutschland auch in den Geisteswissenschaften eine führende Position. Berlin erlebt eine stürmische Aufwärtsentwicklung, wird zur deutschen Metropole für Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

In dieser Stadt wird Leo Baeck 1912 Rabbiner.


III.

1914 ziehen die deutschen Juden voller Begeisterung für ihr Vaterland in den Krieg - trotz des im Kaiserreich verbreiteten Antisemitismus.

Walther Rathenau hatte, wie mancher andere, geahnt, welche Katastrophe auf Europa zukommen könnte. Schon vor 1914 hatte er den Gedanken einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion vorweggenommen, die "dem nationalen Hass der Nationen den schärfsten Stachel genommen" hätte. Hätte man doch auf die Stimme der Vernunft gehört!

Trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der politischen Instabilität kann sich in der Weimarer Republik ein freies geistiges Leben entfalten, zu dem jüdische Künstler und Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler und Musiker wesentlich beitragen.


IV.

1933 begann die nationalsozialistische Barbarei. Sie beendete eine Blütezeit, wie sie das Judentum sonst nur noch in der Zeit des Hellenismus und während der Periode des maurischen Spaniens gekannt hat.

Diese Blütezeit endet in einer Katastrophe für das Judentum, die auch zum Desaster für Deutschland wird. Rabbiner Leo Baeck kämpft für die Rettung der deutschen Juden. Er lehnt es ab, seine Heimat zu verlassen. 1943 wird auch er in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.

Dorthin war 1942 auch Ruth Klüger verschleppt worden, die sich später einen Namen als Autorin und Literaturwissenschaftlerin machte und die vor wenigen Tagen einen runden Geburtstag feiern durfte. Sie erinnert sich an Leo Baeck:

"Leo Baeck redete zu uns auf dem Dachboden. Wir saßen zusammengedrängt und hörten den berühmten Berliner Rabbiner. Er erklärte uns, wie man die biblische Geschichte von der Schöpfung der Welt in sieben Tagen nicht verwerfen müsse, weil die moderne Wissenschaft von Millionen Jahren weiß. Relativität der Zeit. (...) Ich war ganz bei der Sache, berührt erstens von der festlichen Stimmung, wie wir eng unter den nackten Balken saßen, und zweitens von diesen so schlicht und eindringlich vorgetragenen Ideen. Er gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung, man konnte beides haben, den alten Mythos, die neue Wissenschaft."

Am 8. Mai 1945 wurde Leo Baeck mit seinen Mitgefangenen in Theresienstadt von sowjetischen Truppen befreit.


V.

Die Erinnerung an die Geschichte der Juden in Deutschland stand mir vor Augen, als ich am 9. September 2001 in Berlin das Jüdische Museum eröffnen konnte, das Daniel Libeskind so genial entworfen hat, und das Sie, lieber Herr Blumenthal, so beeindruckend gestaltet haben.

Der Katastrophe des Holocausts müssen wir uns immer erinnern. Das darf aber nicht zu dem Fehlschluss führen, dass der Holocaust die Summe der deutsch-jüdischen Geschichte sei. Bis heute hört man die Behauptung, die deutschen Juden hätten ihre Situation in der deutschen Gesellschaft vor 1933 völlig falsch eingeschätzt. Hätten sie die antisemitischen Strömungen ernst genommen, so heißt es, dann wäre ihnen klar geworden, wohin das führen musste.

Verständlich ist dieses Argument, richtig ist es nicht. Es stimmt: In der Geschichte gibt es wenig, was wirkungsmächtiger ist als Einstellungen, die über Jahrhunderte gewachsen sind. Es stimmt aber auch, dass es in der Geschichte Brüche gibt, die nicht vorausgesehen und auch im Rückblick kaum verstanden werden können. Der Holocaust war ein solcher Bruch.

Er war eben nicht das von Anfang an absehbare böse Ende jüdischen Lebens in Deutschland. Der Holocaust war weder im deutschen Wesen noch in der deutschen Geschichte angelegt. Die Schuld für das, was den deutschen und europäischen Juden angetan worden ist, tragen die, die den Massenmord geplant, angeordnet und begangen haben, mitverantwortlich sind die Mitläufer und auch die, die weggesehen haben.

Der Holocaust darf uns nicht daran hindern, auf die deutsch-jüdische Geschichte in ihrer Gesamtheit und Vielfalt zurückzublicken. Darum ist es so wichtig, dass es das Leo-Baeck-Institut hier in New York, in London, in Jerusalem und in Berlin gibt.


VI.

Als ich Ihre Einladung nach New York angenommen habe, konnte niemand ahnen, welch furchtbares Unglück vor zwei Monaten über diese Stadt hereinbrechen würde. Die schrecklichen Anschläge vom 11. September haben uns vor Augen geführt, wie verwundbar unsere freiheitliche Gesellschaft ist. Sie haben unser Gefühl der Sicherheit erschüttert. Die Schockwellen gehen auch jetzt noch durch Ihr und durch mein Land. Tausenden von Familien ist großes Leid widerfahren. Wir alle fühlen uns getroffen und betroffen. Viele unter Ihnen mögen Opfer im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis haben.

In diesen Tagen ist sich die zivilisierte Welt erneut ihrer gemeinsamen Werte bewußt geworden. Ich möchte betonen, dass es sich nicht um Werte des Westens oder Ostens, des Nordens oder Südens handelt, sondern umunsereWerte, denen wir alle verpflichtet sind und die die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" am 10. Dezember 1948 verkündet hat. Dazu gehören das Verbot der Diskriminierung, das Recht auf Leben, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freizügigkeit, die Gewissens- und Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit. Diese Werte müssen gegen die Barbarei des Terrorismus verteidigt werden.

Darum sind leider auch militärische Mittel notwendig. Brutalen Tätern, die sich jedem Dialog entziehen, kann nicht anders begegnet werden. Dabei müssen wir das politische Ziel im Auge behalten, dem Übel des internationalen Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Dazu gehören die Bekämpfung von Armut und Ausbeutung, von Elend und Rechtlosigkeit. Dazu gehören verstärkte Anstrengungen, damit alte Konflikte gelöst werden. Den Dialog der Kulturen müssen wir in dem Bestreben führen, Gemeinsamkeiten zu suchen und in der ehrlichen Bereitschaft, Verschiedenheit zu respektieren.


VII.

Wir stehen in diesen Tagen an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika. Gute und feste transatlantische Beziehungen stehen im wechselseitigen Interesse und sind einer der Grundpfeiler unserer Außenpolitik. Ihr Fundament sind die Beziehungen der Menschen zueinander. Unsere Begegnung heute Abend ist ein Sinnbild dafür.

Viele von Ihnen mussten Deutschland, ihre Heimat, in einer Zeit verlassen, in der ein verbrecherisches Regime die Würde des Menschen missachtete.

Sie haben sich hier in den Vereinigten Staaten unter schwierigen Bedingungen eine neue

Existenz aufgebaut und sind Amerikaner geworden. Die meisten von Ihnen haben trotz alldem, was sie erlitten haben, ihre tiefen Wurzeln in der deutschen Kultur nie vergessen und nie verleugnet.

Viele von ihnen haben Brücken zwischen Amerika und Deutschland gebaut, haben sich der alten Heimat wieder zugewandt. Dafür danke ich Ihnen herzlich.

Vor wenigen Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass das Leo-Baeck-Institut nach Berlin kommt. Heute möchte ich all denen, die die Gründung eines Tochterinstitutes in Berlin initiiert und mitgetragen haben, herzlich danken, vor allem Rabbiner Ismar Schorsch und Exekutivdirektorin Carol Kahn Strauss.

Berlin und ganz Deutschland wird mit dieser Entscheidung ein wichtiger Teil der eigenen Geschichte zurückgegeben. Noch nie in der deutschen Geschichte haben deutsche Wissenschaftler so intensiv und so vorurteilsfrei über jüdische Religion und deutsch-jüdische Geschichte geforscht wie heute.

Die Gründung des Berliner Leo-Baeck-Institutes ist ein wichtiges, ein ermutigendes Signal für das jüdische Gemeindeleben, das sich in Deutschland wieder entwickelt. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland wachsen stärker und schneller an Mitgliedern als alle jüdischen Gemeinden weltweit - allen voran Berlin ...

"Ich traue meinen Augen nicht" hat Israel Singer, Generalsekretär des World Jewish Congress, kürzlich notiert. "Ich sehe wiedereröffnete Synagogen, wiederaufgebaute Gotteshäuser; ich sehe neue jüdische Schulen, Kindergärten und Gemeindezentren. Für mich ist das alles eine fortwährende Überraschung."

Gab es bis 1990 nur 30.000 jüdische Gemeindemitglieder, so ist ihre Zahl seither durch Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion auf über 100.000 gestiegen und damit nach Frankreich und Großbritannien die größte in Europa.

Wir können noch nicht wissen, ob sich die meisten der Juden, die wieder in Deutschland leben, eines Tages wieder als deutsche Juden oder als Deutsche jüdischen Glaubens fühlen werden. Auf diese Frage wird nur die Geschichte eine Antwort geben.

Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir in Deutschland, wenn wir Respekt und Toleranz, Freiheit und Vielfalt im Alltag verwirklichen, dazu beitragen können.