Rede von Bundespräsident Johannes Rau auf der Jahrestagung der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 20. November 2001

Das Angenehmste zuerst: Herzlichen Glückwunsch, lieber Herr Dr. Hundt, zur gestrigen Wiederwahl. Ich wünsche Ihnen eine gute und erfolgreiche Amtszeit an der Spitze der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände.

Die wechselseitige Abhängigkeit der Demokratie und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von der allgemeinen Wohlfahrt, meine Damen und Herren, das gehört zu den Grundlagen, zu den Grundfesten der Wirtschafts- und der Sozialordnung unseres Landes.

Ich weiß, dass es den meisten Unternehmern nicht allein darum geht, möglichst viel Geld zu verdienen. Sie sind auch bereit, Mitverantwortung zu tragen für viele Millionen Arbeitnehmer und ihre Familien. Sie haben immer wieder gezeigt, dass sie auch bereit sind, Verantwortung zu tragen für unser Gemeinwesen. Das geschieht über Stiftungen, die sich für gemeinnützige Ziele engagieren, das geschieht über die Beteiligung an Bürgerstiftungen, über Geldspenden, über Sponsoring-Projekte und über die Förderung des freiwilligen Engagements von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ich halte es für sehr wichtig, dass die Unternehmen ihr bürgerschaftliches Engagement noch weiter ausbauen. Das liegt im Interesse unserer Gesellschaft. Es liegt gleichzeitig im Eigeninteresse der Unternehmen, dass sie damit in der Öffentlichkeit Vertrauen schaffen können. Darum habe ich gerne die Schirmherrschaft über die Initiative "Freiheit und Verantwortung" übernommen, die die BDA gemeinsam trägt mit dem BDI, dem DIHK, dem ZDH und der "Wirtschaftswoche". Ich möchte für dieses Engagement den vielen Unternehmen, die mitmachen, besonders danken. Manche von ihnen werde ich am 18. Dezember wiedersehen, wenn wir im Schloss Bellevue den ersten Preis der Initiative verleihen. Dann werden wir gewiss von vielen gelungenen Projekten hören. Das sind gute Nachrichten.

Man hört und liest ja leider viel zu selten gute Nachrichten. Sie gehen oft unter in den tagesaktuellen Debatten um die Steuerpolitik, um Sozialabgaben, um Mitbestimmung, um Ladenöffnungszeiten und um andere strittige Themen. Aber es gibt eben auch die guten Nachrichten, und die gebe ich besonders gern weiter.

Im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 1998 sind in Deutschland 4,8 Arbeitstage pro 1.000 Beschäftige durch Streiks verloren gegangen. In den Vereinigten Staaten waren es 42,5, in Finnland 180, in Kanada 217 Tage! Der soziale Friede in unserem Land ist ein wichtiger Standortfaktor, und er ist ein Standortvorteil, der oft unterschätzt wird. Wir verdanken diesen Vorteil dem verantwortungsvollen Handeln der Tarifparteien. Ist uns immer bewusst, wie viel wir da anderen Ländern voraushaben?

Deutschland ist ein Gründerland geworden. Im Jahre 2000 waren 3,8 Prozent der Deutschen ab 18 Jahren aktiv an einer Unternehmensgründung beteiligt. Das ist, so sagt das Institut der deutschen Wirtschaft, ich zitiere, "ein Bestwert im EU-Vergleich". Es heißt in der Veröffentlichung des Instituts weiter, "Von Kennern gelobt werden insbesondere der Zugang zu Startkapital und die öffentliche Finanzierungsförderung". Wer hätte sich ein solches Zitat vor einigen Jahren denken können?

Manches, was vor wenigen Jahren noch reformbedürftig schien, ist plötzlich wieder sehr modern. Ich sage dafür ein Beispiel: Es ist noch gar nicht lange her, da schien der Weg in die Zukunft darin zu bestehen, alle Unternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Vor wenigen Tagen habe ich in der "Financial Times" einen Artikel gelesen, der überschrieben war "Germany's Hidden Champions". Da war zu lesen, dass die großen deutschen Personengesellschaften mit den konjunkturellen Problemen viel besser fertig werden, als Aktiengesellschaften. Sie seien für die Zukunft aus vielerlei Gründen besser gerüstet. Die multinationalen Unternehmen, so hieß es da, könnten viel von den deutschen Personengesellschaften lernen. Die deutschen Champions, von denen die "Financial Times" schreibt, müssen ja nicht auf Dauer versteckt werden.

Wir hätten, meine Damen und Herren, also durchaus Grund dazu, einmal über Erfolge zu sprechen, denn wir haben in unserem Land gemeinsam in 50 Jahren viel aufgebaut, auf das wir alle stolz sein können. Dazu haben Unternehmer beigetragen und Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.

Freilich bleibt unser drängendstes Problem die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit. Wir alle wissen, dass es dagegen kein Patentrezept gibt. Das wäre auch zu schön. Darum ist es richtig, dass um die besten Wege politisch gestritten wird. Wenn es sein muss, manchmal auch laut. Wir sollten dennoch bei aller kämpferischen Rhetorik drei Dinge nicht vergessen, die manchmal untergehen.

Erstens: Arbeitgeber und Gewerkschaften müssen aus gesellschaftlicher Verantwortung in gleicher Weise daran interessiert sein, für Menschen ohne Arbeit neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende zu sichern. Über die unterschiedlichen Konzepte muss man streiten. Aber der gemeinsame Wille sollte nicht infrage gestellt werden. Jedenfalls sollten Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber in dieser Frage an einem Strang ziehen - und zwar möglichst oft in die gleiche Richtung.

Zweitens: Die Politik schafft keine Arbeitsplätze. Arbeitsplätze schaffen die Unternehmen. Die Politik trifft aber Entscheidungen für die Rahmenbedingungen, innerhalb deren auch unternehmerische Entscheidungen getroffen werden. Darum muss die Politik ernsthaft die Argumente aller Seiten prüfen, sie muss dann aber souverän entscheiden. Die Politik ist weder die verlängerte Werkbank der Unternehmen, noch der verlängerte Arm der Gewerkschaften und darf auch beides nie werden. Aufgabe der Politik ist es nicht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen. Politisch Verantwortliche müssen das tun, was sie nach ihren Einsichten und ihren Wertmaßstäben für richtig halten.

Und schließlich: Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck, und im Mittelpunkt der Politik stehen nicht Aktienkurse, sondern Menschen. Darum ist das Sozialstaatsgebot kein Anhängsel des Grundgesetzes, sondern es ist Kernbestand unserer gesellschaftlichen Ordnung.

Ich höre häufig den Vorwurf, dass die materiellen Ansprüche der Bürger an den Staat ins Unermessliche gewachsen seien. Da ist schnell die Rede von "Versorgungsmentalität", von einer "sozialen Hängematte" und davon, dass die Eigenverantwortung an der Garderobe abgegeben werde. Ich halte das für weit übertrieben, aber ich weiß auch, dass es viele Beispiele dafür gibt.

Auch hier darf man nicht verallgemeinern. Schwarze Schafe gibt es überall, zum Glück gibt es aber doch nur wenige. Darum ist es genauso falsch, die Unternehmer unter den Generalverdacht sozialer Kälte zu stellen, wie es falsch ist, Empfänger staatlicher Transferleistungen pauschal des Missbrauchs zu verdächtigen. Steuerhinterziehung und Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme müssen eingedämmt werden. Das ist gar keine Frage. Auch kann und soll die Belastung der Unternehmen und der Arbeitnehmer durch Sozialabgaben noch gesenkt werden. Ich denke, dass in dieser Absicht Bundesregierung und Opposition einig sind. Aber damit allein können wir niemals viele Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen. Wer das behauptet, der täuscht sich und andere.

Es ist auch nicht die Tugend der Anspruchslosigkeit, auf die wir uns besinnen müssen. Im Gegenteil, es ist die Tugend höchster Ansprüche an unsere Leistungskraft, an unsere technologische Leistungsfähigkeit.

Wer in der Spitzenliga der Industrienationen mitspielen will, der sollte nicht versuchen, mit Niedriglöhnen zu operieren. Darum müssen wir uns doppelt anstrengen, nicht um jeden Preis und nicht in jedem Gebiet, aber zielstrebig und mit klarem Blick für das, was richtig, nötig und realistisch ist. Wohlstand fällt nicht wie Manna vom Himmel, Wohlstand muss erarbeitet werden.

Ich glaube, dass wir beides leisten können: Wir können technologische Spitzenleistungen bringen und wir können diejenigen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, in die Mitte holen. Darauf sollten wir unsere Kraft und Energie richten und nicht darauf, die einen gegen die anderen auszuspielen. Wenn wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht stärken, dann sind wir auf Dauer auch wirtschaftlich nicht erfolgreich.

Sie, Herr Dr. Hundt, haben vom 11. September schon gesprochen, dem Tag, an dem sich so Vieles in der Welt verändert hat. Ich habe heute vor einer Woche an der Stelle gestanden, an der das Furchtbare geschehen ist, und ich bin mit Hinterbliebenen der Opfer in Amerika zusammen gewesen. Die Spuren werden uns in der Weltpolitik, in der Weltwirtschaft, in vielen Lebensbereichen noch lange beschäftigen. Ich hoffe, dass sie nicht dazu führen, dass wir in Deutschland zurückfallen in unseren Integrationsbemühungen. Ich hoffe, dass das Fremde nicht noch fremder wird und das Zusammenleben nicht noch schwieriger. Bisher sind solche Befürchtungen zum Glück grundlos.

In der Lebenswirklichkeit helfen akademische Debatten über Integration nur sehr begrenzt. Integration muss gelebt werden. Das geschieht nicht in Vortragssäle, das geschieht in Wohnvierteln und am Arbeitsplatz. Darum ist es wichtig, darum bin ich dankbar dafür, dass Unternehmer deutlich Position beziehen und ihren Beitrag leisten. Auch das ist ein Teil ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.

Im Vergleich zu anderen Lebensbereichen ist die Integration am Arbeitsplatz schon relativ weit fortgeschritten, häufig nicht weiter als in den öffentlichen und in den politischen Debatten deutlich wird. Viele Unternehmer und viele Verbände leisten da gute Arbeit, für die ich danke, und ich möchte Sie bitten, noch mehr zu tun.

Die Statistiken zeigen uns, dass an Weiterbildungsmaßnahmen in deutschen Unternehmen etwa 20 Prozent der deutschen, aber nur 8 Prozent der ausländischen Mitarbeiter teilnehmen. Das müssen mehr werden, weil Integration durch Qualifikation ein bewährter und ein erfolgreicher Ansatz ist. Ich wünschte mir auch, dass die 280.000 Unternehmerinnen und Unternehmer ausländischer Herkunft, die es inzwischen in Deutschland gibt, mehr teilhaben an der Ausbildung junger Menschen. Hier gibt es große Defizite, aber hier gibt es auch große Möglichkeiten. Vielleicht können wir darüber bei einer anderen Veranstaltung sprechen. Am 29. November in Köln, da können Sie dann sozusagen die Fortsetzung hören.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, dafür, dass ich Gelegenheit hatte, einige meiner Gedanken vor Ihnen anzudeuten oder gar auszubreiten. Jetzt bin ich gespannt auf den Vortrag von Herrn Dr. Hundt und gespannt darauf, ob auch er gute Nachrichten hat.