Eröffnungsstatement von Bundespräsident Johannes Rau auf der Gründungsveranstaltung des Kuratoriums des Deutschen Forums für Kriminalprävention

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 24. November 2001

I.

Vor Unrecht geschützt zu werden, gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Wir brauchen solchen Schutz wie das Wasser zum Trinken und die Luft zum Atmen.

Besonders wichtig ist der Schutz vor Kriminalität, denn sie ist ein besonders einschneidendes Unrecht. Unter Straftaten leiden nicht allein die unmittelbaren Opfer, sondern auch ihre Familien und Freunde und das ganze Gemeinwesen. Die Opfer verlieren Besitz, Lebensfreude und schlimmstenfalls die Gesundheit oder gar das Leben. Ihre Angehörigen und Mitbürger tragen an dem Verlust mit und verlieren Vertrauen in die eigene Sicherheit und damit auch Vertrauen darauf, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Darum geht die Vorbeugung gegen Kriminalität alle an. Die Erfahrung zeigt, dass auch alle zu dieser Vorbeugung beitragen können. Das Deutsche Forum für Kriminalprävention will diese Beiträge zusammenführen, bündeln und noch wirksamer machen. Ich unterstütze dieses Ziel gern und mit Nachdruck und habe ich Sie darum eingeladen.

II.

Im vergangenen Jahr sind der Polizei in Deutschland rund 6,3 Millionen Straftaten bekannt geworden. Wie groß die Dunkelziffer ist, weiß niemand. Unter den bekannt gewordenen Straftaten waren 187.000 Gewaltdelikte, 771.000 Betrugsfälle und drei Millionen Diebstähle. Allein die vollendeten Delikte haben einen Schaden von schätzungsweise 18,6 Milliarden
D-Mark verursacht. Nicht in Zahlen zu fassen ist das Leid, das den Opfern zugefügt wurde.

In den vergangenen Jahren ist die Kriminalitätsbelastung im Verhältnis zur Bevölkerungszahl leicht zurückgegangen; gegenüber der Mitte der fünfziger Jahre hat sie sich aber mehr als verdoppelt. Gewiss gehört Deutschland unverändert zu den sichersten Ländern der Welt. Viele Bürgerinnen und Bürger empfinden das aber als schwachen Trost. Die Furcht vor Kriminalität ist groß. Sie geht freilich - auch das darf man nicht verschweigen - oft weit über das tatsächliche Risiko hinaus, selber Opfer einer Straftat zu werden.

Vor drei Jahren haben bei einer Umfrage mehr als ein Viertel (26,8 %) der Befragten zu Protokoll gegeben, sie fühlten sich unsicher. Besonders stark war das Bedrohungsgefühl bei sozial Schwächeren, bei Frauen, bei älteren Menschen, in Ostdeutschland und in den größeren Städten.

Alte Menschen machen sich die meisten Sorgen, obwohl sie am seltensten Oper einer Gewalttat werden.

Bei manchen Menschen wird die Furcht vor Straftaten so groß, dass sie ihre Lebensweise ändern, dass sie sich zurückziehen, öffentliche Plätze und Verkehrsmittel meiden und abends nicht mehr aus dem Haus gehen. Sie leiden selber darunter und gehen ihren Mitmenschen verloren - auch das zählt zu der Bilanz des Schadens, den Straftaten anrichten.

Die Politik muss die Sorgen und Ängste der Menschen ernstnehmen; aber niemand darf Ängste schüren.

III.

Die Kriminalität zu bekämpfen und das Sicherheitsempfinden zu stärken ist in erster Linie Sache des Staates. Thomas Hobbes sah darin sogar dessen eigentlichen Entstehungsgrund und dessen eigentliche Daseinsberechtigung. Jedenfalls gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem staatlichen Gewaltmonopol und der Legitimität der politischen Ordnung auf der einen Seite und der staatlichen Schutzaufgabe andererseits. Nur wer sie gehörig erfüllt, kann auf dauerhafte Zustimmung zählen. Wenn sich dagegen die Bürgerinnen und Bürger von Kriminalität bedroht fühlen oder ihr gar schutzlos ausgesetzt zu sein scheinen, dann schwindet ihre Zustimmung zu Politik und Staat. Dann haben leicht diejenigen Zulauf, die auf alles eine Antwort haben und für nichts eine Lösung.

Zum staatlichen Schutz vor Kriminalität gehört beides: Repression und Prävention. Es wäre eine Illusion zu glauben, eines schönen Tages komme man ganz ohne repressive Maßnahmen aus. Straftäter wird es wohl immer geben, und auch künftig müssen die Polizei, die Staatsanwaltschaften, die Gerichte und die Strafvollzugsbehörden diese Täter ermitteln, fangen, bestrafen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie danach wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden können, wobei darin natürlich auch ein Stück Prävention liegt.

Schnelle und angemessene Sanktionen gegen Gesetzesverstöße sind unverzichtbar. Es bleibt eine hoheitliche Aufgabe ersten Ranges, diese vor allem repressiven Mittel entschlossen und den Regeln des Rechtsstaats gemäß einzusetzen.

Daneben werden freilich rein präventive Maßnahmen immer wichtiger, denn auch für den inneren Frieden und die innere Sicherheit gilt, dass Vorsorge allemal besser ist als nachträgliches Strafen und Therapieren. Auch beim Vorbeugen haben die staatlichen Stellen der Länder und des Bundes eine entscheidende Aufgabe - aber nicht als einzige.

IV.

Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass wir ein staatliches Präventionsmonopol gar nicht wollen. Ich habe eingangs Thomas Hobbes genannt. Mit ihm verbinden wir das Bild vom übermächtigen staatlichen Leviathan, dessen Schutz und Fürsorge für den einzelnen leicht zur Bedrohung und Bedrückung werden kann.

Für ein solches Monstrum ist in der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes kein Platz. Sie will nicht Sicherheit um den Preis der Freiheit. Der Staat soll zwar über das Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger wachen; aber überwachen und gängeln soll er sie nicht. Schon darum kann es bei der Kriminalprävention kein staatliches Monopol geben, sondern unsere freiheitliche Gesellschaft muss begreifen und beherzigen, dass die Vorbeugung gegen Straftaten auch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe ist.

V.

In den vergangenen Jahrzehnten sind allerdings manche gesellschaftlichen Bindekräfte schwächer geworden, die früher zur Vorbeugung beigetragen haben. Zugleich sind Missstände hinzugekommen, die der Kriminalität zusätzlich den Boden bereiten. Jeder kennt die entsprechenden Stichworte:

  • statt vertrauter Nachbarschaften anonymes Nebeneinander,
  • statt lebenslanger Belegschaftszugehörigkeit hohe berufliche Mobilität, aber auch vermehrte Arbeitslosigkeit,
  • statt fester familiärer und kirchlicher Bindungen ein tiefgreifender Wertewandel und manchmal auch Werteverlust,
  • Erziehungsdefizite und Integrationsprobleme,
  • Gewaltdarstellungen in den Medien und die Gefahr entsprechender Verrohung,
  • Alkohol- und Drogenmissbrauch mit der dazugehörigen Beschaffungskriminalität
  • und günstige Tatgelegenheiten durch eine fatale Kombination von Wohlstand und Vernachlässigung. Übrigens: Vernachlässigung können wir erleben bei einzelnen Menschen und bei ganzen Stadtquartieren.

VI.

Mit diesen Entwicklungen haben die meisten westlichen Gesellschaften zu ringen - von Schweden bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich trotz sehr unterschiedlicher Ausgangsbedingungen und Rechtstraditionen überall eine Reihe übereinstimmender Einsichten durchgesetzt hat:

  • Die Bedrohung durch Kriminalität ist für die Bürgerinnen und Bürger in ihrem eigenen alltäglichen Lebensumfeld am größten und am stärksten spürbar.

  • Zugleich gibt es auf der lokalen Ebene das meiste und das beste Wissen über das, was zur Vorbeugung praktisch getan werden kann - von der Parkbeleuchtung bis zur besseren Kontrolle einer Tiefgarage, von der Jugendarbeit bis zum Sponsoring von Präventionsmaßnahmen durch örtliche Unternehmen. Dort sind außerdem die meisten Akteure mit entsprechenden Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten - von den kommunalen Ordnungsbehörden und der Polizei bis zu Kirchen und Verbänden.

  • Darum ist es für die praktische Prävention so wichtig, dass möglichst alle Betroffenen beteiligt werden, dass man ihre Sorgen ernst nimmt, voneinander lernt und alle zur Mitarbeit gewinnt.

VII.

All diese Einsichten, meine Damen und Herren, haben sich auch in Deutschland durchgesetzt und das Bild der Kriminalprävention tiefgreifend verändert. In allen Teilen unseres Landes sind kommunal und landesweit Präventionsräte tätig. Ihre Projekte zu ganz unterschiedlichen Themen gehen längst in die Tausende. Das Spektrum reicht von der Wohnumfeldverbesserung über die Sicherheitsberatung für Senioren bis hin zu Streetball-Turnieren für Jugendliche und Initiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.

Dabei zeigt sich immer wieder, dass auf praktisch allen Politikfeldern etwas für den vorbeugenden Schutz vor Kriminalität getan werden kann.

Entsprechend wichtig ist die Arbeit der Präventionsräte für die Parlamente und die Regierungen in den Ländern und im Bund. Darum ist ein möglichst umfassender Erfahrungsaustausch zwischen allen staatlichen Ebenen so wünschenswert. Das trägt auch zu den berühmten
Synergie-Effekten bei. Ich bin mir gewiss, dass dazu das Deutsche Forum für Kriminalprävention einen wertvollen und einen nachhaltigen Beitrag leisten wird.

VIII.

Insgesamt scheint mir Deutschland in Sachen Kriminalprävention auf dem richtigen Weg. Hätte ich für die weitere Strecke drei Wünsche frei, dann wären es diese:

  • Erstens wünschte ich mir, dass die Polizeibeamten und vor allem die Streifenpolizisten für ihren schwierigen und nicht selten gefährlichen Dienst noch mehr Anerkennung erführen.

  • Ich wünschte mir weiter, dass das Thema Kriminalprävention überall im guten Sinne zur Chefsache würde. Ein Blick in Ihre Runde zeigt, dass das klappen könnte.

  • Schließlich wünschte ich mir, dass die Bürgerinnen und Bürger sich noch sehr viel stärker als bisher für das friedliche Zusammenleben und für die Sicherheit ihrer örtlichen Gemeinschaft interessierten und engagierten, denn Kriminalprävention geht wirklich alle an!