Neujahrsansprache von Bundespräsident Johannes Rau vor dem Diplomatischen Korps

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 11. Januar 2002

I.

Ihnen, Herr Nuntius, danke ich für die guten Wünsche, die Sie dem deutschen Volk überbracht haben.

Der Neujahrsempfang für das Diplomatische Corps, das oft herzliche Zusammentreffen der Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft zeigt, dass wir in all unserer Vielfalt und Verschiedenheit gut miteinander auskommen können. Der gute Brauch, sich zum Beginn eines neuen Jahres zu treffen, bestärkt mich in der Überzeugung, dass wir die Möglichkeit und die Kraft haben, unsere gemeinsame Welt auch gemeinsam zu schützen und zu entwickeln. Das zu tun, fordert uns stärker als je zuvor.

Heute vor vier Monaten haben die Anschläge in den USA die Welt erschüttert. Sie haben uns gezeigt, wie verletzlich wir sind und dass niemand vor der Gewalt menschenverachtender Terroristen sicher sein kann.

Heute vor zwei Monaten, am 11. November, habe ich New York besucht. Ich habe Angehörige der Opfer getroffen und die schreckliche Verwüstung am 'ground zero' gesehen. Ich habe mit Kofi Annan gesprochen und mit ihm und Javier Solana Lakhdar Brahimi zugehört, als er im Sicherheitsrat seinen Fünfpunkte-Plan für Afghanistan erläutert hat.

Ich erzähle Ihnen davon, weil meine Gespräche und Begegnungen in New York mich in der Überzeugung bestärkt haben, dass wir den internationalen Terrorismus nur gemeinsam besiegen können und dass dabei die Vereinten Nationen als globale friedenserhaltende Organisation die zentrale Rolle spielen müssen. Für die europäischen Botschafter füge ich hinzu: Wir müssen auch die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union stärken, damit Europa mit seinem großen politischen Potential die Friedens- und Stabilitätspolitik der Vereinten Nationen besser unterstützen kann. Das liegt sowohl im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

II.

Wie sehr habe ich mich gefreut, als ich von der Verleihung des Friedensnobelpreises an Kofi Annan und an die Vereinten Nationen erfuhr! Ich bin sicher, Ihnen ist es ähnlich ergangen. Sie werden zumindest mit der Entscheidung zufrieden gewesen sein. Nicht nur aus Sympathie für Kofi Annan und aus Achtung vor seiner Leistung, sondern auch deshalb, weil diese Entscheidung die Bedeutung der Vereinten Nationen für den Frieden in der Welt eindrucksvoll unterstrichen hat.

Die Vereinten Nationen sind unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel geschaffen worden, den Frieden in der Welt zu sichern und gegen alle Aggressoren zu verteidigen. Es ist deshalb unser gemeinsames Verständnis: Nur unter dem Dach der Vereinten Nationen und nur auf der Grundlage von VN-Resolutionen ist es völkerrechtlich legitim, militärische Gewalt anzuwenden. Daneben tritt das Recht auf Selbstverteidigung, das auch in der VN-Charta verbrieft ist.

Die Rolle der Vereinten Nationen hat sich nicht gleichmäßig entwickelt. Große Zäsuren, wie das Ende des Kalten Krieges, haben ihnen neuen Auftrieb gegeben. Auch ein so tragisches Ereignis wie der 11. September kann einen positiven Schub bewirken. Daher wünsche ich mir, dass die Möglichkeiten der Vereinten Nationen und ihres Generalsekretärs jetzt weiter gestärkt werden. Dabei gilt die einfache Erkenntnis, dass die Vereinten Nationen nicht mehr erreichen können, als ihre Mitgliedstaaten beizutragen bereit sind. Es liegt also an uns selbst, das Richtige zu tun und die Gelegenheit entschlossen zu nutzen. Auf drei Bereiche, so meine ich, sollten verantwortliche Staatsmänner ihr Augenmerk richten:

  • Die Vereinten Nationen müssen gesicherte finanzielle Grundlagen für ihre Aufgaben haben.
  • Die Verfahren und die Arbeitsweise der Vereinten Nationen müssen den Realitäten und Anforderungen unserer Zeit entsprechen.
  • Um der weltweiten Glaubwürdigkeit willen gilt: Wir dürfen uns keine vergessenen Konflikte mehr leisten, keine Zonen der Gleichgültigkeit.

Hinzu kommt: Wir könnten die Wirksamkeit der Vereinten Nationen erhöhen, wenn sich die Mitgliedstaaten bereit erklärten, den Vereinten Nationen eigene Instrumente, ja Machtmittel zuzusagen, die dann im Konfliktfall vom Sicherheitsrat und vom Generalsekretär eingesetzt werden können.

III.

Natürlich können die Vereinten Nationen nicht überall und bei jedem Konflikt tätig werden. Neben den Vereinten Nationen sind es vor allem regionale Organisationen, die zur Sicherung des Friedens gestärkt werden müssen: Organisationen wie die OSZE, die auf zwischenstaatlicher Basis regionale friedenssichernde Aufgaben erfüllen, und solche wie die Europäische Union, die durch ihre umfassende integrierte Zusammenarbeit zu Stabilität, Frieden und Wohlstand in ihrer Region beitragen.

Die Zusammenarbeit in der Europäischen Union ist eine Erfolgsgeschichte, die historisch ohne Beispiel ist. Europa, dessen Völker über Jahrhunderte in blutige Kriege verwickelt waren und die sich gegenseitig als Erbfeinde betrachtet haben, ist heute in weiten Teilen frei von bewaffneten Auseinandersetzungen.

Ich bin überzeugt davon: Was in Europa erreicht wurde, kann auch in anderen Regionen der Welt gelingen. Selbst da, wo Konflikte unlösbar scheinen, wie im Nahen Osten, dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass enge regionale Zusammenarbeit endlich den ersehnten Frieden bringen wird. Das gilt übrigens überall. Aber Gesprächsbereitschaft ist die Voraussetzung. Es gibt sie wirklich nicht, die historische Zwangsläufigkeit einer "Erbfeindschaft". Es gibt immer eine Alternative. Die Geschichte Europas zeigt das.

Der Europäische Rat von Laeken hat den zwei großen Aufgaben der Europäischen Union neue Impulse gegeben: der Sicherung der inneren Handlungsfähigkeit und der Erweiterung. Ich begrüße sehr, dass der Konvent zur Reform der Europäischen Union in wenigen Wochen zusammentreten wird, und ich hoffe, dass am Ende diesen Jahres eine Reihe von Staaten Mittel- und Südeuropas die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union erfolgreich abschließen wird. Die Erweiterung der Europäischen Union wird die Zone der Stabilität und des Wohlstandes in Europa noch vergrößern.

Auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union muss gestärkt werden. Schon jetzt zeigt sich in Bosnien, in Mazedonien oder im Kosovo, dass die Europäische Union bei der langfristigen Lösung von regionalen Konflikten zentrale Aufgaben übernehmen kann. Ich will gar nicht von einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik reden, für die die Voraussetzungen noch nicht gegeben sind. Wichtig erscheint mir zunächst, dass die in Brüssel geschaffenen neuen Strukturen für gemeinsames Handeln in diesem Bereich beherzt genutzt werden. Dann würde das entmutigende Wort von der Renationalisierung der Außenpolitik nicht mehr die Runde machen.

IV.

Wenn wir den Terrorismus besiegen wollen, brauchen wir einen langen Atem. Wir müssen bereit bleiben, notfalls auch militärisch einzugreifen. Vor allem aber ist ein politisches Handeln gefragt, das den Propheten der Gewalt im vorhinein, also präventiv, den Boden entzieht. Ich stimme Kofi Annan und vielen anderen zu, die auf der diesjährigen Generalversammlung der Vereinten Nationen gefordert haben: Wir müssen Armut und Ausbeutung, Elend und Rechtlosigkeit bekämpfen und damit dem Terror den Nährboden entziehen. Neben der internationalen Allianz gegen den Terrorismus brauchen wir auch ein weltweites Bündnis gegen Hunger und Armut.

Die wirtschaftliche Globalisierung hat unbestreitbar viele Vorteile. Für sehr viele Menschen ist sie die Sicherung ihrer Existenz und vielen bringt sie einen - wenngleich oft bescheidenen - Wohlstand. Aber es gibt offenbar Nebenwirkungen dieser wirtschaftlichen Globalisierung, auf die wir schauen müssen, wenn wir verstehen wollen, ob es Zusammenhänge gibt zwischen ihr und der Bereitschaft vieler Menschen, Terrorakte gegen die vermeintlichen Gewinner der Globalisierung gutzuheißen.

Übrigens ist es kein Naturgesetz, dass wirtschaftlicher Fortschritt mit der Preisgabe kultureller Identität, mit dem Verlust historisch gewachsener Bindungen und religiöser Überzeugungen einhergehen muss. Globalisierung darf auch nicht bedeuten, dass diejenigen beiseite gedrängt werden, die ihre Stimme nicht weltweit zu Gehör bringen können. Wir hören aus Ländern auf der Schwelle zum Industrie- und Medienzeitalter, dass viele Menschen heute am tiefsten durch den Verlust ihrer Würde getroffen sind. Sie spüren, dass ihre Kultur und ihr "Anderssein" nicht respektiert werden. Sie empfinden ein Gefühl der Minderwertigkeit, ja der Erniedrigung. Sie empfinden, dass ihre traditionellen Werte überlagert zu werden drohen, vor allem bei den jungen Menschen: von einer anderen Kultur, ja von den Auswüchsen der Konsumgesellschaft. Wir müssen das ernst nehmen, ohne es falsch zu deuten.

Der Terroranschlag vom 11. September ist nicht der Beginn eines Kampfes der Religionen, und deshalb darf das Schlagwort vom "Kampf der Kulturen" nicht zu einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" werden. Wir helfen mit, dass es nicht dazu kommt, wenn wir der internationalen Kulturpolitik einen viel größeren Stellenwert einräumen. Jedes Land sollte seine eigene Kultur und Tradition bewahren und gleichzeitig den Dialog mit anderen Kulturen fördern können. Das ist auch eine Herausforderung für die deutsche auswärtige Kulturpolitik. Welche Chance vertun wir, wenn wir nicht unsere eigene Kultur im Ausland darstellen und Respekt und Verständnis für ausländische Kulturen in unserem Land wecken! So verstanden ist auswärtige Kulturpolitik beste zivile Konfliktprävention.

V.

Das Jahr 2001, das erste Jahr des neuen Jahrtausends, war gewiss ein entscheidendes Jahr für die internationale Staatengemeinschaft. Es wird auf immer mit den schrecklichen Anschlägen in New York und Washington verbunden bleiben. Das Jahr 2002 kann als ein Jahr der Hoffnung und des Neubeginns in die Geschichte eingehen, wenn wir gemeinsam und mit der nötigen Entschlossenheit die richtigen Folgerungen ziehen.

  • Der Neubeginn wird uns gelingen, wenn wir den internationalen Terrorismus als eine gemeinsame Herausforderung an die Menschheit und an den Frieden auf der Welt begreifen.

  • Der Neubeginn wird uns gelingen, wenn wir uns darin einig sind, dass wir den Dialog der Kulturen und der Menschen fördern und bestehende Ungerechtigkeiten in der globalen Verteilung abbauen müssen.

  • Er wird uns gelingen, wenn wir uns darin einig sind, dass wir die Vereinten Nationen stärken und die regionale Kooperation in der Welt fördern müssen.

Wenn wir uns darauf verständigen können, dann kann 2002 als das Jahr eines neuen Aufbruchs im Zusammenleben der Menschen in die Geschichte eingehen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Hoffnung Ihren Regierungen und Ihren Völkern vermitteln könnten.

Die guten bilateralen, die freundschaftlichen nachbarschaftlichen Beziehungen sind das unverzichtbare Fundament für eine solche Entwicklung. Sie alle widmen sich hier in Berlin mit Engagement und Erfolg ihrer Pflege. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Ich danke Ihnen auch für die vertrauensvolle Zusammenarbeit im vergangenen Jahr und wünsche Ihnen, Ihren Familien und Mitarbeitern ein gutes und friedliches Neues Jahr.