Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau im Rahmen der Zentralen Eröffnungsfeier der 50. Woche der Brüderlichkeit

Schwerpunktthema: Rede

Karlsruhe, , 3. März 2002

Wortlaut der Rede:

Wenn wir jetzt eine Liste mit den 50 Tagen hätten, an denen die Woche der Brüderlichkeit eröffnet worden ist, und daneben die jeweilige Schlagzeile der Tageszeitung, dann wüssten wir, es hat Eröffnungsveranstaltungen gegeben mit großer Freude, mit großem Jubel und mit großer Dankbarkeit. Es hat aber auch Eröffnungsveranstaltungen gegeben mit Beklommenheit.

Vor elf Jahren war der Golfkrieg. Er veränderte die Welt, und vielleicht ist es dem Einen oder Anderen so gegangen wie mir, dass ich heute Morgen gedacht habe: Kann man denn eigentlich feiern, wenn die Nachrichten von Toten in Jerusalem, Toten in Bethlehem berichten, und Panzer auf dem Weg in Flüchtlingslager sind? Es ist die Verteidigung eines Volkes, eines Staates, dem viele die Existenz absprechen, nicht erst heute, und es gibt manchen Versuch einer Antwort, die man nicht nachsprechen kann, weil man weiß, dass dieser Weg kein gutes Ende nimmt.

Man muss das aussprechen, wenn man ein fünfzigjähriges Jubiläum der Woche der Brüderlichkeit feiert und sich klar macht, was denn der Sinn einer solchen Woche ist. Es ist die Arbeit für das ganze Jahr, gegen Intoleranz und für Zivilcourage und für Mitmenschlichkeit. Es ist die Arbeit für eine Brüderlichkeit, von der jeder, der Geschwister hat, weiß, dass sie weder sentimental noch romantisch ist.

Ich habe Brüder und Schwestern. Brüder kennen sich, Brüder können sich nichts vormachen. Brüder gehen sich gelegentlich auf den Geist. Das ist nicht ein "seid umschlungen Millionen".

Wir müssen gut aufpassen - auch bei den bewegenden Worten des Gedichtes der großen Hilde Domin -, dass wir nicht zu schnell das Bild verinnerlichen: Wir sind Abel, die anderen sind Kain. Nein, so einfach ist die Weltgeschichte nicht gewesen, so einfach ist die Geschichte der Juden und der Christen nicht, als dass wir immer sagen könnten, dass wir Abel sind und der andere sei Kain; der wolle uns erschlagen.

Wer den christlich-jüdischen Dialog von heute kennt, der weiß, dass es nicht nur diesen Dialog von heute gibt, sondern auch die christliche Geschichte eines Antijudaismus, aus dem Antisemitismus erwachsen ist. Ohne diesen Nährboden hätte es den Zivilisationsbruch, der Auschwitz heißt, der Shoah heißt, nicht gegeben. Das muss man wissen, wenn man redlich von Brüderlichkeit und von Brüdern, von Geschwistern reden will. Da muss man hinzufügen, es gab einen Abel, es gab Josef und seine Brüder, es gab auch Isaak und Ismael. Eines Tages könnte es sein, dass wir denjenigen schützen müssen, der "Mehmet" heißt.

Die Welt hat sich verändert, auch in den fünfzig Jahren "Woche der Brüderlichkeit". Hätte man in meiner Kindheit eine Weltkarte hingelegt, hätten wir mit einigermaßen guter Schulbildung sagen können: Da leben die Christen, da leben die Muslime, da leben die Protestanten, da leben die Katholiken, da leben die Juden. Heute ist das anders. Weltregionen begegnen sich nicht mehr bei Reisen auf Kontinenten, sondern in einer Straße. Alle diese Weltregionen haben es zu tun damit, dass es in ihnen fundamentalistische Teile gibt. Sie sind in Wirklichkeit Feinde des Glaubens, nicht Fürsprecher, nicht Werber. Weil das so ist, darum ist die Woche der Brüderlichkeit so nötig. Es muss sie daher auch in einer Zeit geben, in der man sprachlos sein könnte vor so viel kriegerischem Reden und Tun, vor so viel Gewalt und Hass aufgrund von Fremdheit, Unkenntnis und bitterer Erfahrung.

Heute werden drei Menschen geehrt, die für die gute Sache gearbeitet haben, die nicht sprachlos geblieben sind. Ich habe das Glück, alle drei zu kennen. Edna Brocke, die uns eben erzählt hat, wie sie nach Deutschland kam, ist mir als Studentin beim Kirchentag begegnet. Sie hat mit dafür gesorgt, dass es christlich-jüdische Bibelarbeiten gibt. Das ist eine Tradition geworden. Bequem war sie dabei nicht. Man nennt sie eine säkulare Zionistin. Edna Brocke hält nichts davon, dass wir unsere Glaubensüberzeugungen so miteinander vermischen, dass der eigene Glaube und die eigene Grundüberzeugung nicht mehr erkennbar sind. Da hält sie es wie die beiden anderen Preisträger mit Hermann Hesse, der gesagt hat: "Gestaltlose Nebel begegnen sich nie".

Nein gestaltlos ist niemand von den Dreien. Edna Brocke hat nicht den Versuch gemacht, uns alle nur freundlich einzustimmen. In einem Interview mit der "Rheinischen Post" in dieser Woche hat sie uns noch einmal vor den Verschwommenheiten einer Sentimentalität, die auch zu falscher Ausländerfreundlichkeit führen kann, gewarnt, denn die gibt es ja auch.

Edna Brocke ist eine Frau, die aus dem Judentum kommt und die im Judentum steht. Sie erinnert mich in manchem auch an die Sperrigkeit von Hannah Ahrendt, mit der sich viele schwer getan haben. Aber sie ist uns lieb geworden durch ihr klares und deutliches Profil. Sie, die uns doch die Hand reicht und nicht den Ellenbogen zum Symbol der Gesellschaft macht.

Denke ich an Johann Baptist Metz, den katholischen Theologen bayerischer Herkunft aus Münster mit Adressen auf allen Kontinenten, so will ich das angedeutete Stichwort "Theologie nach Auschwitz" aufgreifen. Ich denke an die Frage der Kompassion, an die Frage des Mitleidens, übrigens nicht nur mit bedrängten Israelis und nicht nur mit heimatlosen Palästinensern.

Das Wirken von Johann Baptist Metz ist eng mit der Weltkirche, mit Lateinamerika und mit politischer Theologie verbunden. Zur Theologie der Befreiung hat er manchen kritischen Brief bekommen - aber auch beantwortet. Ich habe es daher ein wenig als Genugtuung empfunden, dass zu seinem siebzigsten Geburtstag Kardinal Ratzinger aus Rom kam und eine Festrede auf einen geliebten Gegner hielt.

Und dann Rolf Rendtorff. Wenn ich von ihm und mir erzählen würde - selbst Sendezeiten bei den Privaten reichten nicht aus, das Politische, das Theologische und das Persönliche darzustellen. Wenn man in meinem Alter ist, fängt man allmählich an zu sagen, ich habe seinen Vater noch gekannt. So ist es auch hier. Seinen Bruder kenne ich natürlich auch. Vor allem aber kenne ich das Bemühen dieses Mannes um das Alte Testament, wie die Christen das erste Testament irrtümlich nennen und seine Auseinandersetzung mit der Botschaft der Propheten; seinen Versuch, deutlich zu machen, dass im Neuen Testament, im Römer Brief steht: Nicht Du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt Dich (Kapitel 11).

Wir sind nicht die Hinzugekommenen, wir Christen, die die anderen vereinnahmen dürfen. Wir sind bestenfalls jüngere Brüder, die deutlich machen, dass der Humus der christlichen Botschaft sogar der alte Bund ist und der neue Bund nicht den alten adelt, sondern aus dem alten Bund entsteht. Das theologisch zu erklären, das hat dieser Schüler Gerhard von Rads mit Hans-Walter Wolff, mit Hans-Joachim Kraus, mit Heinz Kremers, mit vielen anderen getan und er hat es umgesetzt in Politik, in Kirchentagsarbeit, und er hat es in politische Gremien getragen, in denen Juden und Christen miteinander reden.

Die drei Preisträger, von denen ist keiner "gestaltloser Nebel", denn jeder hat Profil und jeder von ihnen hilft mit, dass aus Zivilcourage kein Fremdwort und aus Toleranz nicht eine Formulierung im Bewerbungsschreiben wird.

Ihr Profil ist der Versuch, das Leben zu bestehen mit den Anderen, mit ihnen zu leben und nicht gegen sie, denn das müssen wir alle miteinander lernen, dass gegen die Kette von Fremdheit und Angst, Hass und Gewalt, nur die Kette von der Fremdheit über die Neugier zum Reichtum und zur Vielfalt geht.

Ich habe natürlich, Herr Landesrabbiner, Herr Spiegel, Herr Botschafter, meine Damen und Herren, auf der Reise hierher über den fünfzigsten Geburtstag nachgedacht. Mir ist dabei deutlich geworden, dass in der Bibel viel von Siebzigjährigen und sehr viel von Vierzigjährigen die Rede ist. Dann gibt es die Zahlen der ganz Alten, der Methusalems. Der fünfzigste Geburtstag kommt - wenn ich es richtig eruiert habe - nur ein einziges Mal vor. Heute am fünfzigsten Geburtstag der Woche der Brüderlichkeit sage ich Ihnen das Wort aus dem vierten Buch Mose, in dem es heißt: "So die Männer in Israel fünfzig Jahre alt werden, sollen sie nicht mehr arbeiten, sondern ihren Brüdern dienen." Keiner weiß, ob der Tempeldienst oder der Militärdienst mit diesem Arbeitsverbot mit fünfzig Jahren gemeint war. Dass der Dienst an den Brüdern und Schwestern abererst beginnt, wenn man gefeiert hat, das ist die Nachricht von heute.