Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau in Marzabotto am 17. April 2002

Schwerpunktthema: Rede

Marzabotto, , 17. April 2002

Vor achtundfünfzig Jahren haben Deutsche Gewalt und unendliches Leid nach Marzabotto gebracht. Der Opfer will ich heute gedenken. Ich bin tief bewegt, dass Staatspräsident Ciampi mich heute zu diesem Ort des Gedenkens begleitet.

Heute kann man sich kaum noch vorstellen, was an jenem kalten und düsteren 29. September 1944 geschah. Am Morgen dieses Tages kamen die Mörder, so steht es auf einer der Gedenktafeln, "wie Hyänen..., um alle Spuren menschlichen Lebens auszulöschen".

Persönliche Schuld tragen nur die Täter. Mit den Folgen dieser Schuld müssen sich auch die nach ihnen kommenden Generationen auseinandersetzen.

Es ist schwer, an diesem Ort und vor Ihnen Worte zu finden, die dem Ungeheuren gerecht werden, das mit Worten kaum zu fassen ist. Ich denke an die Kinder und Mütter, an die Frauen und an die ganzen Familien, die an diesem Tag Opfer des Mordens geworden sind, und es ergreifen mich Trauer und Scham. Ich verneige mich vor den Toten.

Sie haben die Erinnerung an die Opfer des Massakers bewahrt und wachgehalten. Sie haben das nicht getan, um Hass lebendig zu halten oder um aufzurechnen. Sie haben das um der Zukunft willen getan, um unserer gemeinsamen Zukunft willen. Niemand darf vergessen, dass jede Generation sich immer wieder neu den Blick schärfen muss für verbrecherische, menschenverachtende Ideologien. Wir müssen solche Irrlehren bekämpfen, bevor sie Macht über Menschen gewinnen können.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, als die Waffen endlich schwiegen, da lagen große Teile Europas in Trümmern und Versöhnung schien kaum möglich. Und doch, so hat es Thomas Mann gesagt, hat "aus letzter Hoffnungslosigkeit ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung" getragen.

Fritz Stern, der Historiker, der aus Deutschland vertrieben worden ist von den Nationalsozialisten, hat die Zeit von 1914 bis 1945 den zweiten Dreißigjährigen Krieg genannt. Unter den Staatsmännern, die sich daran gemacht haben, die Fundamente für ein neues Europa zu legen, waren ein Italiener und ein Deutscher, zwei Gegner von Faschismus und Nationalsozialismus: Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer. Sie wollten, das war ihre Vision, dass nationaler Egoismus durch Zusammenarbeit ersetzt werde, und allen sollten daraus Vorteile erwachsen. Es ging nicht nur um Wohlstand, es ging auch um Friede und Sicherheit. Diese Vision ist jetzt Wirklichkeit geworden. Wir können dankbar und mit Freude sagen, dass unsere beiden Länder großen Anteil daran hatten und haben, das neue, geeinte Europa zu bauen.

Das große Einigungswerk wird nur Erfolg haben, wenn wir es zu unserer Sache machen - mit Herz und Verstand. Mit der Friedensschule, die Sie hier in Marzabotto gegründet haben, als Ort des Studiums und der Begegnung, leisten Sie dazu einen wichtigen Beitrag.

Ich möchte Ihnen heute dafür danken, dass Marzabotto ein Ort ist, der Italiener und Deutsche nicht entzweit, sondern zusammenführt. Was hier geschehen ist, das Schreckliche, ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Aber daraus erwächst ein Auftrag für eine gemeinsame, friedliche Zukunft.