Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum fünfzigjährigen Bestehen des Landes Baden-Württemberg am 27. April 2002 in Stuttgart

Schwerpunktthema: Rede

Stuttgart, , 27. April 2002

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

sehr geehrte Damen und Herren,


I.

es würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen, wenn ich der Versuchung nachgäbe, auch nur in Ansätzen zu erzählen, wie viel mich seit Jugendjahren mit Baden-Württemberg, mit seinen Städten und Gemeinden und mit vielen Menschen hier verbindet; und bei Ansätzen bliebe es nicht. Darum erzähle ich Ihnen nur: Vor meinem Amtssitz, dem Schloss Bellevue in Berlin, liegt eine Bushaltestelle. Da halten Busse. Das ist so. Auf denen steht ganz groß: "Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?"

Die Botschaft lässt auf ihre Absender schließen: Sie hat Witz und lässt Humor erkennen, der offenbar bis zum Vergnügen an einer kleinen Provokation geht. Die Botschaft kommt mit nur zehn Worten aus, verrät also Sparsamkeit. Sie zeugt von gesundem Selbstvertrauen und von der Zuversicht, jeden Wettbewerb durch Leistung zu bestehen. Sie will nicht überreden, sondern lädt dazu ein, sich selber ein Urteil über Baden-Württemberg zu bilden. Damit appelliert sie an den gesunden Menschenverstand - und das tut meist nur, wer davon selber eine ordentliche Portion hat.

Mutterwitz und Humor, Selbstvertrauen und Leistungsstärke, Sparsamkeit und gesunder Menschenverstand - mit all diesen guten Eigenschaften und noch mit einigen mehr haben die Menschen hier in Baden-Württemberg eine einzigartige Erfolgsgeschichte geschrieben. Dazu und zum heutigen fünfzigsten Geburtstag Ihres Landes gratuliere ich Ihnen im Namen aller Bürgerinnen und Bürger unserer Bundesrepublik Deutschland.

Übrigens hat die Bundesrepublik Deutschland auch allen Grund, sich selber zu Baden-Württemberg zu beglückwünschen. Das Land ist sehr schnell einer der wichtigsten und verlässlichsten Aktivposten der deutschen Wirtschaft, unserer Demokratie und des deutschen Föderalismus geworden.

Genau so bedeutsam ist sein Anteil am geistigen Haushalt unserer Nation: Wie schon zu den Zeiten Hartmann von Aues und Johannes Reuchlins ist Baden-Württemberg auch heute ein fruchtbarer Boden für Dichtkunst und Gelehrsamkeit. Es ist ein "Orchesterparadies" genannt worden und es hat Ballettensembles, Opernhäuser und Sammlungen bildender Kunst hervorgebracht, von denen etliche wahrlich Weltruf genießen.

Kurzum: In Baden-Württemberg wird seit jeher fleißig geschafft und auch das geistige Kapital vermehrt, mit Augenmaß regiert und voller Verantwortungsbewusstsein zum Wohl des gesamten Gemeinwesens beigetragen. Solche Verlässlichkeit wird oft gedankenlos als selbstverständlich genommen, doch mindestens an einem Tag wie dem heutigen ist ein Wort des Dankes fällig, und auch diesen Dank spreche ich hier gerne aus.


II.

Nun haben Landesjubiläen ihre übliche Dramaturgie mit Fahnen, mit Musik und Reden, und sie haben auch einen Kanon üblicher Themen. Es geht um Rückblick und Ausblick, um Herkunft und Zukunft, um Erlebtes und Erstrebtes, und auch die Frage nach einer Neugliederung des Bundesgebietes ist fast immer als steinerner Gast zur Stelle. Ich gestehe freimütig: Genau so mag ich das, denn ich finde all das immer wieder richtig und wichtig, und auch der steinerne Gast gehört doch schon irgendwie dazu, finde ich.

Freilich darf nicht zur Feier des Tages nur immer wieder derselbe Text aufgesagt werden. Orientierung für sich und andere stiftet allein, wer die Erfahrungen und die Erwartungen immer wieder überprüft und zueinander ins Verhältnis setzt.


III.

Wer zum Beispiel die unglaubliche Aufbauarbeit und unglaubliche Integrationsleistung studiert, die gerade in den Anfangsjahren in diesem Land erbracht worden ist, der kann sich nur wundern, mit wie viel Kleinmut und Zwist in Deutschland manche Probleme heute angegangen werden. Als Baden-Württemberg entstand, da waren die Kriegsschäden noch allgegenwärtig, es gab einige wirtschaftlich völlig unterentwickelte Regionen, der Export lag darnieder, und jeder vierte Arbeitnehmer war noch in der Land- und Forstwirtschaft tätig; das verlieh dem Land eine deutlich agrarische Prägung. Von "Wirtschaftswunder" war da vorerst nicht die Rede.

Zu den wirtschaftlichen Problemen kamen erhebliche innere Konflikte: Es gab viel Misstrauen zwischen Baden und Württemberg, und der Kampf um den Südweststaat hatte Wunden geschlagen, die nicht so schnell wieder heilten. Außerdem kamen immer mehr Flüchtlinge und Vertriebene ins Land - im Lauf der Jahre ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Sie haben Unschätzbares zum Aufbau des Landes beigetragen, aber am Anfang stießen sie noch auf Vorbehalte, ja auf Ablehnung, und auch das hat das Miteinander belastet.

Man muss diese äußeren und inneren Ausgangsbedingungen sehen, um ganz zu ermessen, was dann geschafft und geschaffen wurde: Binnen weniger Jahre verdoppelte sich die Industrieproduktion, es entstanden völlig neue Fertigungszweige, die Kriegsschäden wurden beseitigt, Handel und Wandel blühten, und die weniger entwickelten Landesteile schlossen Schritt für Schritt zu den anderen auf. Schon Mitte der fünfziger Jahre wurden die ersten ausländischen Arbeitnehmer angeworben, und auch sie trugen ihr Teil zum allgemeinen Aufschwung bei. Auch die innere Einheit gelang. Im Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Vertriebenen bewies das der sogenannte Verschwägerungsindex (er misst die Bereitschaft, in eine andere Gruppe einzuheiraten). Was das gute Verhältnis zwischen Baden und Württemberg angeht, so ist es spätestens durch das Ergebnis der badischen Volksabstimmung von 1970 noch dem letzten klar geworden.

Ähnliche Erfolgsgeschichten lassen sich auch aus den meisten anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland erzählen. Die hiesige ist eindrucksvoll genug. Erst wurde heftig gestritten, aber dann krempelte man die Ärmel hoch und packte gemeinsam erfolgreich an, selbst wenn man sich anfangs nicht immer ganz grün war. Ließe sich daraus nicht einiges dafür lernen, wie wir heutzutage mit gemeinsamen Aufgaben und Problemen umgehen?


IV.

Ich nenne ein anderes Beispiel dafür, wie Vergangenes und Kommendes immer wieder neu aufeinander bezogen werden sollten: Die Forderung nach einer durchgreifenden Reform unseres föderalen Systems ist ein altes Lied und gehört zum Traditionsbestand von Landesjubiläen. Gelegentlich wechseln Tonart und Tempo des Stücks, und die Wirkung kann erstaunlich sein. Genau das könnte uns demnächst auf europäischer Ebene passieren, und dann drohen uns die Ohren zu klingen.

Wir alle erleben, verstärkt seit 1990, geradezu stürmische Fortschritte in der europäischen Integration. Auch Baden-Württemberg als Land in der Mitte Europas leistet dazu seit langem einen wertvollen Beitrag: durch seine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Bund und den Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union, durch sein Engagement für ein "Europa der Regionen" und durch gute Kontakte zu den Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa.

Die Europäische Union ist kontinuierlich vertieft und erweitert worden, und weitere Schritte stehen bevor. Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union hat seine Arbeit aufgenommen.

Was sich die Deutschen von einer europäischen Verfassung in puncto Verhältnis zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten wünschen, ist, trotz mancher Unterschiede im Detail, ziemlich klar: Die europäische Verfassung soll möglichst eindeutig festlegen, welche Zuständigkeiten und Kompetenzen die europäische Ebene hat und welche die Mitgliedstaaten behalten. Bei der Verteilung der Kompetenzen und in bestimmten Fällen auch bei ihrer Ausübung soll das Subsidiaritätsprinzip beachtet werden. Das heißt: Auf europäischer Ebene soll nur entschieden werden, was nicht genau so gut oder sogar besser in und von den Mitgliedstaaten erledigt werden kann.

Außerdem soll Vorsorge getroffen werden, dass es nicht zu einer schleichenden Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene kommt oder gar zu dem, was das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die föderale Ordnung des Grundgesetzes einmal "Systemverschiebungen" genannt hat.

Vermutlich werden sich manche unserer europäischen Partner das alles anhören und dann fragen:

  • Wie haltet Ihr es denn daheim mit diesen Grundsätzen? Sollen wir Euch einmal die ge­sammelten Forderungen nach Föderalismusreform der letzten zwanzig Landesjubiläums­feiern vortragen?
  • Habt Ihr nicht in Deutschland im Konsens die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes immer weiter ausgedehnt und ihn seine Rahmengesetzgebung dermaßen intensiv ausüben lassen, dass man manchmal vor lauter Rahmen kaum noch Bilder sieht?
  • Habt Ihr nicht mit der Kompetenzverlagerung auf den Bund auch einer immer weiteren Trennung von Regelungs- und Finanzierungszuständigkeiten Raum gegeben und einen Kostenverschiebebahnhof konstruiert, unter dem hier in manchen Bereichen nicht zuletzt die Landkreise, die Gemeinden und Städte leiden?
  • Und wie genau vereinbart es sich mit dem Subsidiaritätsprinzip, wenn den Ländern immer weniger eigene Gestaltungsrechte bleiben, obwohl sie doch vielleicht gerade in Zeiten weltweiter Konkurrenz solche Gestaltungsrechte für eine gute Struktur- und Regionalpolitik brauchten?

Sie sehen, meine Damen und Herren: Eigentlich dasselbe Lied, aber wenn es uns die anderen sängen, hörten wir es nicht so gern, weil wir unsere Glaubwürdigkeit angegriffen fühlten. Niemand soll mich falsch verstehen: Wir sollten uns mit diesen Fragen ernsthaft beschäftigen und dann entscheiden, was noch zeitgemäß ist und wo wir eine gründliche Renovierung unserer föderalen Ordnung brauchen. In der europäischen Verfassungsdebatte werden wir am besten dadurch für unsere Vorschläge werben, dass wir unsere Grundsätze auch bei uns im eigenen Land beherzigen und nicht nur auf europäischer Ebene Forderungen aufstellen.


V.

Zu guter letzt noch einmal ein Wort in Sachen Werbung für Baden-Württemberg: Im Großen Landeswappen stützen das Wappenschild ein Hirsch und ein Greif. Sie stehen für Württemberg und für Baden und sie versehen ihren heraldischen Dienst seit Menschengedenken ernst und regungslos. Auf der Internetseite zum Landesjubiläum und in vielen Broschüren und auch auf dem Titel des kleinen Heftes, das Sie bei Ihrem Programm haben, kann man nun den Hirsch und den Greif auch einmal fröhlich und unbeschwert sehen: Da lächeln sie sich zu und tanzen miteinander. Ich finde: Die beiden haben allen Grund dazu.