Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt "50 Jahre Bundesarchiv"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 4. Juni 2002

I.

Von Novalis stammt das Wort: "Schriften sind die Gedanken des Staates, die Archive sein Gedächtnis."

Das trifft auch heute noch zu: Die Registraturen und Archive unterstützen die Arbeit von Verwaltung und Regierung, sie bewahren "Vorgänge" auf und halten sie rasch verfügbar. Diese "Vorgänge" dokumentieren, was Ereignissen und Entscheidungen vorausgegangen ist und was dabei in den Köpfen vorgegangen ist, vor welchem Hintergrund also das jeweilige Thema oder das aktuelle Problem betrachtet und eingeordnet werden muss. Natürlich liefern die Akten nicht das ganze Bild der Wirklichkeit: Der alte Spruch "quod non est in actis, non est in mundo" stimmt gewiss nicht. Aber man unterschätze nicht, wie welthaltig gut geführte Akten sind und wie vielsagend - sogar durch ihre Lücken - sie für den sein können, der sie zu lesen versteht.

Wie wirkungsvoll gut gepflegte Akten sind, darüber könnte ich aus eigener Erfahrung so manches Beispiel berichten. Wenn mir etwa jemand schreibt, erst jetzt, da ich Bundespräsident sei, habe er endlich die geeignete Ansprechperson, um ein lang geplantes Projekt vorzustellen und dafür um Unterstützung zu bitten, dann kann es hilfreich sein, wenn die Registratur mir seine gleichlautenden Briefe an Richard von Weizsäcker oder an Roman Herzog oder an Walter Scheel vorlegt.

Akten und Archive bilden das Rückgrat vernünftigen administrativen Handelns, weil sie die Sachverhalte in einen Kontext stellen, der es erleichtert, Entscheidungen zu begründen. Sie tragen bei zur Kontinuität von Entscheidungsrichtlinien und fördern so ein widerspruchsfreies Handeln über längere Zeiträume und in einer verstreuten Menge von Einzelfällen. Sie machen aber auch deutlich, wenn neue Wege gegangen worden sind und warum das so war.

Darum hat Max Weber in der Bürokratie mit Aktenhaltung, die er ausdrücklich erwähnt, das entscheidende Signum der staatlichen Moderne gesehen. Erst durch diesen Apparat - so Max Weber - wird die Rationalität staatlichen Handelns dauerhaft gesichert.

Dass damit noch nichts gesagt ist über die moralische Richtigkeit staatlichen Handelns, das wusste Max Weber auch, und wir wissen es spätestens seit den schrecklichen Erfahrungen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945. Damals wurden Bürokratie und Archive verbrecherischen Zielen untergeordnet. Akten wurden auf Abstammungshinweise hin durchforstet und die Bürokratie wurde dafür eingesetzt zu gewährleisten, dass die Vernichtungsmaschinerie rei­bungslos funktionierte. Die Macht, die Akten und Archive verleihen, kann auch schrecklich missbraucht werden.

Als 1990 die Bestände des Zentralen Staatsarchivs der DDR in den Besitz des Bundesarchivs übergingen, da wurde ein Großteil dieser Akten erstmalig wieder der Öffentlichkeit zugäng­lich gemacht. Die DDR hat ihre Akten verborgen und gehütet. Die Archive waren der Tresor, in dem sie die Währung ihrer autoritären, ja diktatorischen Machtausübung verschlossen hielt. Das gilt natürlich in erster Linie für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes; aber auch die Geheimhaltung oder die gezielte Veröffentlichung anderer Aktenbestände hat die DDR als Instrument genutzt.

Das Bundesarchiv, dessen fünfzigjähriges Bestehen wir heute würdigen, zeigt dagegen eindrucksvoll, wie man mit der Macht, die das in den Akten gespeicherte Wissen bedeutet, verantwortungsvoll umgeht. Es hat in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten Großes für unser Land geleistet, und das zeitweise unter sehr schwierigen Bedingungen - in der Anfangszeit etwa, als das Archiv die überall verstreuten Dokumente erst zusammensuchen musste, und natürlich 1990, als es galt, das Zentrale Staatsarchiv der DDR zu integrieren.

Ich gratuliere gern und von Herzen zu dieser erfolgreichen Arbeit und zu diesem runden Geburtstag. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs für ihr großes persönliches Engagement danken, ohne dieses Engagement wären die Leistungen des Archivs undenkbar.

Das Bundesarchiv ist das Gedächtnis unseres Staates, es bewahrt die "Vorgänge" der Bundes­behörden. An einem Tag wie heute wird uns bewusst, dass es auch einen "Vorgang Bundes­archiv" gibt, an den zu erinnern sich lohnt. Auch seine papierene Spur aus Vorlagen und Briefen, Memoranden und Denkschriften, aus Kabinettvorlagen und Organisationserlassen lässt sich im Bundesarchiv verfolgen.

Die Wurzeln reichen zurück zur Gründung des Reichsarchivs in Potsdam im Jahre 1919. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Potsdam das spätere Zentrale Staatsarchiv der DDR eingerichtet. Die Bundesregierung beschloss, in der Bundesrepublik Deutschland deshalb ein eigenes Bundesarchiv zu gründen. Es begann seine Arbeit im Juni 1952 in Koblenz. Die schriftlichen Zeugnisse des Dritten Reichs, die von den westlichen Alliierten beschlagnahmt worden waren, wurden nach Deutschland zurückgeführt und der internationalen Forschung zugänglich gemacht.

Mit der Zeit kamen immer mehr Nebenstellen und neue Aufgabenbereiche hinzu. Die deutsche Einheit schließlich brachte die unverhoffte Chance, die Aktenbestände von Bundesarchiv und Zentralem Staatsarchiv der DDR zusammenzuführen.

Heute ist das Bundesarchiv an elf Orten untergebracht. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwierig es gelegentlich sein mag, die Arbeit über große Distanzen hinweg zu koordinieren. Ich kenne Ihren Wunsch, das Bundesarchiv räumlich enger zusammenzuführen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der im März begonnene Neubau im brandenburgischen Dahlwitz-Hoppegarten. Dort entsteht nach dem Motto "aus Vier mach Eins" eines der größten Filmarchive der Welt.

Das wird ein ganz besonderer Edelstein in der Archivlandschaft. Dennoch hat auch eine dauerhaft etwas größere Zahl von Einzelstandorten ihr Positives. Sie ist zum Teil der föderalen Struktur unseres Landes geschuldet. Das Bundesarchiv ist eben kein Nationalarchiv, und das hat auch etwas mit der deutschen Geschichte zu tun.

II.

Lassen Sie mich nach dieser kurzen "tour d'histoire" auf die Bedeutung der archivarischen Arbeit zurückkommen. Wenn von Archiven die Rede ist, denken Außenstehende leicht an dunkle Kellerräume, in denen verstaubte Ordner in langen Regalen stehen und - einmal sortiert und nummeriert - für immer vergessen sind. In der Literatur wird das Archiv immer wieder als Bild für Einsamkeit und Weltfremdheit verwandt. Man braucht aber nur einen der Ordner aus den Regalen zu ziehen und einmal hineinzusehen, dann beginnt sein Inhalt bald zu uns zu sprechen, und vor unserem inneren Auge werden vergangene Ereignisse wieder leben­dig. Gerade in Archiven können wir - sozusagen handfest - erfahren, dass Geschichtsschreibung eine immer wieder aktuelle Herausforderung ist und dass sie auf Menschen angewiesen ist, die die Zeugnisse ihrer Zeit sammeln und überliefern.

Der Schriftsteller Hampaté Bâ aus Mali hat einmal gesagt: "Wenn in Afrika ein alter Mensch stirbt, so ist das, als wenn eine Bibliothek verbrennt." Heute droht deshalb in Afrika die Erin­nerung an das vorkoloniale Erbe in weiten Teilen verloren zu gehen.

Das hat dramatische Folgen für das Selbstverständnis der Menschen, sie verlieren den Zugang zu ihren eigenen historischen Wurzeln. Die UNESCO hat diese Gefahr erkannt und unterstützt jetzt Projekte, die helfen sollen, dass mündliche Überlieferungen aufgeschrieben werden. Aber auch Schriftstücke werden schnell zu Altpapier, wenn sich niemand um ihre Bewahrung und Erhaltung kümmert. Hierin liegt die erste und dringlichste Aufgabe von Archiven.

III.

Voraussetzung und Möglichkeit zur Geschichtsschreibung sind aber nicht allein davon abhängig, dass etwas überliefert wird, sondern sie werden natürlich ganz wesentlich davon beeinflusst,wasüberliefert wird. Archivare stellen sich tagtäglich die Frage: "Was soll denn überhaupt aufgehoben und archiviert werden?"

Über 280 Kilometer Akten, über eine Million Landkarten, fast eine Million Kinofilme, elf Millionen Fotographien, 33.000 Tonträger und 5.000 Datenträger und weiteres Bibliotheksgut macht das Bundesarchiv zugänglich. Allein die Akten erstrecken sich auf eine Länge von Berlin bis Hannover.

Dabei bewahrt das Bundesarchiv nur einen Bruchteil des Materials auf, das ihm die Bundesbehörden überlassen. Auch im Zeitalter von Internet und Email wird so unglaublich viel Schriftgut produziert, dass nur eine strenge Auswahl das Bundesarchiv vor dem Ertrinken in Papier retten kann. Ganze fünf bis zehn Prozent werden dauerhaft archiviert.

Daher stehen die Mitarbeiter vor der schwierigen Aufgabe, sinnvoll auszuwählen und nur die Dokumente zu erhalten, die für die Nachwelt von besonderem Interesse sein werden.

Was aber ist für die Nachwelt von besonderem Interesse? Das ist eine Frage von großer poli­tischer Bedeutung. Orwell entwirft in seinem 1948 geschriebenen Roman "1984" das Szenario einer allmächtigen Diktatur, die die Menschen ihrer Geschichte und damit auch der Möglichkeit einer historischen Alternative beraubt. Das ist für uns alle eine erschreckende Vorstellung, für Sie als Archivare natürlich besonders. Sie zeigt, welche Verantwortung Archivare bei ihrer Arbeit haben.

Was also soll überliefert werden? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Ich glaube aber, dass ich mich nicht zu weit vorwage, wenn ich sage, dass die Archivare heute vor umfassenderen Herausforderungen stehen als ihre Kollegen in früherer Zeit. Archive müssen ihre Arbeit, das Bewahren und das Erinnern, auf die Gesellschaft ausrichten und dürfen sich nicht damit begnügen, ein "backup" administrativer Prozesse zu sein.

Hans Booms, der frühere Präsident des Bundesarchivs, hat schon 1972 gesagt: "Zweck und Ziel einer archivarischen Überlieferungsbildung kann [...] nur eine gesamtgesellschaftliche Dokumentation des öffentlichen Lebens in allen Interessens- und Bindungsgemeinschaften sein." Ich glaube er hat recht. Dieser Aufgabe kann das Bundesarchiv freilich nicht allein ge­recht werden.

Wir haben in Deutschland neben den Archiven des Bundes und der Länder Archive der Parteien und der parteinahen Stiftungen, vor allem aber haben wir eine große Zahl von Archiven privater Stiftungen und Wirtschaftsunternehmen. Was in diesen Archiven gesam­melt wird, richtet sich nach den jeweiligen spezifischen Interessen. All diese Archive sollten bei der Frage, was überliefert werden soll, eng zusammenarbeiten. Das Bundesarchiv könnte dabei möglicherweise so etwas wie eine Moderatorenrolle übernehmen.

IV.

Die Geschichte, meine Damen und Herren, ist nicht identisch mit der Vergangenheit. Sie ist auch nicht identisch mit dem überlieferten Material. Die Geschichte hilft uns, unsere Gegenwart zu verstehen, sie ist aber selber das Produkt der jeweiligen Geschichtsbetrachtung. Hinter den Überlieferungen stehen menschliches Denken, Wollen und Handeln, die in der historischen Beschäftigung nachvollzogen werden müssen - das meint das Wortverstehen. Solches Nachvollziehen und solches Verstehen ist nicht möglich ohne eigenen Standpunkt. Die Überlieferungen müssen gedeutet und gewertet werden. Hans-Georg Gadamer bezeichnet das historische Verstehen deshalb als ein Gespräch zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Dieses Gespräch findet keinen Abschluss. Das macht es so wichtig, dass wir uns immer wieder von Neuem mit den Überlieferungen beschäftigen. Die Archive müssen die Quellen unverfälscht erhalten, damit spätere Generationen das überlieferte Geschichtsbild anhand der Quellen prüfen können, und damit sie das Gespräch mit der Vergangenheit selber und vielleicht neu führen.

Wir sind aufgefordert, aus der Geschichte zu lernen. Das gilt ganz allgemein, in Deutschland gilt es aber besonders für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Die Beschäftigung mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte ist heute genauso wichtig, wie sie es vor fünfzig Jahren war. Unsere Vergangenheit verpflichtet uns besonders, für Freiheit und Menschlichkeit einzutreten. Es kann und es darf keinen Schlussstrich geben. Ich denke, dass Herr Professor Winkler seinen heutigen Festvortrag nicht zufällig der Machtergreifung Hitlers widmet.

Erinnerungen sind der Quell einesmenschlichenUmgangs miteinander. Das Bundesarchiv leistet dadurch, dass es eine Fülle von Dokumenten erhält und der Forschung zur Verfügung stellt, einen wichtigen Beitrag dazu, die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu verstehen. Es führt auch selber Veranstaltungen durch und zeigt eigene und fremde Ausstellungen. Das ist gute politische Bildungsarbeit, über die ich mich sehr freue.

V.

Meine Damen und Herren, wenn wir in diesen Tagen vor dem Fernseher sitzen und wir unseren Kickern auf der anderen Seite der Welt die Daumen halten, dann gehöre ich zu denen, die froh darüber sind, vom Kommentator immer wieder die Namen unserer Spieler genannt zu bekommen. Es ist es nicht mehr selbstverständlich, die Spieler allein an ihrer Rückennummer zu erkennen. Zu häufig gibt es neue Gesichter, zu oft verschwinden Talente von heute morgen schon wieder in der medialen Versenkung. Unsere Zeit wird immer schneller, nicht nur im Fußball.

Die technologischen Entwicklungen sind so rasant, dass der neueste Computer eigentlich schon veraltet ist, wenn er in die Läden kommt, weil die neue Generation bereits in Produktion geht. Alles erfährt eine Beschleunigung. Auch wir selber bewegen uns schneller zwischen verschiedenen Orten und manchmal auch zwischen unterschiedlichen Welten hin und her. Und wir tauschen Informationen praktisch ohne jeden Zeitverzug aus - weltweit.

Bei dem Tempo, mit dem wir heute immer wieder neue Informationen geliefert bekommen und aufnehmen müssen, verlieren wir leicht den Halt. Es besteht die Gefahr, dass wir uns in einem Meer von Informationen bewegen, dass wir aber nirgendwo mehr einen Anker werfen können.

Dagegen müssen uns auch die Archive wappnen. Ihr Einsatz für das Aufbewahren von Dokumenten, die es möglich machen, den Kontext und die Entstehungsgeschichte eines Sachverhaltes nachzuvollziehen, und ihr Kampf gegen den Verfall des Materials, sei es Papier, seien es Filme oder auch elektronische Daten, können helfen, dass es in dem bewegten und an Untiefen reichen Meer der Informationen Inseln und Kontinente gesicherten Wissens gibt, damit wir nicht den Boden unter den Füßen verlieren.

Ich wünsche Ihnen, Herr Professor Weber, und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs, dass Sie viele solche Ankerplätze schaffen. Alles Gute.