Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau bei der Verleihung des Deutschen Afrika-Preises 2002

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 6. Juni 2002

I.

Ich gratuliere Ihnen, Herr Otunnu, ganz herzlich zur Auszeichnung mit dem Deutschen Afrikapreis des Jahres 2002. Wir ehren mit Ihnen eine Persönlichkeit, die das Licht der Hoffnung zu Menschen getragen hat, die in tiefer Finsternis leben.

An dieser Stelle möchte ich sagen, wie sehr ich mich darüber freue, dass der erste Preisträger, Herr Agboyibo aus Togo, wieder in Freiheit ist. Sie, Frau Staatssekretärin Dr. Eid und Herr Prof. Hornhues haben sich für die Freilassung eingesetzt. Dafür möchte ich Ihnen danken.

II.

Als ich mich auf die heutige Veranstaltung vorbereitet habe, habe ich in einem Bericht von Ihnen, Herr Otunnu, Zahlen gelesen, die mich erschüttert haben.Sie haben vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York darauf hingewiesen, dass im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zwei Millionen Kinder im Verlauf bewaffneter Konflikte getötet wurden. Eine Million Kinder wurden zu Waisen, sechs Millionen haben schwere und dauerhafte Verletzungen erlitten, zwölf Millionen haben ihr Zuhause verloren. Immer noch sterben jeden Monat 800 Kinder durch Minen oder werden verstümmelt.300.000 Mädchen und Jungen unter achtzehn Jahren werden gezwungen, in staatlichen Armeen und in Rebellenformationen zu dienen. Häufig sind diese Kinder entführt worden. Zahlen sind abstrakt. Aber wenn man wie ich erlebt hat, dass die eigene Frau nach Sierra Leone gefahren ist und berichtet - dann werden die Zahlen auf schreckliche Weise lebendig. Versuche der Kinder zu fliehen führen nicht selten zum Tode.In Ihrem Amt mussten Sie Länder und Orte aufsuchen, wo Menschen anderen Menschen die Hölle auf Erden bereitet haben: Ruanda, Burundi, Sudan, Kosovo und Sierra Leone.Ich frage mich, Herr Otunnu: Woraus schöpfen Sie die Kraft für Ihre diese außerordentliche Tätigkeit? Was treibt Sie an, weiter zu machen und nicht zu resignieren und nicht in Ihre früheren Berufe als akademischer Lehrer oder als Anwalt zurückzukehren? Sie hätten es dort viel einfacher.Sehr geehrter Herr Otunnu, wollte man nach einem Leitmotiv für Ihr Wirken suchen, so müsste man sagen, dass Sie, wenn ich es richtig verstehe, aus eigener, leidvoller Erfahrung heraus den Schwächsten unter uns Ihre Stimme verleihen wollen, denen, die sonst nicht gehört würden.Viele der Probleme, für die Sie nach Lösungen suchen, haben Sie am eigenen Leibe erlebt. Das gilt vor allem für Ihre grundlegenden und weiterführenden Arbeiten zur Konflikt-vorbeugung. Deren Ausgangspunkt waren Ihre eigenen, schlimmen Erfahrungen. Sie haben im Norden Ugandas gelebt, haben unter der Schreckensherrschaft Idi Amins gelitten, waren schon als junger Student aktiv im Widerstand, um später als Generalsekretär der "Uganda Freedom Union" eine führende Rolle im Kampf gegen den Diktator zu übernehmen.Nach dem Sturz Idi Amins gehörten Sie der Übergangsregierung an. Von 1980 bis 1985 dienten Sie als Botschafter Ihres Landes bei den Vereinten Nationen. In dieser Zeit über-nahmen Sie wichtige Ämter: Sie wurden Präsident des Sicherheitsrates, Vorsitzender der Menschenrechtskommission, Vizepräsident der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Ihren weiteren, beeindruckenden Lebensweg hat mein Vorredner schon gewürdigt.

III.

Sie sind ein Verfechter der universellen Gültigkeit und Durchsetzung der Menschenrechte. Dabei treten Sie jedoch dafür ein, dass die internationalen Normen nicht wie Zwangsjacken ohne Rücksicht auf die jeweils besondere regionale Situation angewandt werden. Sie, Herr Otunnu, sprechen von zwei Säulen. Die internationalen Normen müssten notwendigerweise um Werte ergänzt werden, die in der "Heimaterde verwurzelt sind". So haben Sie das formuliert. Sie wollen die in lange währenden Konflikten häufig verschütteten traditionellen Mechanismen zur Lösung von Konflikten wiederbeleben, damit Menschen sich versöhnen.. Das verdient unsere Unterstützung. Dieser praktische Ansatz wird es leichter machen, regionale und ethnische Konflikte zu befrieden.

IV.

Seit Ihrer Ernennung im September 1997 zum Sonderbeauftragten für Kinder und bewaffnete Konflikte haben Sie als Anwalt der Kinder viel erreicht. Sie haben es geschafft, dass das Thema "Kinder im Krieg" auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen gekommen ist. Sie haben mitgeholfen, dass der Sicherheitsrat drei wegweisende Resolutionen verabschiedet hat, die Kinder in bewaffneten Konflikten besser schützen sollen.Ihr größter Erfolg ist das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention, das im Februar dieses Jahres in Kraft getreten ist. Es verbietet die Rekrutierung von Kindern unter achtzehn Jahren durch staatliche und durch nichtstaatliche Streitkräfte. Die Staaten werden verpflichtet, dafür zu sorgen, dass junge Menschen unter achtzehn Jahren nicht an Kampfeinsätzen teilnehmen. Das Mindestalter für den freiwilligen Eintritt in Streitkräfte wird auf sechzehn Jahre festgelegt. Das sind wichtige Fortschritte, aber sie dürfen noch nicht das Ende unserer Bemühungen sein. Zusammen mit UNICEF drängen Sie darauf, dass Angehörige von Streitkräften mindestens achtzehn Jahre alt sein müssen. Wir wollen Sie bei diesem Ziel unterstützen.Nun geht es darum, dass diese und andere Normen zum Schutz der Kinder auch mit Leben erfüllt werden. Sie wollen das zum Schwerpunkt Ihrer künftigen Aufgaben machen.

V.

Was mich an Ihnen besonders beeindruckt, das ist Ihr ganz handfestes Engagement. Sie sind nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch ein Mann der Tat. Ihrem Einsatz ist es zu danken, dass die kämpfenden Parteien während des Kongo-Konfliktes zu einem Waffenstillstand bewegt werden konnten. Ich weiß, wie viele sich vergeblich darum bemüht haben. Dadurch konnten UNICEF und die Weltgesundheits-organisation die lange überfällige Impfkampagne zur Ausrottung von Polio durchführen. Sie handeln aber auch in Ihrem ganz persönlichen Bereich: Sie haben sechs Kinder bei sich aufgenommen, die während des Bürgerkriegs in Ihrem Lande ihre Eltern verloren hatten.

VI.

Meine Damen und Herren, ich bin heute besonders froh darüber, dass diese Preisverleihung in Anwesenheit des Präsidenten von Ghana, von Herrn John Kufuor, stattfindet. Wir danken Ihnen, Herr Präsident, dass Sie nach Deutschland gekommen sind.Ihre Wahl vor anderthalb Jahren hat wie wenige andere Ereignisse die "Wiedergeburt Afrikas" symbolisiert. Sie wurden als Kandidat der Opposition in das Amt des Präsidenten gewählt. Die Regierungspartei hat die Niederlage akzeptiert; schon Ihr Amtsvorgänger hatte sich nicht mehr zur Wahl gestellt, weil die Verfassung eine weitere Amtszeit nicht gestattete.

VII.

Ihr Land steht aber auch wie kaum ein anderes für das Auf und Ab der Entwicklung Afrikas in den vergangenen vierzig Jahren. Ghana wurde 1957 als erste Kolonie südlich der Sahara ein eigener Staat. Seine Geschichte ist geprägt vom euphorischen Aufbruch als Vorreiter der antikolonialistischen Bewegung und vom anschließenden, lang anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang mit heftigen politischen Krisen und Umbrüchen. Heute ist Ghana wieder eine Demokratie: Stabil im Inneren, trägt Ghana zur Stabilisierung in ganz Westafrika bei.Wie in Ghana so haben sich mit den neuen Staaten in Afrika insgesamt große Hoffnungen und Erwartungen verbunden. Viele davon haben sich nicht erfüllt. Trotz aller Anstrengungen gehören die Völker Afrikas noch zu den ärmsten der Welt, ja, die Armut hat vielerorts noch zugenommen.Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes hatten die Menschen weltweit gehofft, dass ein Zeitalter des Friedens beginnen würde. Diese Hoffnungen haben sich leider nicht erfüllt. Neue Konflikte sind ausgebrochen, besonders viele auf dem afrikanischen Kontinent. Unter den Kriegen an den großen Seen, in Sierra Leone und in Liberia, in Angola und in Mosambik haben Millionen Menschen gelitten und viele leiden noch heute.Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes schien Afrika zudem seine strategische Bedeutung verloren zu haben. Das politische Interesse wandte sich anderen internationalen Brennpunkten zu. Im vergangenen Jahrzehnt haben die Länder des Nordens ihre politische und moralische Pflicht zur Unterstützung Afrikas wahrlich nicht so wahrgenommen, wie das richtig gewesen wäre. Am deutlichsten wurde das im Falle des Völkermordes in Ruanda. Wir müssen daraus die Lehren ziehen, uns in Zukunft stärker und früher zu engagieren.

VIII.

Aber es sind auch Zeichen für eine Wende zum Besseren in Sicht. In Sierra Leone, in Burundi und in Angola gibt es Anzeichen dafür, dass die schlimmen Konflikte bald der Vergangenheit angehören und einer friedlichen Zukunft weichen könnten.Ich selber habe bei meinen Besuchen in Südafrika und Mali im Januar dieses Jahres gesehen, dass es große Chancen gibt und dass Voraussetzungen für positive Entwicklungen da sind. Südafrika ist mit einem Erfolg, der viele überrascht hat, dabei, das schwierige Erbe des Apartheidregimes zu bewältigen. In Mali hat ein demokratischer Wechsel im Amt des Präsidenten stattgefunden. Ein ethnisch geprägter Konflikt im Norden des Landes konnte beigelegt werden. Wo früher die Waffen herrschten, arbeiten die Menschen heute zusammen und legen gemeinsam die wirtschaftliche Grundlage für einen hoffentlich dauerhaften Frieden. Ich freue mich darüber, dass das von Anfang an mit deutscher Beteiligung und Unterstützung geschieht.Afrika ist nicht länger nur der Kontinent der Krisen und Katastrophen. Man kann heute wieder mit beginnendem Optimismus sprechen, wenn von Afrika und seiner Zukunft die Rede ist. Das ist ein Verdienst, das in erster Linie einer neuen Generation reformorientierter afrikanischer Politiker gebührt. Mit der "Neuen Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas" zeigen sich Anzeichen eines neuen Denkens, das zu einer neuen Dynamik führen kann, wenn wir im Norden der einen Welt nur richtig darauf reagieren. Ein Afrika, in dem Recht, Demokratie und Menschenrechte herrschen und weiter gestärkt und ausgebaut werden, ein Afrika, das sich wirtschaftlich günstig entwickelt, das muss keine unerfüllbare Hoffnung, das muss kein schöner Traum bleiben.Mit der Kölner Entschuldungsinitiative, mit der Initiative "Alles außer Waffen" und mit dem Afrika-Aktionsplan der Staaten der G 8, der in wenigen Tagen in Kanada verabschiedet werden soll, haben die Länder des Nordens ihre Bereitschaft gezeigt, zentrale Anliegen dieser neuen Initiative aufzugreifen. Ich glaube, dass sich Konturen einer gemeinsamen, partner-schaftlichen Politik der Solidarität und der Selbstverantwortung abzeichnen.

IX.

Wir sind aber keineswegs über den Berg. Die Liste der Probleme ist noch lang. Da nenne ich Simbabwe, aber auch die Demokratische Republik Kongo. Die Menschen dort werden nach wie vor um ihre Lebenschancen gebracht und des Reichtums ihres Landes beraubt. Die Naturschätze und die wertvollen Rohstoffe werden weiter geplündert. Diese Raubzüge organisieren politische und militärische Führer. Daran beteiligen sich aber auch Firmen und Geschäftsleute aus den Industriestaaten.Dazu kommen weitere Probleme: AIDS, Malaria und Tuberkulose sind Seuchen, die eine ganze Generation hinwegraffen könnten. Das Beispiel AIDS zeigt auch das Janusköpfige der gegenwärtigen Situation. Es gibt Politiker, die sich scheuen, Aufklärung zu betreiben und die Krankheit wirksam zu bekämpfen. Es gibt aber, wie ich es in Mali erlebt habe, auch Politiker, die dieses Übel bei der Wurzel packen wollen. Dort hat die Zusammenarbeit zwischen einem großen deutschen pharmazeutischen Konzern und dem Gesundheitsministerium des Landes vielversprechend begonnen.Auch wir in Deutschland und in Europa müssen und können noch mehr tun. Die Staaten Afrikas insgesamt sind nur mit 2,6 Prozent am gesamten Außenhandel der Europäischen Union beteiligt. Nimmt man ein Land wie Ghana, so ist der Anteil gerade einmal 0,4 Prozent. Die Zahl für Deutschlands Handel mit Ghana ist noch geringer: 0,05 Prozent. Wir müssen unsere Märkte weiter öffnen, schrittweise für alle Produkte der Länder Afrikas. Afrikanische Unternehmen brauchen faire Chancen, wirklich wettbewerbsfähig zu werden.Solidarität heißt auch mehr Geld für die Entwicklung. Der Beschluss, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden, stammt aus dem Jahre 1970. Er ist 32 Jahre alt geworden, ohne dass er verwirklicht wurde. Hier muss sich etwas ändern.

X.

Noch in diesem Monat werden die Präsidenten von Nigeria und aus Namibia in Berlin erwartet. Der Besuch von drei Staatspräsidenten zeugt davon, dass Afrika zurzeit Hochkonjunktur hat. Wir alle, die wir hier versammelt sind, freuen uns darüber. Sie, Afrikas kleine, aber verschworene und glaubensstarke Gemeinde, haben darauf hingearbeitet. Ich hoffe, dass das so bleibt und dass nicht auf dieses Hoch in der Afrikakonjunktur ein Tief folgt und wir in zehn oder zwanzig Jahren erneut geloben, es diesmal aber richtig und besser zu machen.Dass Afrika wiederentdeckt wurde, daran sind Sie, Herr Professor Hornhues, und Ihre Stiftung nicht ganz unbeteiligt. Ich möchte Ihnen ganz herzlich danken für Ihre unermüdliche Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten. Ich bedauere sehr, dass Sie sich entschieden haben, nicht mehr für den Deutschen Bundestag zu kandidieren. Ich sage das als Bundespräsident, der zwar nicht über den, aber jenseits der Parteien steht. Mit Ihnen verliert Afrika eine gewichtige Stimme im Deutschen Parlament. Afrika braucht mehr Stimmen - auch dort. Ich glaube, Sie werden dem nicht widersprechen.Nun freue ich mich darauf, Ihnen, sehr geehrter Herr Untergeneralsekretär Otunnu, den Afrikapreis übergeben zu können: ein Mann, der würdig ist, den Preis zu bekommen, und dem wir danken.