Grußwort beim Empfang für die Teilnehmer der Sommerakademie des Geschichtsnetzwerkes EUSTORY

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 19. August 2002

I.

Herzlich Willkommen hier im Schloss Bellevue!

Der amerikanische Schriftsteller William Faulkner, der viele Bücher geschrieben hat, in denen es um die Macht der Vergangenheit über die Gegenwart geht, hat einmal ge­sagt: "Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen."

Das gilt für uns alle. Unser Denken und Handeln wird immer auch bestimmt von Vorstellungen, die wir mitgebracht haben, von Bräuchen, Veranlagungen, von der Erb­schaft, die wir antreten, persönlich und als Teil einer Gesellschaft, materiell und geistig. In diesem Sinne ist Vergangenheit vor allem die Geschichte des Volkes, dem man selber angehört; die Geschichte der eigenen Familie und die eigene Biographie.

Die Vergangenheit bestimmt unsere Gegenwart noch auf andere Weise mit: Sie wird erzählt und niedergeschrieben, sie wird zu Geschichte, und auch diese Geschichts­erzählungen und Geschichtsbilder wirken mächtig auf die Gegenwart und auf die Zukunft ein. Sie dienen der Rechtfertigung des Bestehenden oder der Veränderung, und da liegt immer auch die Versuchung nahe, Geschichte zu instrumentalisieren.

Darum ist für das geistige Klima jeder Demokratie eine Geschichtsforschung unverzichtbar, die sich der historischen Wahrheit und den Werten der Demokratie verpflichtet weiß. Zugleich ist sie eine unverzichtbare Bedingung für den dauerhaften Erfolg, denn sie hilft, Lehren aus der Geschichte wach zu halten und sie hilft Geschichtsklitterung vorzubeugen

II.

Darum gibt es viele gute Gründe, warum schon junge Leute sich für die Vergangenheit und für Geschichte interessieren sollten. Ich möchte drei davon nennen:

1. Wer sich mit der Geschichte seiner Heimatstadt, seiner Region oder seines Landes beschäftigt, lernt spannende Geschichten kennen und erfährt viel über sich selber. Das schult das Urteilsvermögen auch für aktuelle Probleme.

2. Wer erkennt, wie mit Geschichte Politik gemacht wird und wie gelegentlich auch historische Fakten zurechtgebogen werden, damit sie ins Bild passen, der kann solche Manipulationen leichter erkennen und er kann ein Gespür dafür entwickeln, ob er aufs Glatteis geführt werden soll.

3. Auch das zeigt ein aufrichtiges Suchen nach der historischen Wahrheit: Man kann sie nicht von einer Seite allein aus finden, sondern ihr vollständiges Bild erscheint nur dem, der unterschiedliche Blickwinkel berücksichtigt. Deshalb muss man allen Beteiligten zuhören, man muss ihre unterschiedlichen Standpunkte kennen; man sollte ins Gespräch mit anderen kommen, die sich für auch für Geschichte interessieren.

III.

Für alle jungen Leute, die sich so mit Geschichte beschäftigen, ist Eustory wie maß­geschneidert. Es eröffnet die ganze Vielfalt dessen, was Vergangenheit und Geschichte ausmacht, das zeigen schon die Themen der nationalen Wettbewerbe. Dabei geht es um Regional- und Familiengeschichte, um die Geschichte der Technik, um Kultur­geschichte und manchmal auch um die große Politik.

Zugleich bietet Eustory ein Forum für den europaweiten Dialog: Die Sommer­akademien sind eine glänzende Gelegenheit, die eigenen Forschungsmethoden und Forschungsergebnisse mit anderen zu vergleichen und sich gemeinsam Themen zu widmen, für die man besonders den Gedankenaustausch über Ländergrenzen hinweg braucht.

So hilft das Geschichtsnetzwerk Eustory, das Denken in europäischen Zusammen­hängen und das Bewusstsein für die europäische Identität zu lernen und zu fördern. Das ist wichtig, denn wir Europäer gehören zusammen, und das sollten gerade Sie demonstrieren.

IV.

Ich fühle mich Eustory und der Körber-Stiftung besonders verbunden. Seit Jahr­zehnten, seit den Zeiten Gustav Heinemanns, veranstaltet die Stiftung den "Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten". Mich beeindrucken immer wieder die vorzüglichen Arbeiten, die bei diesem Geschichtswettbewerb eingereicht werden. Auch in diesem Jahr haben wir ein anspruchsvolles Wettbewerbsthema gefunden. Diesmal lautet das Thema: "Weggehen - ankommen. Migration in der Geschichte". Ich glaube, dass wir da mit vielen spannenden Beiträgen rechnen können. Die deutsche Geschichte und die Geschichte der meisten europäischen Staaten ist ja eine Geschichte vom Weggehen und Ankommen und von all den Problemen und Chancen, die das beides mit sich bringt.

Darüber hinaus hat die Körber-Stiftung auch noch einen Sonderwettbewerb ausgeschrieben. Er gilt der Geschichte des 17. Juni 1953. Damals war Deutschland geteilt, und im östlichen Teil, in der DDR, gab es einen Volksaufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Im nächsten Jahr ist der fünfzigste Jahrestag des Aufstands. Gewiss werden die Wettbewerbsbeiträge eindrucksvoll zeigen, wie der 17. Juni das Leben vieler Menschen verändert hat.

V.

In Deutschland spricht man oft vom "mündigen Bürger". So wird jemand beschrieben, der über politische und gesellschaftliche Fragen sachverständig urteilt und sich für das Gemeinwesen engagiert. Die Frage ist nur: Wo kriegt man solche mündigen Bürger her, welches Zauberwort ruft sie herbei?

Ich glaube nicht, dass es solch ein Zauberwort gibt. Die beste Schule für mündige Bürger ist eine gründliche Beschäftigung mit der Geschichte.

Sie, die Teilnehmer des Eustory Wettbewerbs, haben in dieser Schule der Mündigkeit große Erfolge erzielt. Ich freue mich darüber, dass wir uns heute kennen lernen. Ich wünsche Ihnen eine erlebnisreiche, anregende und lehrreiche Woche in Berlin. Seien Sie alle noch einmal herzlich willkommen!