Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum Jahrestag der Deutschen Einheit im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 3. Oktober 2002

Unsere Feierstunde hat sich schon gelohnt, hochansehnliche Festversammlung, wenn wir in Herz und Seele und Gedanken behalten, was die Kinder von den Europa-Schulen uns gerade gesagt haben. So lebensfroh, so praktisch, so hoffnungsvoll und zuversichtlich - so möchten wir alle sein und bleiben.

Auch ich möchte Ihnen zunächst von einigen Kindern erzählen. Ich habe gestern von ihnen in der Zeitung gelesen.

Ein zwölfjähriger Junge aus Berlin-Friedrichshain wurde gefragt, was ihm zur Teilung Deutschlands einfalle. Er sagt, dass man in der DDR nicht verreisen durfte, dass es im Osten weniger Luxus gab und im Westen bessere Autos. Ihm ist aufgefallen, dass seine Eltern neuerdings wieder gerne Ost-Schokolade kaufen.

Ein zwölfjähriges Mädchen aus Berlin-Spandau berichtet, dass niemand in der Schule von Ossis und Wessis spreche. Es sei doch auch egal, woher ihre Freundinnen kämen. Und dann kritisiert sie noch, dass wir nur den 3. Oktober feiern, nicht aber den Tag des Mauerfalls. Das ließe sich aber leicht in Ordnung bringen, meint sie. Ein Tag schulfrei am 9. November würde schon reichen.

So einfach kann eine Bilanz nach zwölf Jahren der deutschen Einheit also aussehen. Ich finde es ermutigend, wie unbefangen Kinder mit diesem Thema umgehen. Sie empfinden die Einheit unseres Landes als selbstverständlich.

Am 9. November 1989 hatten sich die ersten Grenzübergänge zwischen West- und Ostberlin geöffnet. Begeisterte Menschen hatten sie gestürmt. Dem vorausgegangen waren Kerzen und Friedensgebete, Montagsdemonstrationen und wachsender Unmut. Zehntausende nahmen sich die vom Staat verwehrte Reisefreiheit selber. Der Fall der Mauer, das war die sichtbarste und die spürbarste von all den Veränderungen, die in diesem Jahre 1989 in Mittel- und Osteuropa stattfanden - für viele war es die am meisten erhoffte und zugleich die am wenigsten erwartete Veränderung. Dieser Umbruch bleibt für immer auch mit dem Namen Michail Gorbatschows verbunden.

Wir sind froh darüber, dass wir die unnatürliche und willkürliche Teilung überwunden haben, die über Jahrzehnte lang unendlich viele Menschen und Familien schmerzhaft voneinander getrennt hatte. Wir sind froh darüber, dass wir heute ungehindert von Magdeburg nach Hamburg, von Hof nach Meißen, von Dessau nach Düsseldorf fahren können. Und in Berlin, wo zwei hochgerüstete Blöcke einander unmittelbar gegenüberstanden, da können wir heute die Heinrich-Heine-Straße oder die Bornholmer Straße oder den Checkpoint Charlie mit einem Kurzstreckenfahrschein passieren - Namen, die früher für den Übergang von einer Welt in eine andere standen. Für wie viele Menschen verband sich der Bahnhof Friedrichstraße mit Angst und Tränen, mit Demütigung und Misstrauen.

Vieles, was lange Zeit unvorstellbar schien, ist uns in Deutschland zur Normalität geworden - und zwar viel schneller, als wir alle das erhofft hatten.

Der Weg vom geteilten Land bis zur Einheit der Deutschen ist eine Langstrecke. Dass die Ideale von Demokratie und Freiheit sich endlich durchgesetzt haben, das verdanken wir den Bürgerinnen und Bürgern im Osten, aber wahrlich auch unseren Freunden und Verbündeten. Das werden wir ihnen nicht vergessen. In den Jahren bis zur Einheit haben sie ganz unmittelbare Hilfe geleistet: es ging um Versorgung und um Schutz. Zugleich war es jahrelang darum gegangen, praktische Erleichterungen für die Menschen vertraglich zu regeln.

Gerade hier in Berlin ging es aber auch darum, den Menschen Mut zu machen und ihnen die Zuversicht darauf zu erhalten, dass Teilung und Mauer nicht auf ewig bestehen würden. Wer könnte die großen Reden John F. Kennedys hier in Berlin vergessen - vor dem Schöneberger Rathaus und in der Freien Universität, als er über die Ideale von Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit sprach, die Amerika verteidigen wolle, damit Deutschland seine Einheit wieder gewinnen könne! Für diese Ideale wollen wir auch in Zukunft gemeinsam eintreten.

George Bush hat den Weg der Deutschen zur staatlichen Einheit aus ganzem Herzen gewollt und mit Erfolg unterstützt. Wir bleiben unseren Freunden in der Welt für ihre Hilfe und Unterstützung dankbar. Ich bin sicher, dass Präsident Clinton, der heute und morgen bei uns in Berlin sein wird, das den Menschen in seinem Land sagen wird. Wir Deutschen sind uns nicht selbst genug, wir bringen unseren Standpunkt ein und leisten unseren Beitrag. Wir stehen zu unserer Verantwortung und zu unseren Verpflichtungen.

Der Tag der deutschen Einheit ist unser nationaler Feiertag. Was feiern wir wirklich an diesem Tag? Manche tun sich schwer mit Begriffen wie Nation oder nationale Einheit. Die Einheit selber zu feiern - das geht nur deshalb und das ist nur deshalb richtig, weil die Einheit zugleich auch die Freiheit gebracht hat. Deutsche Einheit ohne Freiheit, das wäre wahrlich kein Grund zum Feiern.

Als Günter de Bruyn sich am 24. Mai diesen Jahres für den Deutschen Nationalpreis bedankte, hat er gesagt: "Mir, der ich die DDR durchlebt habe, fällt die Überwindung der unangenehmen Gefühle, die uns bei Betonung des Nationalen beschleichen, möglicherweise leichter als einem Altbundesbürger, weil nämlich in diesen vierzig unfreien Jahren jede Hoffnung auf Freiheit mit der auf nationale Einheit verbunden war."

Eines Tages - vielleicht in Jahren, vielleicht erst in Jahrzehnten - wird uns hoffentlich die deutsche Einheit so selbstverständlich sein, dass es uns merkwürdig vorkommen mag, sie eigens zu feiern. Dann sollten wir darüber aber nicht in deutscher Tiefsinnigkeit räsonieren, sondern den Tag einfach so festlich und fröhlich begehen wie die Niederländer den Königinnentag, die Franzosen den 14. Juli oder wie die Amerikaner den Unabhängigkeitstag. Immer wieder aber wird die Erinnerung daran wach bleiben, dass es 1989 und 1990 zuerst und zuletzt um die Freiheit für alle Deutschen ging. Dann müssen wir daran erinnern, dass es eben diese Freiheit ist, die uns allen mit der Einheit wieder geschenkt wurde. Und dass die Ursache der Teilung darin bestand, dass Deutschland zuvor in Krieg und Diktatur die Freiheit aller Deutschen selber verspielt hatte.

Hans Mayer, der große Intellektuelle, der in den sechziger Jahren aus Leipzig nach Hannover und Tübingen vertrieben worden ist, hat einmal das "deutsche Selbstempfinden", wie er es genannt hat, gewarnt vor der "Verachtung der eigenen Herkunft, Landschaft und Überlieferung". Hans Mayer, der jeglicher Art von Nationalismus unverdächtig war, prangerte eine "entschiedene Geschichtsfeindlichkeit" an, die er sogar für "eigentümlich deutsch" hielt.

Geschichtsfeindlichkeit - das ist ein vielleicht zu hartes Wort. Es gibt aber eine Geschichtsvergessenheit, die tatsächlich schädlich ist, schädlich für unser eigenes Selbstverständnis. Wir sind ja nicht nur von heute. Wir kommen von weit her. Unsere Geschichte bestimmt unsere Regionen und Städte, unsere Bewegungen und sozialen Gruppen, unser ganzes Land und unsere deutsche Nation.

Manche in unserem Land, ich sprach davon, empfinden eher Unbehagen, wenn sie das Wort "Nation" hören oder wenn von unserer "nationalen Geschichte" die Rede ist. Ich kann das verstehen. Dafür gibt es in unserer deutschen Geschichte wahrlich viele Gründe. Darum ist es für uns so besonders wichtig, dass wir den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus machen. Nationalisten verachten die Vaterländer aller anderen. Patrioten lieben ihr Vaterland und verstehen deshalb gut, wenn andere das ihre lieben.

Wenn wir diesen Unterschied verstehen - und auf ihm bestehen, dann können wir uns auf unsere nationale Geschichte als eine der Quellen unserer Identität besinnen. Dann können wir die eigene Herkunft, Landschaft und Überlieferung als unser Erbe annehmen und pflegen. Dazu gehören auch unsere Feiertage.

Feiertage sind Tage der Freude und Tage der Erinnerung. Bei denen, die am 3. Oktober 1990 unmittelbar dabei waren - und mindestens am Fernseher waren wir ja alle dabei - , kommt die Erinnerung von selber. Wir merken aber langsam - nun im zwölften Jahr der Einheit -, dass auch das große und alle bewegende Ereignis Geschichte wird, eine Geschichte, die man erzählen muss, die man nicht mehr einfach bei jedem als bekannt voraussetzen kann.

Die heute Achtzehnjährigen, die Abitur oder Führerschein machen und jetzt zum ersten Mal wählen durften, haben ihr ganzes politisch bewusstes Leben lang gar nichts anderes erlebt als das vereinte Deutschland. Namen wie Dreilinden oder Marienborn lösen bei ihnen gewiss keine Emotionen mehr aus.

Das sind übrigens Namen, die vor allem für Deutsche aus dem Westen wichtig waren. Im Osten wird bald die erste Generation junger Menschen volljährig, die nicht mehr wissen, wo Karl-Marx-Stadt lag, eine Generation, die den Gruß der Jungen Pioniere nicht mehr kennt und die nicht mehr weiß, aus welchem Lied die Zeile "Deutschland, einig Vaterland" stammt.

Was diese jüngere Generation angeht, so werden wir immer mehr zu gemeinsamer Normalität finden oder auch zu normaler Gemeinsamkeit. Unsere Geschichte wird immer mehr unsere gemeinsame Geschichte. Darauf haben wir gehofft. Das haben wir immer gewollt.

Vergessen wir darüber aber nicht, dass die deutsche Geschichte mehr als vierzig Jahre lang, mindestens bis zum November 1989, aus zwei sehr verschiedenen Geschichten bestand.

Die gegensätzlichen Gesellschaftssysteme haben es zwischen 1949 und 1989 mit sich gebracht, dass die Deutschen in Ost und West ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht und biographisch ganz unterschiedlich geprägt worden sind. Einheitspartei, Planwirtschaft, staatliche Jugendorganisationen, Reisebeschränkungen - aber auch die Verweigerung gegenüber staatlicher Vereinnahmung und der Rückzug ins Private: all das war ja nicht nur Ausdruck eines bestimmten Gesellschaftssystems, all das prägte die Biographien der Menschen bis in Kleinste - auch das, was sie trotz allem als positiv erlebt haben: Gemeinschaftsgefühl und menschliche Wärme, Familiensinn und gute Nachbarschaft.

Genauso haben die großen Einflüsse der westlichen Zivilisation die Deutschen im Westen bis tief in ihren Seelenhaushalt geprägt. Wer alles kaufen kann, was er bezahlen kann, wer fahren kann, wohin er will, sagen darf, was er will, wer wählen darf, wen er will, wer ein Telefon nur zu beantragen braucht und es nach wenigen Wochen bekommt, wer seinen Beruf frei wählen und die Erziehung seiner Kinder selber bestimmen kann, der kann sich in eine Gesellschaft nur schwer hineindenken, in der das den Bürgern verweigert wird.

Gewiss: Wir hatten unsere gemeinsame Sprache und wir haben - zumindest die meisten von uns - daran festgehalten, dass wir zu einer Nation gehören. Nach der wiedergewonnenen Einheit ist uns aber schmerzlich bewusst geworden, wie unterschiedlich unsere Geschichten tatsächlich gewesen sind und wie verschieden wir deshalb geworden waren.

Viele Irritationen, viele Missverständnisse, viele schnelle Urteile über den Anderen stammen aus den unterschiedlichen Geschichten, aus der Unvergleichbarkeit der Geschichten.

Der Gedanke an die deutsche Nation, das Bewusstsein für das, was nach dem Wort Willy Brandts "zusammengehört", war nie ganz verschwunden. Bis heute merken wir aber, was es tatsächlich bedeutet, wenn ein Volk über vierzig Jahre nicht nur durch eine schreckliche Grenze, sondern durch zwei gegensätzliche Gesellschaftssysteme getrennt wird. Der sogenannte reale Sozialismus und die freiheitliche Demokratie haben eben auch unterschiedliche geistige und seelische Daseinsformen geschaffen.

Nach der wiedergewonnenen Einheit sind wir darüber in der ersten Euphorie - die richtig war und die niemand schlecht reden soll - womöglich zu leicht hinweggegangen.

Wie immer sind es die Mühen der Ebene, die uns die meiste Kraft abverlangen. Die Mühen der Ebene, das ist das langsame und geduldige Aufeinanderzugehen. Mit dem richtig gemeinten Wort von der "inneren Einheit" darf kein falsches, unerreichbares Ideal aufgestellt werden.

Die "innere Einheit" zwischen Mecklenburgern und Rheinländern wird vermutlich nie größer sein als es die innere Einheit zwischen Franken und Westfalen je gewesen ist. Wir sollten also gelassen respektieren, dass es bei aller Gemeinsamkeit immer viele Unterschiede geben wird, allein schon landsmannschaftlicher Art.

Darüber dürfen wir die Brüche und die tiefen Unterschiede zwischen Ost und West nicht vernachlässigen, die über vier Jahrzehnte gewachsen sind und die uns geprägt haben. Zum Teil sind sie immer noch wirksam. Das gilt auch für unser Bild von der deutschen Geschichte. Da sind wir mit ganz unterschiedlichen Interpretationen und Sichtweisen aufgewachsen.

Wo im Osten die deutsche Geschichte oft erst mit 1848 oder mit dem Kommunistischen Manifest begann, da kam in den Geschichtsbüchern im Westen die Arbeiterbewegung, wenn überhaupt, dann nur am Rande vor. Das ist nur ein Beispiel für den unterschiedlichen Blick auf die Geschichte. Ähnliches gilt dafür, wie der Zweite Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus dargestellt und wahrgenommen wurden.

Nur weniges wirkt so trennend wie unterschiedliche Geschichtsbilder. Trennend wirkt auch die Unkenntnis der jeweils anderen Geschichte während der Zeit der Teilung. Das führt dazu, dass jemand aus den neuen Ländern sagt: "Jetzt habe ich mein Leben lang in diesem Land, in Deutschland, gelebt - und ich kenne die Gesichter auf den Briefmarken nicht." Und wer im Westen weiß schon, wie der erste deutsche im Weltall hieß?

Unsere unterschiedlichen Erfahrungen haben uns ganz unterschiedlich geprägt. Der Fall der Mauer, die Öffnung der Grenzen, die endlich erreichte staatliche Einheit - das sah von Osten her eben anders aus als von Westen und dennoch war es die bedeutendste gemeinsame Erfahrung aller Deutschen seit dem Krieg und seit der Teilung.

Wer im Osten lebte, für den öffnete sich der Weg in die Einheit als Weg in die Freiheit. Wer im Westen lebte, der konnte sich darüber mitfreuen, aber wohl kaum im Innersten nachempfinden, was das für die Menschen in Gera oder Neubrandenburg bedeutet hat. Und vor allem: sein Leben musste sich längst nicht so radikal ändern.

Wer im Osten lebte, der musste in kürzester Zeit von vielem Abschied nehmen, was ihm vertraut war. Von manchem nahm man sehr gern Abschied, ja man hatte sehnsüchtig darauf gewartet, vieles abschütteln zu können, vieles nicht mehr hören und sehen zu müssen, sich den ungezählten Gängelungen nicht mehr aussetzen zu müssen. Dennoch war es eben in sehr vielem ein völliger Neuanfang.

Für die meisten Menschen aus der DDR war der Neuanfang, den die Einheit brachte, schöner und verheißungsvoller, aber gleichzeitig auch schwerer als für die Menschen im Westen Deutschlands. Ihnen wurde mehr abverlangt: Bildung und Arbeit, Preise und Produkte, Gesundheitssystem und Wirtschaft, Recht und Politik: nahezu jeder Lebensbereich veränderte sich radikal. Und zuerst einmal brach vieles zusammen, zuerst einmal wurde sichtbar, was alles unbrauchbar geworden war für eine neue Zukunft. Manches ist auch nur vorschnell für unbrauchbar erklärt worden. So kamen mit neuen Hoffnungen auch viele Ängste und Enttäuschungen. Zumal, wie man feststellen musste, auch im Westen längst nicht alles Gold war. Darum löst selbst die Einheit, die wir heute gemeinsam erleben und gestalten, in Ost und West ganz unterschiedliche Emotionen, Gefühle und Erinnerungen aus.

Jetzt sollten wir anfangen, die Geschichte der letzten fünfzig Jahre als gemeinsame Geschichte zu erzählen.

Gemeinsame Geschichte entsteht vor allem durch gemeinsam Erlebtes, durch gemeinsam Erkämpftes oder Erlittenes, durch gemeinsam bestandene Herausforderungen. Die deutsche Einheit ist ein großartiges Geschenk, aber sie war und sie ist nicht kostenlos. Der Aufbau Ost ist eine gemeinsame Aufgabe aller Deutschen und der Solidaritätszuschlag, der ja in Ost und West bezahlt wird, macht das hoffentlich deutlich. Wir dürfen in diesen Anstrengungen nicht nachlassen. Sie sind wichtig für uns alle.

Dieser Aufbau Ost hat in den Tagen der Flut im letzten Sommer einen schlimmen Rückschlag erlitten. So vieles, was mit großer Mühe aufgebaut war, was gerade Hoffnungen zu erfüllen begann, was gerade einen Grundstein für die Zukunft gelegt hatte, haben die Fluten eingerissen und weggespült. Manche haben - und zwar in West und Ost - erst angesichts der Zerstörung wirklich gesehen, wie viel in diesen zwölf Jahren entstanden war, was die Menschen schon alles geschafft hatten. Ich habe bei meinen Besuchen in den Katastrophengebieten viel Verzweiflung und Resignation gesehen, aber auch viel Mut und Entschlossenheit, jetzt nicht aufzugeben, sondern trotz allem neu anzufangen.

Mich hat die beispiellose Solidarität bewegt, die wir in diesen Tagen und Wochen in Deutschland gesehen und erlebt haben. Freiwillige aus allen Teilen Deutschlands haben mitgemacht bei den Schutz- und an den Aufräumarbeiten. Die Spenden haben eine nie erwartete Höhe erreicht. Die Flutkatastrophe war eine nationale Herausforderung, eine Herausforderung an alle - und so haben wir sie auch als eine nationale Herausforderung verstanden. Spätestens in diesen schlimmen Tagen hat sich gezeigt: Wir sind ein Volk, wir gehören zusammen, wir können uns aufeinander verlassen. Solche gemeinsamen Erfahrungen, das ist der Anfang von gemeinsamer Geschichte.

Wir brauchen aber gemeinsame Erfahrungen im Alltag, auch jenseits der großen Ereignisse. Immer noch reden viele Menschen von "drüben" und meinen damit den jeweiligen ehemals anderen Teil Deutschlands. Damit das nicht so bleibt, ist es besonders wichtig, dass junge Menschen gemeinsame Erfahrungen machen können. Darum bemühen sich bis heute viele Initiativen. Die haben meine volle Sympathie und meine ganz praktische Unterstützung.

Ich nenne ein Beispiel: Viele Schulen haben Partner in vielen Ländern. Das ist gut. Wir brauchen aber auch Schulpartnerschaften innerhalb Deutschlands. Damit gibt es schon sehr gute Erfahrungen. Bisher kann allerdings nur eine Minderheit von Schülerinnen und Schülern daran teilnehmen. Ich möchte, dass das mehr werden.

Deswegen habe ich vor einem Jahr die Initiative "schulpartnerschaften.de" ins Leben gerufen. Ich freue mich darüber, dass Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker heute Nachmittag dafür ein Benefizkonzert geben werden.

Ein zweites Beispiel: Demnächst beginnt das Projekt "Jugend trifft Jugend". Jugendliche aus West und Ost sollen gemeinsam mithelfen, die Folgen der Flutkatastrophe zu beseitigen, indem sie zum Beispiel Sportanlagen wieder aufbauen.

So kann spontane Hilfsbereitschaft zu dauernder Solidarität werden. Das ist ein wichtiger Schritt, damit unser Land weiter zusammenwächst.

Nicht nur Sportvereine und Schulen, Kirchen und Gewerkschaften, Parteien und Verbände
- viele können dabei helfen, Begegnungen zu vermitteln, Freundschaften zu stiften, Verbindungen und Bindungen herzustellen. Ich wünsche mir sehr, dass möglichst viele junge Menschen aus allen deutschen Ländern sich begegnen.

Ich habe an diesem Feiertag bewusst von zwei konkreten Projekten aus dem Alltag erzählt. Sie sollen Beispiel sein für viele andere. Das Zusammenwachsen ist ja nie zu Ende. Die Einheit wird nicht einfach irgendwann abgeschlossen sein. Sie lebt von dem, was wir uns gemeinsam vornehmen und erreichen. Sie lebt von den Zielen und den Idealen, die wir gemeinsam zu erreichen suchen.

Mit dem Fall der Mauer und mit der staatlichen Einheit hat für uns Deutsche und uns Europäer eine neue Geschichte begonnen: Eine Geschichte, in der aus Hoffnungen Wirklichkeit werden kann. Wir haben uns aus beiden Teilen Deutschlands auf den Weg zur Einheit gemacht. Gemeinsam wollen wir sie gestalten. Dann können wir, ganz gleich, ob wir aus München oder Magdeburg kommen, eines Tages zur ganzen jüngeren deutschen Geschichte sagen - auch zur geteilten Geschichte nach dem Kriege : Das istunsereGeschichte.

Dann wird daraus gemeinsame Zukunft.