Rede von Bundespräsident Johannes Rau in der Nikolaikirche in Leipzig

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 9. Oktober 2002

I.

Ich finde es schön, dass ich auch in diesem Jahr am 9. Oktober zu Ihnen sprechen darf. Nachdrücklich ist mir in Erinnerung, dass ich am 9. November 1989 hier beim Friedensgebet war. An dem Tag, an dem die Mauer fiel. Ich hielt eine Rede über Kunstaustausch zwischen Nordrhein-Westfalen und der DDR und während der Rede wurde mir ein Zettel gereicht. Sie kennen das, wenn man einem Redner einen Zettel reicht. 'Bitte lauter sprechen', oder 'einige gehen schon', oder 'bitte stark betonen, weil Argument schwach'. Was immer da steht. Und auf diesem Zettel stand: Die Mauer ist auf. Ich wusste nicht mehr weiter und ich habe die Rede schnell zu Ende gebracht und bin ans Fernsehen gegangen und habe in Leipzig gesehen, was in Berlin geschah.

Leipzig, eine Stadt, die ich seit meiner Kindheit kenne, ist eine Stadt die immer wieder Geschichte geschrieben hat, eine Stadt, von der große kulturelle Impulse ausgegangen sind. Das ist jenseits unserer Grenzen nicht so geläufig: Vieles, was in Leipzig seinen Ausgang genommen hat, hatte weltweite Auswirkung.

Hier hat Johann Sebastian Bach Musik geschrieben, die die Menschen auf allen Kontinenten bis heute im Innersten bewegt.

Schon im 17. Jahrhundert war Leipzig einer der bedeutendsten europäischen Verlagsorte; die europäische Aufklärung verdankt der Stadt viel.

Die wenigsten wissen: In Leipzig wurde die erste Tageszeitung der Welt gedruckt.

Heute vor dreizehn Jahren gingen von hier, von diesem Ort Veränderungen aus, die die ganze Welt bewegt haben. Der 9. Oktober ist ein großes Datum, nicht nur in der deutschen und in der europäischen Geschichte.

Viele von Ihnen werden damals dabei gewesen sein, empört und entschlossen, aber wohl auch ungewiss und in Sorge. Dennoch: Aus Ihrer festen Überzeugung ist Ihnen Mut erwachsen und die Gemeinsamkeit der Vielen, die Ihnen Kraft gegeben hat.

II.

"Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist, hat Victor Hugo gesagt. Das ist damals 1989 und 1990 oft zitiert worden. Und er hat sehr genau die dramatischen Veränderungen beschrieben, die sich damals vollzogen. Und doch: Eine Idee, auch im Sinne Vicotor Hugos, ist nichts ohne Menschen, die ihren Träumen Taten folgen lassen.

Die Menschen in Leipzig und Gera, in Krakau und Stettin, in Budapest und Prag haben 1989 eindrucksvoll bewiesen: Wo Menschen sich zusammentun, wo sie gemeinsam ein Ziel verfolgen, wo sie gemeinsam dafür streiten, die Gesellschaft zu verändern, da können sie auch dann Erfolg haben, wenn die Umstände widrig und die Chancen scheinbar gering sind.

Wenn wir Resignation und Vereinzelung überwinden, dann können wir etwas bewegen. Genau das haben auch unsere polnischen Nachbarn der Staatsmacht entgegengerufen, als sie ihrer Gewerkschaft, die ja in Wirklichkeit eine große Freiheitsbewegung war, zu Beginn der achtziger Jahre den Namen "Solidarnosc" gaben.

Solidarität - das war auch die große Erfahrung der Menschen während des Umbruchs in der DDR. Solidarität - das war und das ist die große Leistung aller Deutschen bei der Aufgabe, die staatliche Einheit zu erreichen und sie gemeinsam zu gestalten.

"Nun muss zusammenwachsen, was zusammen gehört", hat Willy Brandt 1989 dazu gesagt.

Wir alle wissen aber, dass es in den vergangenen zehn Jahren auch viele Zweifel gegeben hat:

Wächst unser Land wirklich zusammen?

Fühlen die Deutschen in Ost und West sich überhaupt zusammengehörig?

Solche Fragen haben nicht nur professionelle Skeptiker gestellt, die davon leben, dass sie Kommentare zu Debatten beisteuern, die sie selber durch düstere Analysen ausgelöst haben.

Nein, es waren Fragen, die sich viele von uns gestellt haben.

III.

Im Sommer diesen Jahres schien die Debatte plötzlich wie vom Tisch gewischt. In der Katastrophe des Hochwassers erlebte unser Land eine Welle beispielloser, spontaner Solidarität, die jeden Zweifel daran auszuräumen schien, ob die Menschen in Deutschland sich zusammengehörig fühlten. Die Sympathie, die Bereitschaft zu Hilfe und Anstrengung - ja die ganze Stimmung, das erinnerte mich an die Tage nach dem Fall der Mauer. Wir sind ein Volk - seit 1990 ist das nicht mehr so sichtbar und spürbar gewesen wie im August diesen Jahres.

Nun kann man einwenden: Brauchen wir denn immer einen so gewaltigen Schlag, brauchen wir eine große Katastrophe, um die Menschen aufzurütteln und sie zueinander zu bringen? Das hieße, so meine ich, den Effekt überschätzen, den die Hochwasserkatastrophe für unser Gefühl der Zusammengehörigkeit, für unser Selbstverständnis gehabt hat.

Gewiss: Die Flut hat die Menschen zueinandergebracht. Zugleich wurde aber wie in einer Momentaufnahme festgehalten, was wir tatsächlich schon erreicht haben.

Die Flut hat Vorurteile und falsche Annahmen weggespült. Sie hat gezeigt, dass die Teilung noch nicht völlig überwunden ist, dass wir aber auf einem guten Weg sind. Alle Menschen in Deutschland haben die Katastrophe, die an Elbe und Mulde, aber auch an Inn und Donau getroffen hat, existentiell getroffen hat, als eine nationale Herausforderung begriffen - und sie haben danach gehandelt.

Wir haben denen besonders geholfen, die uns - im mehrfachen Sinne des Wortes - am nächsten sind. Das liegt nicht nur nahe, das ist auch verständlich und richtig. Das ist keine Alternative dazu, dass wir auch Menschen helfen, die in anderen Teilen der Welt Not leiden und Opfer von Katastrophen sind.

Die Tatsache, dass so viele spontan und umfassend geholfen haben - dem Nachbarn, den Bewohnern der Partnerstadt, den Mitbürgern in anderen Teilen des Landes, die zeigt noch etwas anderes: Die Kategorie "Ost-West" hat, wenn ich es richtig sehe, dabei keine Rolle gespielt. Brandenburger sind Sachsen zu Hilfe gekommen, Hessen Thüringern, Bremer Dessauern, Deutsche Deutschen. Und hätte sich eine vergleichbare Katastrophe in einer anderen Region Deutschlands ereignet, dann wäre die spontane Hilfe gewiss genau so groß gewesen.

Wie problematisch, ja wie falsch es ist, immer nur Ost und West in Deutschland zu vergleichen oder gar gegeneinander zu setzen, das hat übrigens auch, so glaube ich, die Bundestagswahl gezeigt: In Analysen nach der Wahl wurde darauf hingewiesen, dass die ganz unhistorische Teilung in Ost und West zunehmend hinter viel älteren Unterschieden mit großer Wirkungsmacht zurücktritt, vor allem denen zwischen Deutschlands Norden und Deutschlands Süden.

Mit den Bildern von der Verwüstung hat die Flut auch den Blick auf das freigelegt, was in den vergangenen zwölf Jahren alles geleistet, was verändert und was aufgebaut worden war. Sie hat Menschen gezeigt, die verzweifelt waren - aber noch viel mehr Menschen, die sich mutig und entschlossen gegen die Gewalten der Natur gewehrt haben, die versucht haben, ihr eigenes Haus zu schützen, aber auch die Häuser der Nachbarn und die von der Flut bedrohten Rathäuser und Museen, Schulen und Sportanlagen. Auch das hat gewiss geholfen, Vorurteile wegzuschwemmen.

Die Menschen aus allen Teilen des Landes, die während und nach der Flut geholfen haben, haben mehr für das Zusammengehörigkeitsgefühl in Deutschland getan als viele intelligente Analysen und viele kluge Ratschläge. Die Helfer haben nicht nur den Menschen in Grimma und Bad Schandau und in vielen anderen Städten gezeigt, dass sie nicht allein sind. Sie haben - selbst wenn manche Anstrengung vergeblich gewesen ist - auch gezeigt, dass die Vielen, wenn sie zusammenstehen, Großes leisten können.

IV.

In den vergangenen Jahren ist oft die Frage gestellt worden, ob uns in den Zeiten der Ego-Taktiker und der Spaßkultur nicht jeder Gemeinsinn verloren gegangen ist. Der vergangene Sommer hat das Gegenteil bewiesen: Wenn es darauf ankommt, sind wir ein solidarisches Volk.

Der gegenteilige Eindruck rührt, so meine ich, auch von einer problematischen Wahrnehmung her:

Das Bild, das die Medien von unserer Gesellschaft zeichnen, ist das Bild einer Konkurrenzgesellschaft. Eine Gesellschaft, die nur und in allen Lebensbereichen den Wettkampf zu kennen scheint. Wer gewinnt gegen wen, wer besiegt wen? Das ist das Bild einer entsolidarisierten Gesellschaft.

In den Fernsehsendern können wir inzwischen die Börsenkurse täglich fünfzigmal sehen und sie werden inzwischen immer häufiger reißerisch dargestellt und kommentiert. Das zeichnet ein Zerrbild unserer Wirtschaft, die ja ganz überwiegend nicht aus Aktiengesellschaften sondern aus kleinen und mittleren Unternehmen besteht. Natürlich sind auch Aktienkurse wichtig. Manchmal hat man aber den Eindruck, als gebe es überhaupt kein wichtigeres Thema mehr.

Dadurch entsteht ein Bild, das nicht der Wirklichkeit entspricht - das Bild einer Gesellschaft, in der es vor allem um Konkurrenz, um Wettbewerb, um die Höhe des Einkommens oder der Abfindung geht, um den goldenen Handschlag. Wenn sich der Eindruck festsetzt, Aktienkurse seien wichtiger als Menschen, shareholder-value wichtiger als Arbeitnehmer und Arbeitsplätze, dann besteht die Gefahr, dass Menschen ihre Mitmenschen weniger ernst und weniger wichtig nehmen, als wir alle uns das leisten können. Das kann die Entsolidarisierung fördern.

Das Bild entspricht nicht der Wirklichkeit. Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit anders. Das haben wir in den vergangenen Wochen eindrucksvoll erlebt.

V.

Es gibt einen natürlichen Widerstand gegen die Egoismus-Gesellschaft und gegen die Übertragung der Marktgesetze auf alle Lebensbereiche. Solidarität ist kein Fossil aus einer Zeit, als der Mensch noch kein "homo oeconomicus" war. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, anderen zu helfen und nicht nur auf den eigenen Vorteil zu schauen, die gehört zur Grundausstattung des Menschen - auch in den Zeiten der Globalisierung.

Das hat auch die Flutkatastrophe gezeigt. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Bild von der Ellenbogengesellschaft und der Wirklichkeit, die von viel mehr Gemeinsinn geprägt ist, als manche das befürchten oder andere das wahrhaben wollen.

Die Menschen, die in diesem Sommer Sandsäcke gefüllt und Fremde bei sich aufgenommen haben, die Menschen, die ihr Geld, ihre Arbeitskraft oder ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben, sie alle haben vorbildlich gehandelt. Und wir brauchen solche Vorbilder. Über gemeinsame Vorbilder findet eine Gesellschaft sich selber. Vorbilder brauchen wir nicht nur in Zeiten der Not und der Krise, sondern auch und gerade im Alltag. Wir brauchen Menschen, die mehr tun als man verlangen kann, weil sie sich bestimmten Zielen und Idealen verpflichtet fühlen. Wir sind auf Menschen angewiesen, die gegebenenfalls auch in Kauf nehmen zu scheitern, auf Menschen eben, die zur Nachahmung anregen.

Die Gesellschaft lebt nie allein von dem, was Menschen nach Beamtenrecht oder Tarifvertrag tun, sondern vor allem von dem, was sie darüber hinaus leisten. Jede Gesellschaft lebt vom eigentlich Unzumutbaren, von dem, was nicht bezahlt wird, weil es unbezahlbar ist. Wir können unsere Gesellschaft nur gerecht gestalten, wenn wir die freiwillige und spontane Solidarität der Bürgerinnen und Bürger fördern und herausfordern.

Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität - das sind unbezahlbare Werte. Sie können weder per Gesetz noch durch Verordnungen erzwungen, sie müssen praktisch gelebt werden.

Sie werden von den vielen gelebt, die anderen das Wertvollste schenken, was sie haben: ihre Zeit. Bürgerschaftliches Engagement kann auf Ressourcen zurückgreifen, die weder dem Staat noch dem Markt zur Verfügung stehen: Auf flexible Zeiteinteilung und lokale Netzwerke, auf vertrauensvolle Beziehungen und nicht zuletzt auf den Idealismus der Engagierten.

Rund zweiundzwanzig Millionen Bundesbürger sind in der einen oder anderen Form ehrenamtlich tätig. Das ist ein gutes Drittel aller erwachsenen Menschen in unserem Lande. Übrigens: Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass es überwiegend Frauen sind, die sich in den Bereichen mit hohen Anforderungen und Belastungen engagieren: siebenundsechzig Prozent im sozialen Bereich, sechsundsechzig Prozent im Gesundheitsbereich.

Die pauschale Behauptung, die man immer wieder hört, unsere Gesellschaft werde insgesamt kälter, egoistischer und rücksichtsloser, ist also nicht richtig.

Wir wollen und können in unserem Land nicht alles der staatlichen Organisation und Leistung überlassen. Genauso wenig wollen und können wir in unserem Land Gerechtigkeit und Zusammenhalt den Gesetzen des Marktes überlassen. Zwischen Staat und Markt gibt es viel Raum, der durch bürgerschaftliches Engagement, durch tätigen Gemeinsinn ausgefüllt werden kann und auch ausgefüllt wird.

Das freiwillige Engagement, das sich selber organisiert und verantwortet, das nicht auf staatliche Organisation und nicht auf Marktanreize wartet oder angewiesen ist, gibt unserer Gesellschaft Gesicht und Identität. Freiwilligkeit macht unsere Gesellschaft menschlicher. Das besondere an dieser "dritten Säule unseres Gemeinwesens", wie sie genannt wird, ist, dass sie nicht nach den Gesetzen von Tausch oder staatlicher Gewalt funktioniert, sondern dass sie vom Geschenk lebt - vom Geschenk an Zeit, an Zuwendung, an Einsatz.

Menschen, die so handeln, erwarten in aller Regel keinen materiellen Lohn. Gewiss, ihre Arbeit setzt funktionierende Strukturen voraus und wem Ausgaben entstehen, der soll sie auch erstattet bekommen.

Viel wichtiger ist aber doch das, was man "sozialen Lohn" nennt. Viele Menschen, die bei der Flut geholfen haben, haben davon berichtet, dass ihr Einsatz - so schwierig und anstrengend er auch gewesen sein mag - etwas sehr Befriedigendes hatte. Sie haben die Erfahrung gemacht, etwas Sinnvolles zu tun, praktische Hilfe zu leisten - gerade auch für ganz Fremde. Sie haben das Ergebnis der eigenen Anstrengungen gesehen und waren nicht nur Teil eines großen Räderwerkes.

VI.

Die große Solidarität im Sommer diesen Jahres hat schließlich noch ein weiteres Vorurteil widerlegt: Das über den Egoismus und den mangelnden Gemeinsinn der jungen Menschen in unserem Land.

Wir kennen ja das übliche Urteil - ich zitiere: "Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein sollte. ... Diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich rücksichtslos...". Das ist ein sehr altes Wort. Es ist geschrieben vor zweitausendsiebenhundert Jahren von dem griechischen Dichter Hesiod, vor zweitausendsiebenhundert Jahren.

Wie sich gerade junge Menschen während der Flutkatastrophe eingesetzt haben, das war, so meine ich, ein Anlass zu heller Freude. Sie haben das ganz selbstverständlich getan, oft bis zur Erschöpfung. Sie haben etwas getan , ohne auf die Ermunterung durch Erwachsene zu warten. Als sie von der Flutkatastrophe gehört haben, sind sie einfach losgefahren. Sie haben keinen Reiseantrag gestellt, sie haben nicht nach Reisekosten oder Vergütung gefragt, sie haben einfach angepackt.

Was die Bereitschaft junger Menschen angeht, sich einzusetzen, haben wir immer wieder Untersuchungsergebnisse vor Augen, die ein ganz anderes Bild zu zeichnen scheinen. Die jüngste Shell-Studie sagt uns, dass persönlicher Vorteil und eigenes Fortkommen für junge Menschen wichtige Kriterien sind, wenn sie darüber entscheiden, ob und wo sie sich engagieren. Das politische Interesse junger Menschen nehme immer weiter ab, das war ein anderes Ergebnis dieser groß angelegten Untersuchung über das Verhalten junger Menschen.

Der großartige Einsatz dieser jungen Menschen während der Flutkatastrophe und die Ergebnisse der Untersuchung widersprechen sich übrigens nicht. Die Forscher stellten nämlich auch fest, dass junge Menschen mehr denn je grundsätzlich bereit sind, sich zu engagieren. Fünfunddreißig Prozent der jungen Menschen sind regelmäßig gesellschaftlich aktiv, fünfzig Prozent mindestens gelegentlich.

Aber die Schwerpunkte des Engagements, die haben sich verändert. Das Interesse gilt mehr einzelnen, überschaubaren Projekten und konkreten Zielgruppen. Übergreifende gesell-schaftliche Ziele - Sicherung des Friedens, der nachhaltige Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen - begeistern junge Menschen heute dagegen weniger.

Im Vordergrund stehen unabhängige, selbstorganisierte Jugendinitiativen. Sie sind häufig kurzlebig und ändern oft ihre Form: Die Zusammensetzung der Gruppen ändert sich, Netzwerke wachsen schnell und beenden ihre Arbeit oft genau so rasch. Für Jugendliche scheint es besonders wichtig zu sein, dass die Aktivität nicht von Erwachsenen dominiert und nicht als Verpflichtung empfunden wird, die ihnen auferlegt wird.

Auf diesem Feld selbstorganisierter, selbstbestimmter Jugendaktivität gibt es großartige Initiativen: Ich erinnere nur an die Aktion "Schüler helfen Leben", die mit ihrer Idee des "Sozialen Tages" allein in diesem Jahr über 5 Mio. Euro zusammengebracht haben. Mit diesem Geld werden Jugendtreffs im Kosovo aufgebaut, die jungen Menschen der unterschiedlichen Volksgruppen helfen sollen, alle Feindseligkeiten und alte Feindseligkeiten zu überwinden. Allein in diesem Jahr haben sich über zweihunderttausend Jugendliche am diesem "Sozialen Tag" beteiligt.


VII.

Ich freue mich sehr darüber, dass wir gleich Gelegenheit zum Gespräch haben werden. Ich möchte gerne mehr über die Vorstellungen und Interessen der jungen Menschen erfahren, die heute hier sind.

Gerne möchte ich mit Ihnen auch über eine Entwicklung sprechen, die mir Sorge bereitet:

Die Bereitschaft junger Menschen, sich gesellschaftlich zu engagieren, ist wie gesagt, ungebrochen - das politische Engagement geht dennoch zurück. Nur noch vierunddreißig Prozent der Jugendlichen nennen sich politisch interessiert; 1991 waren es noch siebenundfünfzig, nicht vierunddreißig Prozent.

Diese Entwicklung muss zunächst kein Anlass sein, sich um die Zukunft der Demokratie zu sorgen. Die ganz überwiegende Mehrheit junger Menschen hält die Demokratie in Deutschland für eine gute Staatsform, trotz allem, was sich gewiss verbessern ließe.

Trotzdem müssen wir uns fragen: Wie erklärt sich diese scheinbare politische Gleichgültigkeit vieler Jugendlicher? Ist es tatsächlich Desinteresse oder passen neue Formen politischen Handelns bloß nicht in das herkömmliche Bild?

Wenn junge Menschen sich verstärkt für einzelne Projekte, für zeitlich überschaubare Initiativen einsetzen wollen, dann müssen alle überlegen, die junge Menschen für die Mitarbeit gewinnen wollen, wie das denn am besten gelingen könnte.

So wichtig projektorientierte Arbeit ist, so wenig kann eine demokratische Gesellschaft aber auf feste Strukturen und auf verlässliche Verfahren verzichten.

Mit bloßem punktuellen Engagement lassen sich die großen, längerfristigen Aufgaben unserer Gesellschaft nicht lösen. Die Politik braucht auch den langen Atem. Dazu gehört es, schwierige Entscheidungen gegen Widerstand durchzusetzen und im Interesse übergeordneter Ziele auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Demokratie lebt davon, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger wachsam und interessiert sind, dass sie nicht nur Meinungen haben, sondern sich auch einmischen in ihre eigenen Angelegenheiten. Wer nicht handelt, der wird behandelt. Wer die Entscheidungen anderen überlässt, der gibt auch den Einfluss darüber aus der Hand, wie seine eigene Zukunft aussehen soll.

Nicht nur Umfragen, auch alle Erfahrungen diesen Sommers zeigen: Die Bereitschaft junger Menschen, sich einzusetzen, ist groß. Da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wie aber sorgen wir dafür, dass auch die Probleme angepackt werden, die einen dauerhaften Einsatz verlangen?

Was müssen wir dafür tun, dass die Bereitschaft nicht nur junger Menschen wächst, sich nachhaltig für die Demokratie in Staat und Gesellschaft zu engagieren? Die Demokratie ist ja kein Projekt, das begonnen und zu Ende gebracht wird. Die Demokratie ist ein spannender Fortsetzungsroman, der jeden Tag fortgeschrieben werden muss - und zwar von uns allen.

Was das für jeden von uns bedeutet, darüber möchte ich gerne mit Ihnen sprechen. Ich freue mich darüber, dass wir dazu jetzt Gelegenheit haben.