Rede von Bundespräsident Johannes Rau auf der Eröffnungsveranstaltung des Fachkongresses des Bundesinstituts für Berufsbildung

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 23. Oktober 2002

Meine Damen und Herren,

für mich besteht kein Zweifel: Die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit auch der Wohlstand, den wir erwirtschaften können, hängt entscheidend ab von der Qualifikation unserer Arbeitnehmer. Darum ist es so wichtig, dass wir ein modernes Ausbildungssystem haben und darum wird es zunehmend wichtiger werden, dass wir einen gut ausgebauten, einen modernen und einen flexiblen Weiterbildungssektor haben. Beides, Ausbildung und Weitbildung, ist kein Luxus, sondern ein existentielles Gut.

II.

Ich weiß, dass es in den letzten Jahren viel Kritik an unserem Ausbildungssystem gegeben hat. Ich halte auch einen Teil dieser Kritik für berechtigt, anderes eher für interessengeleitet. Manches hat sich auch schon zum Besseren gewendet. So hat es nach meinem Eindruck gute Fortschritte bei neuen und modernisierten Berufsbildern gegeben. Technische Fortschritte scheinen immer schneller Eingang zu finden in die Definition neuer Berufsbilder.Das kann allerdings auch Nachteile haben; das zeigt jedenfalls die aktuelle Entwicklung im Bereich der neuen Medien. Da sind vorbildlich schnell neue Berufsbilder entwickelt worden, aber die technische und die wirtschaftliche Entwicklung hat dann dazu geführt, dass diese zum Teil sehr speziellen und spezifischen Berufe heute auf dem Arbeitsmarkt kaum noch nachgefragt werden.Man muss offensichtlich sehr genau unterscheiden zwischen modischen Trends und modernen, zukunftsfähigen Branchen. Das heißt: Neue Berufsbilder dürfen nie zu speziell sein, sie müssen immer auch Grundfähigkeiten vermitteln, die dann auf unterschiedlichen Feldern Früchte bringen können. Die speziellen, an einem konkreten Arbeitsplatz in einem konkreten Betrieb notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten müssen im Beruf und nicht allein und nicht zuerst in der Ausbildung vermittelt werden.Darum warne ich auch davor, den theoretischen Teil der Ausbildung zu Gunsten des praktischen Teils zu stark zurückzuführen. Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie, und das Argument der Praxisnähe sollten wir nicht überreizen. Guter theoretischer Unterricht gibt dem Auszubildenden ja gerade die Flexibilität, macht ihn flexibel, so wie er es braucht, wenn er auch in anderen Betrieben und in verwandten Berufen einen Arbeitsplatz finden will.Dass manch ein Ausbildungsbetrieb aus seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen hier lieber andere Schwerpunkte setzen würde, ist mir klar. Wer aber an die gesamte berufliche Zukunft eines jungen Menschen denkt, und das sollte jeder Ausbilder tun und der Staat muss das tun, der wird schnell den Vorteil der Balance zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung erkennen.Grundsätzlich hat sich nach meiner Einschätzung die duale Berufsausbildung bewährt, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie auch in Zukunft die gute Grundlage eines erfolgreichen Ausbildungssystems bleibt. Damit sie das bleiben kann, muss aber auch an den Berufsschulen manches wieder besser werden. Die Ausstattung mit Lehrbüchern und Lehrmitteln entspricht oft nicht mehr den zeitgemäßen Erfordernissen. Mit Lehrbüchern von vorgestern kann man niemanden auf die beruflichen Anforderungen von morgen vorbereiten. Es darf auch nicht sein, dass im Durchschnitt an den Berufsschulen jede vierte Unterrichtsstunde ausfällt, wie es vor kurzem eine Gewerkschaft beklagt hat. Ein modernes Ausbildungssystem hat seinen Preis. Diesen Preis müssen wir bezahlen. Wenn wir das nicht tun, dann wird das auf Dauer sehr viel teurer. Ich habe schon an anderer Stelle gesagt: Wir geben für Bildung weniger aus, als wir uns leisten können.Leider höre ich in letzter Zeit häufiger, dass mancher Ausbildungsplatz unbesetzt bleibt, weil die Bewerber eklatante Schwächen in der Vorbildung aufweisen, auch Professor Pütz hat das Thema angesprochen. Ich gebe den Ausbildungsbetrieben und den Berufsschulen Recht: Es kann nicht die Aufgabe der beruflichen Bildung sein, die Schwächen in den Grundkenntnissen auszugleichen. Das ist die Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen. Diese Aufgabe müssen sie erfüllen. Dazu müssen sie in Stand gesetzt werden. Darum müssen wir ganz offensichtlich auch über Reformen besonders an den Hauptschulen nachdenken. Ich habe dazu schon verschiedentlich etwas gesagt, das will ich hier alles nicht wiederholen. Aber drei Kernelemente möchte ich doch nennen:
  • Die Hauptschulen müssen allen Schülerinnen und Schülern die Grundfähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln.
  • Die Hauptschulen müssen stärker als bisher die individuellen Begabungen der jungen Menschen fördern und fördern können, das ist die zweite Anforderung.
  • Drittens müssen die Hauptschulen wieder stärker gesellschaftliche Werte vermitteln. Die jungen Menschen müssen ihre Rolle in der Gesellschaft finden können. Sie müssen wissen und erfahren, dass sie gebraucht werden und sie müssen erfahren, dass sie Verantwortung tragen, für sich und andere.
Das ist die Basis, von der aus ein Einstieg in die berufliche Bildung gelingen kann.Besonders schwierig ist die Situation für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Obwohl inzwischen 81 Prozent von ihnen einen qualifizierten Schulabschluss haben, sind sie immer noch überdurchschnittlich häufig arbeitslos. Das darf man nicht einfach hinnehmen. Dagegen kann man etwas tun, auch in privater Initiative.Ich möchte Ihnen dafür nur ein Beispiel nennen: Die Griechische Gemeinde Castrop-Rauxel kümmert sich intensiv um die berufliche und kulturelle Integration auch anderer Zuwanderer. Das hat zu einer hohen Vermittlungsquote geführt, und so wurde das Projekt das erfolgreichste Beschäftigungsprogramm im Kreis Recklinghausen.Das war der Grund dafür, dass ich dieses Projekt im Rahmen des Integrationswettbewerbes des Bundespräsidenten im August diese Jahres im Schloss Bellevue ausgezeichnet habe. Ich wünschte mir, es gäbe noch viel mehr solcher Projekte, die man auszeichnen könnte.Meine Damen und Herren, manchmal merken junge Menschen auch, dass die gewählte und erreichte Lehrstelle sie überfordert. Wäre es nicht eine Überlegung wert, für solche Fälle eine Art qualifizierten Zwischenabschluss einzuführen oder ein Zertifikat? Sie haben in ähnliche Richtung argumentiert, Herr Professor Pütz. Das könnte manchem Ausbildungsabbrecher den späteren Wiedereinstieg doch erheblich erleichtern. Diese jungen Menschen haben doch etwas gelernt, auf dem sie später aufbauen können. Aber nach jetziger Lage der Dinge ist jede Lehrzeit ohne Abschluss "für die Katz". Ich sehe das nicht ein.Natürlich darf man bei allen Diskussionen um die Praxisnähe der Ausbildung oder um die Quote der Ausbildungsabbrecher die Relationen nicht durcheinander bringen: Unser wesentliches Problem ist und bleibt die Tatsache, dass es zu wenige Lehrstellen gibt und dass die Zahl offensichtlich noch abnimmt. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren tut sich im beginnenden Ausbildungsjahr auch rein rechnerisch wieder eine Lücke auf zwischen der Zahl der Ausbildungsbewerber und der Zahl der freien Ausbildungsstellen. In den neuen Ländern, wie wir sie nennen, kommen auf 8758 Bewerber, die noch keine Lehrstelle haben, nur 729 freie Ausbildungsplätze. Wir müssen den größten Rückgang an betrieblichen Ausbildungsstellen seit 1998 verzeichnen. Da dürfen wir nicht klagen über Westwanderung, wenn die Zahlen so sind.

Die Betriebe begründen ihre Zurückhaltung bei der Ausbildung häufig damit, dass sie die Lehrlinge nach der Prüfung nicht übernehmen könnten. Mehr als eine Vermutung kann das aber doch nicht sein. Die wirtschaftliche Lage kann sich in drei Jahren ganz anders darstellen, aber auch wenn das nicht so wäre: Ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung hat ein junger Mensch auf dem Arbeitsmarkt heute keine Chance.

Viele sagen auch, die Ausbildung im eigenen Betrieb sei ihnen zu teuer. Sie erwarten offensichtlich, dass andere die Ausbildungskosten tragen und sie selber den Nutzen haben. Das ist weder vorausschauend noch verantwortungsvoll gedacht. Wer nur betriebswirtschaftlich rechnet, der fährt auf sehr kurze Sicht, denn er schafft sich und anderen heute die Probleme, die er dann morgen nicht lösen kann. Die duale Ausbildung darf jedenfalls nicht als Sündenbock herhalten dafür, dass sich mancher Betrieb seiner gesellschaftlichen Verantwortung entzieht.

Es bleibt dabei: Die berufliche Ausbildung junger Menschen ist eine Aufgabe, die die Betriebe erbringen müssen, für sich, für die jungen Frauen und Männer und in unser aller Interesse. Ich kenne viele Betriebe, die über ihren eigenen Bedarf hinaus ausbilden. Dafür bin ich dankbar und dafür sage ich den verantwortungsvollen Unternehmern und Handwerksmeistern meinen Dank.

Es gibt auch andere gute Beispiele dafür, wie die Verbände die Ausbildung unterstützen können. So ist im Rahmen des Bündnisses für Arbeit und Ausbildung ein Patenschaftsprogramm auf die Beine gestellt worden, das Auszubildende und potentielle Ausbildungsbetriebe finanziell und logistisch unterstützt. Ich habe über dies Programm die Schirmherrschaft übernommen. Ich wäre froh, wenn sich an diesem Programm möglichst viele Unternehmen beteiligten.Meine Damen und Herren, wer Reformbedarf im Ausbildungssystem sieht, der muss ihn konkret definieren und konsensorientiert an einer gemeinsamen Lösung mitzuwirken versuchen. Allgemein gehaltene Kritik reicht nicht aus, und sie führt auch nicht wirklich weiter.Ein ganz konkretes Problem, das in den nächsten Jahren gelöst werden muss, auch das haben wir schon gehört, sehe ich zum Beispiel darin, dass sich Handwerker aus einigen EU-Staaten mit den in ihren Heimatländern geltenden Qualifikationsanforderungen in Deutschland selbständig machen und niederlassen können - und das auch ohne Meisterbrief. Ein gut ausgebildeter deutscher Handwerker dagegen braucht den Meisterbrief, um einen eigenen Betrieb gründen zu können. Dass das vernünftig sein soll, das ist nicht nur den Betroffenen schwer zu erklären. Ich will mich jetzt nicht beteiligen an der Diskussion um den Meisterbrief, um den großen Befähigungsnachweis als eine notwendige Grundlage für eine selbständige Existenz. Nur so viel: In dieser Frage, die auch mit der Attraktivität einer Handwerkslehre zu tun hat, erwarte ich von den Unternehmen und ihren Verbänden mehr Flexibilität und die Bereitschaft, ausgetretene Pfade zu verlassen.

Es ist nicht immer die Schuld der Politik, wenn notwendige Reformen verzögert oder ausgebremst werden. Beharrungstendenzen und Besitzstandswahrung kenne ich auch in der Wirtschaft und in ihren Verbänden.

III.

Meine Damen und Herren, wir wissen inzwischen alle, dass sich die Anforderungen an einen Arbeitnehmer im Laufe seines Berufslebens erheblich wandeln können. Die eine Berufsausbildung für ein ganzes Leben gibt es eben nicht mehr.Technische Veränderungen und die Internationalisierung der Wirtschaft, die Globalisierung der Märkte machen es nötig, alle beruflichen Qualifikationen ständig weiter zu entwickeln. Darum ist die Weiterbildung, das lebensbegleitende Lernen, ein Kernelement der beruflichen Bildung geworden. Auf dem Papier scheint das allen Verantwortlichen in den Unternehmen und in den Verbänden klar zu sein.Es gibt wohl kaum noch ein Unternehmensleitbild, in dem der Hinweis auf die permanente Fortbildung fehlt, auf lebenslanges Lernen der Beschäftigten. Gelebte Wirklichkeit ist es trotzdem leider noch viel zu selten. Da muss auch das Personalmanagement in den Unternehmen noch manches lernen: So wie die Berufsschule elementarer Bestandteil der beruflichen Bildung ist, so ist die Weiterbildung der Mitarbeiter ein Kernelement moderner Unternehmensführung.Es gibt in der Weiterbildung noch nicht genügend gruppenspezifische Angebote. Die demographische Entwicklung zeigt uns ganz deutlich, der Anteil älterer Arbeitnehmer im Berufsleben deutlich wird zunehmen. Ältere Menschen lernen aber anders als junge Menschen. Das muss in den Weiterbildungsangebote bedacht und berücksichtigt werden.Gerade auf diesem Feld habe ich den Eindruck, dass es nicht nur praktische, sondern auch theoretische Defizite gibt. Wir wissen zu wenig. Darum bin ich froh darüber, dass sich Ihr Kongress in mehreren Foren mit diesem Thema beschäftigen wird.Es gibt ja häufig noch das Vorurteil, ältere Arbeitnehmer könnten mit den neuen Kommunikationsmedien nicht umgehen. Das entspricht schon lange nicht mehr der Wirklichkeit. Im Gegenteil, viele so genannte Senioren, zu denen ich auch rechne, besuchen inzwischen Computerkurse - das tue ich nicht - surfen im Internet, sie kommunizieren mit Freunden via e-Mail. Sie benutzen Schreibprogramme, sie spielen Schach oder sie gestalten ihren Garten am PC. Wir sollten die Lernfähigkeit älterer Menschen nicht unterschätzen.Was für die Senioren gilt, das gilt noch vielmehr für diejenigen Älteren, die im aktiven Berufsleben stehen. Dies Potenzial und deren Fähigkeiten müssen in Zukunft viel stärker gefördert und genutzt werden. "Mit 50 beruflich nicht mehr vermittelbar" - dieser Satz muss bald der Vergangenheit angehören. Der Satz ist eine geistige und eine menschliche Bankrott-Erklärung, die wir uns nicht leisten können.Für die junge Generation ist es wichtig, dass die Grundlagen für lebensbegleitendes Lernen schon im jungen Lebensalter gelegt werden. Darum halte ich es für so wichtig, dass in unseren Schulen und auch in den Betrieben nicht nur Wissen vermittelt wird. Das ist auch richtig und wichtig. Mindestens genauso bedeutsam ist es aber, jungen Menschen beizubringen, sie zu lehren, vielleicht Ihnen vorzumachen, wie sie am besten lernen und wie sie immer wieder Neues aufnehmen können. Das brauchen sie für ihr eigenes berufliches Fortkommen, es ist aber auch wichtig für die wirtschaftliche Zukunft unserer Unternehmen.

IV.

Meine Damen und Herren, bei all diesen möglichen und nötigen Reformen, die ich natürlich nur kurz ansprechen konnte, weil die zeitlichen Möglichkeiten meiner Teilnahme an Ihrem Kongress leider sehr begrenzt sind, können wir doch mit Fug und Recht sagen: Unser duales Ausbildungssystem hat sich bewährt. Es ist international ein anerkanntes Markenzeichen Deutschlands, um das uns viele Länder beneiden.Ich würde mich freuen, wenn das BIBB weiter im ständigen Austausch mit Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Politik nach Wegen suchte, wie wir unser Berufsbildungssystem auch in Zukunft modern halten können, wie es auf der Höhe der Zeit bleibt. Damit helfen Sie, jungen Menschen eine Perspektive, unserer Gesellschaft eine Zukunft zu geben. Dass Sie neben vielen Referenten aus dem Inland auch viele Experten aus anderen Ländern gewonnen haben, das finde ich dankens- und lobenswert, denn ich ahne, was da für eine organisatorische Leistung vollbracht worden ist.Ich bin froh darüber, dass Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Herr Professor Pütz, so viel Kraft und Mühe investiert haben in die Vorbereitung des Kongresses. Ich bin gespannt auf die Ereignisse und auf die Ergebnisse. Auch wenn ich nicht dabei sein kann, hoffe ich, davon zu hören.