Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Jubiläumsveranstaltung der Universität Breslau in der Aula Leopoldina

Schwerpunktthema: Rede

Breslau, , 15. November 2002

I.

Ich gratuliere der Universität Breslau zu ihrem dreihundertjährigen Bestehen. Ich bin besonders gerne hierher gekommen. Hier in dieser Stadt und in der Universität, wird neben dem Leid der Geschichte, das wir nicht vergessen dürfen, auch das Neue, das Hoffnungsvolle in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen deutlich.

Heute feiern wir eine Bildungsinstitution von europäischem Rang, die auf eine bewegte und lange Geschichte zurückblickt und die eine große Zukunft vor sich hat. Hier begegnen sich junge Menschen aus Polen, aus Deutschland und aus vielen anderen Ländern, die in einem neuen europäischen Geist miteinander umgehen und voneinander lernen.

Ich danke Ihnen, Herr Präsident Kwasniewski, dafür, dass Sie mich zu dieser Feier nach Breslau eingeladen haben. Ihnen, Magnifizenz, und den Organisatoren der Jubiläumsfeier danke ich dafür, dass Sie sich trotz vieler Schwierigkeiten bei der Vorbereitung nicht von Ihrem Vorhaben haben abbringen lassen.

II.

Wir kommen hier zusammen in einer für Europa entscheidenden Zeit. In wenigen Wochen wird der Europäische Rat in Kopenhagen über den Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union entscheiden. In wenig mehr als einem Jahr wird Polen, davon bin ich überzeugt, Mitglied der Europäischen Union sein. Dann wird die gute Zusammenarbeit, die sich zwischen unseren Ländern entwickelt hat, seit wir die Teilung Europas überwunden haben, unter einem europäischen Dach noch enger und vertrauensvoller werden.

Das bedeutet nicht, dass wir uns dann zurücklehnen können. Gute Nachbarschaft muss man pflegen. Alte Klischees, Stereotype und Vorurteile müssen auch in Zukunft abgebaut werden. Wir wissen noch immer viel zu wenig voneinander. Umfragen zeigen, dass das Interesse am östlichen Nachbarn in Deutschland nachlässt. Ich bedauere das sehr. Dagegen muss man etwas tun.

Die Erweiterung der Europäischen Union darf auch nicht dazu führen, dass neue Vorbehalte entstehen - aus Sorge um den Arbeitsplatz oder aus Furcht vor dem Fremden. Ich bin sicher, dass Polen und Deutsche von der Erweiterung der Europäischen Union gleichermaßen profitieren werden. Die Bindungen und Verbindungen werden noch stärker werden. Schon heute ist das deutsch-polnische Verhältnis so gut wie zu kaum einer anderen Zeit in unserer langen gemeinsamen Geschichte.

Heute kommen wir zusammen, um gemeinsam an die Geschichte der Universität Breslau zu erinnern, und wir tun das ohne Vorbehalte und ohne Ressentiments. Das ist für mich ein gutes Zeichen dafür, dass wir auf dem Weg der Aussöhnung vorangekommen sind.

Ich bin sicher: Gerade hier, wohin nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges so viele Menschen aus dem früheren Osten Polens gekommen sind, versteht man, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren, und die Menschen wissen, mit wie viel Leid das verbunden ist. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass es viele frühere Breslauer geschmerzt hat, wie die Geschichte ihrer Stadt vor 1989 gelegentlich dargestellt wurde.

Aber wie viel ist seither geschehen! Der politische Umbruch von 1989 war ja auch ein geistiger Umbruch. Neu und unvoreingenommen wird die Geschichte betrachtet und vor allem: das geschieht gemeinsam. Darauf kommt es an. Das ist die Grundlage, die Vertrauen schafft für eine gemeinsame Zukunft.

III.

Die Universität war schon früher Symbol der Hoffnung. Hier rief Hendrik Steffens, Professor der Physik, am 8. Februar 1813 seine Hörer zum Eintritt in die freiwilligen Jägerkorps auf, um für die Befreiung vom Joche Napoleons zu kämpfen. Der Geist der Freiheit, der sich damals äußerte, ist von den Regierenden, die ihn zunächst für ihre Zwecke nutzten, schon bald wieder unterdrückt worden.

Damit bin ich mitten in der Geschichte der Universität Breslau. Die so prachtvolle Aula erinnert mit ihrem Namen an den Gründer des Jesuiten-Kollegs, den Habsburger Kaiser Leopold I. In der Aula Leopoldina fand am 19. Oktober 1811 auch der Festakt statt, bei dem der preußische König und schlesische Landesherr Friedrich Wilhelm III. die protestantische Viadrina aus Frankfurt/Oder nach Breslau verlegte. Aus dem Kolleg wurde die Universität Breslau und die Viadrina ist inzwischen in Frankfurt an der Oder wieder entstanden.

In den letzten Jahren ist die Aula vielfach Zeuge deutsch-polnischer Begegnungen geworden. Hier wurde im Juni dieses Jahres das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien gegründet. Die Aula Leopoldina ist somit heute auch ein Sinnbild für die Verständigung geworden, die wir in Europa erreicht haben.

IV.

Schlesien ist heute wieder dabei, seinen angestammten Platz in der Mitte Europas einzunehmen. Dabei spielen Ihre Stadt und Ihre Universität eine besondere Rolle. Nach vielen Brüchen und nach der historischen Zäsur des Jahres 1945 stehen die Stadt und ihre Universität heute wieder in der Tradition von Weltoffenheit und der früher so gerühmten "schlesischen Toleranz".

Für diese Tradition der Toleranz und der Weltoffenheit lassen sich Beispiele aus ganz verschiedenen Epochen finden:

  • Der Westfälische Friede sah für Schlesien Regelungen vor, die von dem allgemein geltenden Grundsatz des "cuius regio eius religio" abwichen. Seither lebten beide Konfessionen hier miteinander. Toleranz war schon damals ein bestimmendes Element und wurde trotz aller Spannungen gelebt.
  • Ein anderes Beispiel stammt aus der Zeit, als die protestantisch geprägte brandenburgisch-preußische Universität Viadrina von Frankfurt/Oder nach Breslau übersiedelte. Die neue Universität war die einzige Hochschule in Mitteleuropa, in der sowohl katholische als auch protestantische Theologie gelehrt wurde.
  • Breslau war auch der Ort, an dem der erste deutsche Lehrstuhl für Slawistik eingerichtet wurde. Das geschah in einer Zeit, in der die polnische Sprache und Kultur im Deutschen Reich, das zum Nationalstaat geworden war, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.
  • Nach dem Krieg hat die Universität zunächst an die große Tradition der alten Lemberger Universität angeknüpft, die eine der herausragenden Stätten des polnischen Geisteslebens war. Die akademische Lehre an der Universität profitierte dabei von den berühmten Lemberger Professoren. Damit schien die fast 250-jährige Vorgeschichte ausgelöscht zu sein. Doch viele akademische Lehrer haben sich auch um das deutsche Erbe bemüht. Heute ist Breslau eine der Hochburgen der polnischen Germanistik, die auch international hohes Ansehen genießt.
  • Vielleicht war es auch der besonderegenius loci, der Kardinal Kominek - Ihren verehrten Vorgänger, Eminenz - dazu bewegte, den Brief des polnischen Episkopats an seine deutschen Glaubensbrüder zu entwerfen? Damit hat die polnische katholische Kirche in den 60er Jahren den Weg der Versöhnung zwischen unseren Völkern gewählt. Der Briefwechsel der Bischöfe und die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland waren wichtige Schritte in der wunderbaren Geschichte der deutsch-polnischen Annäherung.
Mich freut besonders, dass in den letzten Jahren so viele junge Polen und junge Deutsche zusammengekommen sind, die gemeinsam am neuen Europa bauen. An den Austauschprogrammen des Deutsch-Polnischen Jugendwerks haben in bloß elf Jahren mehr als eine Million junge Menschen teilgenommen. Das ist ein großartiger Erfolg, aber es darf nur ein Zwischenergebnis sein.Wenn ich Ihnen, den Professoren und Studenten der Universität, zu Ihrem Jubiläum gratuliere, dann tue ich das in der Hoffnung, dass auch aus Deutschland und aus anderen europäischen Ländern immer mehr junge Menschen hierher kommen werden, dass sie einander begegnen und miteinander lernen.Im nächsten Jahr könnte in Breslau eine Sommeruniversität stattfinden. Über einen Zeitraum von einigen Wochen könnten deutsche und polnische Studenten hier zusammenkommen, um in polnischer Sprache zu lernen und zu diskutieren. Vielleicht könnten auch ukrainische Studenten dazu kommen? Das würde der besonderen Geschichte Ihrer Universität entsprechen. Ich will mich darum bemühen, dass für eine solche Sommeruniversität einige Stipendien zur Verfügung gestellt werden.

Meine Damen und Herren,

mit ihrer 300-Jahrfeier bekennen Sie sich zu den drei Traditionslinien, die sie in ganz außergewöhnlicher Weise geprägt haben und prägen:

  • zur jesuitisch-katholischen Tradition ihres böhmisch-habsburgischen Anfangs,
  • zur preußisch-deutschen Tradition Humboldtscher Prägung
  • und zur Lemberger Tradition der polnischen Gegenwart.
Sie begreifen sich - wenn ich es richtig verstehe - als Erbe und als Treuhänder dieser Traditionslinien. Sie führen sie zusammen und sie ziehen die Linien weiter. So nehmen Sie Geschichte an als Herausforderung und als Auftrag. Was machte das besser deutlich als dieser wunderbare Saal, den polnische Restauratoren nach dem Kriege wieder hergerichtet haben - einschließlich der Darstellungen früherer Förderer wie Leopold I. und Friedrich II?Die Figur des Kaisers wird - wie eh und je - flankiert von "Fleiß" und "Klugheit". Und "Torheit" und "Zwietracht" stürzen in die Tiefe. Das ist eine wunderbare Allegorie auf die Toleranz. Toleranz ist der Stoff, der aus Geschichte Zukunft wachsen lässt.In diesem Sinne wünsche ich allen eine gute Zukunft, die hier versammelt sind, um dreihundert Jahre Universitätstradition in Breslau zu feiern.