Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau bei der Trauerfeier für Rudolf Augstein

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 25. November 2002

I.

Mit Rudolf Augstein verabschieden wir den letzten Gründungsvater des freien Journalismus in der Bundesrepublik.

Der Abschied, das Gedenken, wird zum Dank. Unser Dank gilt einem Mann, der verlässliche Freundschaft übte, ohne dass daraus Verbrüderung oder gar Kumpanei wurde, einem Mann mit einem klaren Blick und einer deutlichen, oft scharfen und immer geschliffenen Sprache, der unserem Land gut getan hat.

Axel Springer, Henri Nannen, Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff: Von jedem dieser so verschiedenen Weggefährten hat Rudolf Augstein sich in Nachrufen im Spiegel verabschiedet. Es sind sehr persönliche Nachrufe, die er geschrieben hat, zeit seines Lebens. Der Mensch, den fast alle einen Zyniker nannten, der Mensch, der bekannte, er habe nie Schwierigkeiten gehabt,gegenetwas zu sein, immer aber,füretwas zu sein - dieser Mensch schrieb freundliche, ja zärtliche Nachrufe. Axel Springer bewunderte und beneidete er, Henri Nannen war für ihn der "Citizen Henri", Gerd Bucerius ein "Hanseat, Feind und Freund", und von Gräfin Dönhoff schrieb er, er fühle sich in ihrer Nähe "irgendwie geborgen".

Was sagen wir nun über Rudolf Augstein?

Über den Menschen, der behauptete, er glaube nicht "an die Auferstehung irgendeines Toten, und er müsse sich dann damit weiter auch gar nicht beschäftigen"?

Über den Menschen, der über die Kirche schrieb, sie sei der Ort, an dem "die Irrtümer der jeweils vorangegangenen Theologen-Generation berichtigt werden"?

Über den ein Freund einmal anmerkte, er sei "der menschlichste Zyniker, den er kenne"?

Rudolf Augstein wollte nicht, dass man viel Aufhebens um ihn machte. Er war ein Suchender, freilich ein Suchender mit Sinn für Orientierung.

Er hat an etwas geglaubt. Rudolf Augstein hat einmal gesagt, er wolle "stets etwas für die Allgemeinheit Moralisches erreichen". Er wolle bloß "ein guter Christ sein".

So einer ist kein Zyniker.

II.

Die historische Wahrheit und die Wahrheit des Glaubens, das war das, wofür Rudolf Augstein sich sein Leben lang interessierte.

Politik in Deutschland nach 1945 war für ihn undenkbar ohne das Bewusstsein für unsere historische Verantwortung. Das wusste er, und das hat er gelebt. Die Last der jüngsten Geschichte und das Trauma der Teilung: Das waren seine Themen.

Wie wenige andere hat sich Rudolf Augstein für die Überwindung der deutschen Teilung stark gemacht. Er schrieb einmal:

"Seit Gründung der Bundesrepublik haben wir es für unsere vornehmste Aufgabe erachtet, das Bewusstsein wachzuhalten, dass die Bundesrepublik ihre Daseinsgrundlage einbüßt, wenn sie das Ziel der deutschen Einheit aus ihrem politischen Handeln verdrängen lässt."

Sein Kampf für die schnelle Wiedervereinigung brachte ihn in Widerspruch zu Adenauer. Er kämpfte gegen den Mief alter Obrigkeit. Politisch fand er in Franz Josef Strauss seinen langjährigen Gegenspieler. Er hat sich nie und von niemandem vereinnahmen lassen, sein Freund Martin Walser nannte ihn einmal ein "Verehrungsverweigerungstalent". Und doch nahm er die Ehrenbürgerschaft Hamburgs an. Und er nahm - nicht ohne Stolz - das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland entgegen.

Zu recht: Rudolf Augstein war ein brillanter, ein unabhängiger und unbestechlicher Analytiker. Er war aber noch mehr: ein unbeugsamer Demokrat, der sich kämpferisch einmischte in die öffentlichen Angelegenheiten. Es war sein Verständnis von der wehrhaften Demokratie, das ihn Partei ergreifen ließ für die Freiheit der Meinung und für die Freiheit des Wortes. Es war die Erfahrung aus der Katastrophe des Nationalsozialismus, die ihn zu einem der mächtigsten Streiter für die freiheitliche Ordnung Deutschlands machte. Seine Respektlosigkeit gegenüber jeglicher Autorität entsprang seinem Respekt vor den Grundlagen unserer Demokratie.

Die Wahrheit des Glaubens: ihr galt das andere, große Interesse Augsteins.

Rudolf Augstein hat an seiner Kirche und an den Kirchen gelitten. Einen Suchenden, einen, der immer fragte "Warum?", den mussten Antworten seiner streng katholischen Eltern wie "Weil das eben so ist" zur Weißglut bringen.

Rudolf Augstein hat versucht, eine Art Glauben für sich selber zu retten und zugleich den Kirchenglauben zu entlarven und zu zerstören, den er als versteinerte Dogmatik aus Herrschaftsinteressen verstand. Die Bibel und die Gestalt des Menschen Jesus von Nazareth, die blieben ihm wichtig. So schrieb er einmal, "das menschlichste, das vielfältigste, das tiefste und höchste Erzählwerk der Welt" sei "die alt-neue Bibel noch immer". Er suchte nach dem Menschen in Jesus, er schrieb ein wahrlich kritisches Buch voller Zuwendung über ihn.

Auch wenn er die Kirche bewußt verlassen hatte, auch wenn er nach außen als der große Skeptiker galt: Er glaubte bis zuletzt an den einen "Uhrmacher", der unsere Zeit und unser Wirken bestimmt.

III.

Wir erinnern heute an einen großen Deutschen, einen wahrhaften Patrioten, einen herausragenden Journalisten. Rudolf Augstein hat sich um Deutschland verdient gemacht. Wir nehmen heute von ihm Abschied in Dankbarkeit und voller Zuneigung.

Deutschland ist ärmer ohne ihn.

Wir erinnern uns an einen klugen, auch an einen schwierigen Mann. Jeder von uns, auch ich, hat seine eigenen Erinnerungen an Begegnungen und an Artikel, an einzelne Sätze, an Kommentare, die Rudolf Augstein gesagt und geschrieben hat.

"Wenn ich weg bin, bin ich weg", hat er in seinem letzten Interview gesagt.

Rudolf Augstein ist jetzt angekommen. Wir aber haben noch zu tun, und wir sollten uns dabei seiner erinnern.