Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des 150. Jahrestages der deutschen Einwanderung nach Chile

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 28. November 2002

Vor 150 Jahren haben die ersten deutschen Einwanderer ihre neue Heimat erreicht, die Küste des südlichen Chile - die ersten Einwanderer, die organisiert aus Deutschland dorthin kamen.

Der Pioniergeist dieser Menschen ist noch heute bewundernswert. Die Familien, die auswanderten, hatten eine lange, anstrengende und gefährliche Reise hinter sich - ans Ende der Welt, wie man damals sagte. Sie waren aus einem Land aufgebrochen, in dem wenige Jahre zuvor der Versuch gescheitert war, einen liberalen, demokratischen Nationalstaat zu gründen. In vielen Teilen Deutschlands herrschte damals große wirtschaftliche und soziale Not, es gab Zensur, die Meinungsfreiheit war eingeschränkt.

Die Deutschen, die damals in das ferne unbekannte Land aufbrachen, träumten von einer besseren Zukunft für sich und für ihre Kinder, von wirtschaftlicher Sicherheit und politischer Freiheit. Ihre Hoffnung hat sie nicht getrogen. Jeder Neuankömmling erhielt ein Stück Land und materielle Hilfe. Chile, das zu jener Zeit schon seit vielen Jahren eine Republik war, gewährte ihnen auch die erhofften Freiheiten. In kurzer Zeit gelang es ihnen, blühende Siedlungen aufzubauen. Sie durften sie auch selber verwalten.

Überwiegend waren es evangelische Familien, die ins katholische Chile auswanderten. Für die damalige Zeit erscheint das durchaus ungewöhnlich. Aber es gibt eine gute Erklärung dafür: Der neue Staat, der sich erst wenige Jahrzehnte zuvor von Spanien losgesagt hatte, war ein Land der Toleranz, er garantierte die Religionsfreiheit.

Insgesamt sechstausend deutsche Familien sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Süden Chiles gekommen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Freundschaft zwischen Deutschland und Chile bis heute auf einem soliden Fundament ruht. Die Deutsch-Chilenen, die in der Neuen Welt ihr Glück gefunden haben, haben die Verbindungen in die alte Heimat nie abreißen lassen. Und in ihrer neuen Heimat haben sie und ihre Nachkommen mit Fleiß und Begabung daran mitgearbeitet, Chile wirtschaftlich, kulturell und politisch zu entwickeln. Sie haben dabei mitgeholfen, dass Chile ein weltoffenes Land geworden ist.

Nach der Rückkehr zur Demokratie ist Chile heute wieder ein politisch, wirtschaftlich und sozial stabiles Land. Von Chile gehen wichtige kulturelle Impulse aus. Pablo Neruda hat den Nobelpreis für Literatur erhalten; Isabel Allende ist eine Autorin, deren Bücher auch in Deutschland viel und gern gelesen werden.

Chile ist für Deutschland und Europa ein wichtiges Land in Lateinamerika. Die Europäische Union und Chile haben erst vor wenigen Tagen ein neues Abkommen geschlossen, das die bewährte Zusammenarbeit weiter ausbauen soll.

Zur Zeit des Dritten Reiches hat Chile vielen meiner Landsleute und vielen anderen Europäern eine neue Heimat geboten. Dafür sind wir bis heute dankbar. Nach 1973 haben viele Chilenen in Deutschland Zuflucht und Sicherheit gefunden. Unter ihnen war auch Antonio Skármeta. Heute ist er der Botschafter Chiles in Deutschland. Mit ihm ist Chile in Deutschland gleichsam zweimal vertreten, denn auch als Schriftsteller genießt er großes Ansehen.

Ich freue mich darüber, dass Sie den hundertfünfzigsten Jahrestag der deutschen Einwanderung nach Chile so festlich begehen. Wir haben guten Grund, den 28. November zu feiern - in Freude, Dankbarkeit und in der Hoffnung auf eine gute gemeinsame Zukunft unserer beiden Länder.