Tischrede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des Abendessens zu Ehren des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katsav

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 9. Dezember 2002

I.

Für meine Frau und für mich ist es eine große Freude, Sie Herr Präsident heute Abend hier im Schloss Bellevue begrüßen zu können. Wir heißen mit Ihnen den Präsidenten eines Staates willkommen, dem unser Land eng und freundschaftlich verbunden ist und deshalb sage ich Ihnen und Ihrer Delegation: Bruchím Habaím

II.

Es grenzt an ein Wunder: Aus dem, was David Ben Gurion und Konrad Adenauer begonnen haben, ist eine solide Partnerschaft, ja Freundschaft geworden. Gegen diese Politik gab es am Anfang in beiden Ländern beträchtliche Widerstände. Konrad Adenauer brauchte damals die Stimme der Opposition, um eine Mehrheit für das Luxemburger Abkommen im Deutschen Bundestag zu finden.

Heute erfassen die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland alle Gebiete. Ich freue mich ganz besonders über die vielen Städtepartnerschaften, und ich freue mich über den Jugendaustausch. Ich selber habe erst vor wenigen Wochen zwanzig Jugendliche hier im Schloss Bellevue aus Israel mit ihren deutschen Freunden zu Gast gehabt. Gestern haben wir gemeinsam das fünfundzwanzigjährige Bestehen der Partnerschaft zwischen Beer Scheva und Wuppertal gefeiert. Und das ist nur eine von inzwischen fast einhundert Städtepartnerschaften.

III.

So eng, so umfassend und so freundschaftlich unsere Beziehungen auch sind, sie werden nie sein wie die Beziehungen zwischen anderen Staaten.

Die Vergangenheit wird die deutsch-israelischen Beziehungen immer mitbestimmen. Das ist uns heute Nachmittag in Sachsenhausen wieder ganz bewusst geworden. Gewiss, es ist uns gelungen, von beiden Seiten her eine Brücke über den Abgrund des Verbrechens zu bauen, das in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist. Wir müssen uns aber stets vor Augen halten, auch stabile Brücken sind nicht beliebig belastbar. Leichtfertiges und törichtes Gerede Einzelner kann großen Schaden anrichten, kann das Vertrauen erschüttern, das in den vergangenen fünfzig Jahren mit großer Beharrlichkeit und Aufrichtigkeit geschaffen worden ist.

IV.

In Deutschland ist wieder jüdisches Leben entstanden. Fritz Stern, der renommierte Historiker, den ich kürzlich bei der 300-Jahr-Feier der Universität Breslau wieder einmal getroffen habe, hat das als "zweite Chance" bezeichnet. Ein Beispiel dieser Wiedergeburt ist die Synagoge in meiner Heimatstadt Wuppertal, an deren Einweihung wir beide, Herr Präsident, gestern haben teilnehmen dürfen.

Sie werden bei Ihren Gesprächen mit dem Zentralrat der Juden und mit der Jüdischen Gemeinde in Berlin erfahren haben, wie lebendig und wie stark jüdisches Leben auch in der Stadt wieder geworden ist, in der die Vernichtung der Juden geplant wurde. Ich weiß aber auch, dass Sie nicht nur Erfreuliches und Positives gehört haben. Es gibt antisemitische Übergriffe, Haltungen und Äußerungen. Das ist die schlimm. Deutschlands jüdische Bürgerinnen und Bürger wissen mich und die ganz große Mehrheit unseres Volkes an ihrer Seite, wenn es darum geht, dem entgegen zu treten.

V.

Herr Präsident, ich denke oft an unsere Begegnung im November 2000 zurück und daran, mit welcher Sorge Sie damals auf die weitere Entwicklung in Ihrer Region geblickt haben. Leider haben sich die Dinge seither nicht zum Besseren gewendet.

Wenn ich die Bilder aus Israel sehe, dann muss ich an die Juden denken, die 1945 - als einzige aus der ganzen Familie - den Mördern entkommen waren und die in Palästina Zuflucht suchten und fanden. Sie glaubten, in Israel die sichere "Heimstatt" gefunden zu haben, von der Theodor Herzl geträumt hat.

Heute, mehr als fünfzig Jahre nach der Gründung des Staates Israel, werden viele wieder Furcht, Schrecken und Angst empfinden, die Gefühle, die Juden während der langen Geschichte ihrer Verfolgung begleitet haben, ganz besonders im nationalsozialistischen Deutschland.

Für uns in Deutschland ist dieses Gefühl der Unsicherheit und der Angst vor dem, was der morgige Tag an Schrecklichem bringen mag, zum Glück fremd geworden. Der Kalte Krieg ist friedlich zu Ende gegangen, Deutschland fand unter Zustimmung der Welt zu seiner Einheit zurück, und die Spaltung Europas, das in seiner leidvollen Geschichte so viele Kriege erlebt hat, wurde überwunden. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist Deutschland von Freunden umgeben. Mittlerweile sind hier zwei Generationen in Frieden und Wohlstand aufgewachsen. und darum ist meine Bitte an alle, die Kritik an der israelischen Politik üben: Denken Sie daran, dass die Menschen in Israel mit anderen Erfahrungen groß geworden sind. Wenn man versucht, das zu verstehen und nachzuempfinden, dann muss man nicht auf Kritik verzichten, auch nicht auf harte Kritik.

VI.

Wenn in unserer öffentlichen Debatte die Politik Israels kritisiert wird, dann kann das aus ganz unterschiedlichen Motiven geschehen. Oft liegt der Kritik ein Gefühl der Freundschaft und der Sorge zu Grunde. Denn unverändert gilt: Deutschland steht als Freund an der Seite Israels, gerade dann, wenn Ihr Land besonders darauf angewiesen ist. Für deutsche Politiker ist es historische Verpflichtung und persönliches Anliegen zugleich, sich gegenüber dem Staat Israel und seinen Bürgern besonders verantwortlich zu fühlen. Das galt für die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland und für die Politiker meiner Generation, das gilt aber auch für die jüngeren Politiker, die heute Verantwortung tragen. Die Politiker aller demokratischen Parteien setzen sich dafür ein, dass Israel in international anerkannten Grenzen und in Sicherheit leben kann, frei von Furcht und Terror.

Das bedeutet nicht nur, dass der palästinensische Terrorismus gegen Israel beendet werden muss. Friede und Sicherheit für alle Menschen im Nahen Osten kann es nach meiner Überzeugung nur geben, wenn alle Staaten in der Region durch eine glaubwürdige Politik unumkehrbare Tatsachen schaffen.

VII.

Terrorismus ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch der Einsatz militärischer Mittel kann aber gewiss nur ultima ratio sein, wenn es darum geht, Gefahr abzuwehren. Jeder weiß doch, dass eine dauerhafte Lösung nur friedlich sein kann, mit Gewalt erzwingen lässt sie sich nicht, von keiner Seite. Der jahrzehntelange Kampf um Sicherheit, unter ständiger Bedrohung, führt zu Verstrickung, vielleicht verengt er auch den Blick. Es ist nicht leicht, von außen zu raten. Mir scheint sicher: Rein militärisch ist das Nahostproblem nicht zu lösen. Der Teufelskreis der Gewalt muss durchbrochen werden. Zerstörung und Erniedrigung führen nicht weiter - sie schwächen nur die Friedenswilligen, und ohne sie lässt sich keine gute Zukunft für alle bauen.

Ich bin davon überzeugt: Friede und Sicherheit kann es nur geben, wenn die Besetzung Palästinensischer Gebiete beendet wird und wenn die Palästinenser die Erfahrung machen, dass sie in einem eigenen demokratischen und lebensfähigen Staat zu Hause sind, in dem sie ihre Angelegenheiten selber in die Hand nehmen und in Würde leben können.In diesen Tagen und Wochen gehen meine Gedanken oft zu Jitzak Rabin zurück, dem ich häufig begegnet bin. Sieben Jahre ist es her, dass er ermordet wurde. Er war ein mutiger Soldat, und er suchte als Ministerpräsident die Verständigung mit den Palästinensern - mit Weitsicht, Phantasie und Mut. Als er den Friedensnobelpreis entgegen nahm, hat er gesagt, dass er entschlossen sei, den Weg des Friedens zu gehen - "trotz des Blutzolls, den ein mörderischer Terrorismus fordert, trotz der fanatischen und grausamen Feinde des Friedens".

Vor wenigen Wochen hat uns König Abdullah II. besucht. Er setzt die mutige Politik seines Vaters fort und ist bereit, dafür große Risiken in Kauf zu nehmen. Er spielte eine wichtige Rolle beim Zustandekommen der arabischen Friedensinitiative. Viele sehen in dem Beschluss, den die arabische Liga im März dieses Jahres in Beirut gefasst hat, nach wie vor eine gute Grundlage und eine Chance für den Frieden in der Region.

Meine Landsleute und ich hoffen, dass Terror und Gewalt die Stimmen des Friedens nicht auf Dauer zum Verstummen bringen werden. Gewalt kennt keine Sieger, sondern nur Opfer und Verlierer. Die Einsicht, dass man miteinander reden muss, wenn das Morden aufhören soll, darf auch in düsteren Zeiten nicht verloren gehen.

VIII.

In diesen Tagen begleiten Sie, Herr Präsident Katsav, und Ihr Volk, unsere Hoffnungen und Gebete, dass es doch noch und bald gelingen möge, die Gewalt zu beenden und einen gerechten Frieden für Israel und seine Nachbarn zu finden. Nur ein gerechter und dauerhafter Friede kann die so sehnlich erhoffte Sicherheit bringen. Unsere israelischen Freunde sollen wissen, dass Deutschland bereit ist, Sie auf dem Weg dorthin zu unterstützen.