Tischrede von Bundespräsident Johannes Rau beim Abendessen für den Wissenschaftsrat am 15. Januar 2003 im Schloss Bellevue

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 15. Januar 2003

Anrede,

I.

Mit dem Wissenschaftsrat verbindet mich viel:

  • In den sechziger und siebziger Jahren, als wir in Wuppertal und in vielen Städten des Ruhrgebietes Gesamthochschulen gegründet haben, haben wir natürlich auch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates studiert.
  • Zum Teil zugleich war ich als Wissenschaftsminister lange Jahre Mitglied der Verwaltungskommission,
  • und auch als Ministerpräsident ist es ja kaum möglich, vom Wissenschaftsrat ganz unbehelligt zu bleiben...

Nun, als Bundespräsident, habe ich heute bereits das vierte Mal die Freude, die Mitglieder des Wissenschaftsrates hier im Schloss Bellevue zu empfangen.

Aus Vertrautheit entsteht leicht Routine und wo Routine aufkommt, da ist die Langeweile nicht fern. Sie alle haben jedoch auch in dem zurückliegenden Jahr durch ihre Arbeit wieder dafür gesorgt, dass aus Vertrautheit keine Langeweile entsteht. Sie haben neue Diskussionen angestoßen und alte beharrlich weiter und zu einem guten Ende geführt. Sie haben der Wissenschaft in einer schwierigen Zeit Wege gewiesen und Sie haben über kurzfristigen Entwicklungen den Blick für das Ganze nicht verloren(1).


II.

Schon seit Mitte der achtziger Jahre befindet sich das deutsche Wissenschaftssystem in einem tiefgreifenden Prozess der strukturellen Umgestaltung. Das ist eine Folge des Ausbaus der Wissenschaftseinrichtungen, den wir in den sechziger Jahren eingeleitet haben, und den der Wissenschaftsrat durch seine Expertise maßgeblich mitgestaltet hat.

Mehr Flexibilität, mehr Wettbewerb, eine bessere Verknüpfung von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft auf der einen Seite, weniger Vorschriften, weniger direkte staatliche Eingriffe und weniger Einsiedelei der Wissenschaft auf der anderen Seite, das sind die Punkte, um die es seit nunmehr fast zwanzig Jahren immer wieder ging, und immer war es auch und vor allem der Wissenschaftsrat, der die Diskussionen darüber angeregt und vorangebracht hat.

Manche Entwicklung ist indes erst angestoßen und muss nun entschlossen fortgeführt werden. Die Reform der staatlichen Abschlüsse und die bessere Abstimmung der Studienstrukturen auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zum Beispiel sind Themen, die der Wissenschaftsrat im letzten Jahr behandelt hat. Diese Themen sind wichtig und aktuell. Aber: auch sie standen bereits vor zwanzig Jahren auf der Tagesordnung des Wissenschaftsrates.

Das zeigt: Die Universitäten sind keine wendigen Motorboote, die beliebig die Fahrtrichtung ändern können; sie sind eher schwere Tanker, die ihren Kurs nur langsam und mit großem Wendekreis wechseln können, damit sie nicht in schwere See geraten. Wir sollten deshalb mit allzu häufigen Kursänderungen vorsichtig sein, zumal die Massenträgheit der Universität nur zu einem Teil von ihrer schieren Größe herrührt, zum anderen Teil aber Ausdruck einer langen Geschichte und sehr erfolgreichen Tradition ist, die manch modischen Anforderungen mit dem Recht dessen widersteht, was sich seit langem bewährt hat. Vieles, was sich modern gibt, ist ja tatsächlich nur modisch, sehr kurzlebig also.

Da, wo sie sinnvoll und nötig sind, müssen Kurswechsel freilich auch vollzogen werden. Es hilft nicht, unbeirrt an einer einmal eingeschlagenen Richtung festzuhalten, wenn man längst vom richtigen Weg abgekommen ist. Es gab und gibt auch unter denen, die an und für die Hochschulen Verantwortung tragen, immer noch manche, die glauben, sie könnten "viel tun, damit ja nichts passiert". Gelegentlich kennzeichnen auch falsches Prestigedenken und das Bestreben, eigene Privilegien zu retten, das Reden und Handeln der Beteiligten.

Bedächtigkeit im Überlegen und Handeln ist gut, wenn sie einem hilft, den richtigen Weg zu finden, und manchmal wünschte man sich mehr davon in diesen Tagen, die durch mancherlei sterile politische Aufgeregtheit geprägt sind. Bedächtigkeit ist aber etwas anderes als Stillstand und hinhaltender Strukturkonservatismus.


III.

Wenn man sich die Empfehlungen des Wissenschaftsrates aus dem letzten Jahr ansieht, dann macht das Mut.

Gut für die Politik, aber auch gut für die Wissenschaft war und ist, dass der Wissenschaftsrat dabei nicht die Bodenhaftung verloren hat. Der Zwang zum Konsens treibt manchmal seltsame Blüten, das ist schon wahr, und oft ist die Arbeit des Wissenschaftsrates deswegen auch kritisiert worden. Wahr ist aber auch, dass dieser Zwang häufig heilsam ist:

Dort, wo die Begeisterung und ein allzu engagierter Lobbyismus für die gute Sache manchmal über das Ziel hinauszuschießen drohen, sorgt die Beteiligung der Verwaltungen an den Verhandlungen des Wissenschaftsrates für Zurückhaltung und wohltuende Nüchternheit. Dort, wo die Ministerien im Sumpf des "Das haben wir schon immer so gemacht" zu versinken drohen, wirken die Ideen und Argumente aus den Reihen der Wissenschaftlichen Kommission häufig befreiend und klärend.


IV.

Ich will gleichwohl nicht verhehlen, dass mir in der wissenschafts- und bildungspolitischen Diskussion oft etwas fehlt.

Diese Diskussion ist bei uns häufig eine reine Strukturdiskussion. Es geht um neue Organisationsformen, um neue Lenkungsstrukturen und Anreizsysteme, um Evaluation und Prospektion, um Autonomie und Zielvereinbarungen.

Die große Aufmerksamkeit für strukturelle Fragen des Managements von Wissenschaftseinrichtungen ist gewiss hilfreich. Es gibt da offensichtlich einen großen Nachhol- und Verbesserungsbedarf.

Ich möchte aber doch zu bedenken geben, dass die wissenschaftspolitische Diskussion zu kurz greift, wenn sie sich auf Themen dieser Art oder auf den Streit um die richtige Höhe oder Verteilung der Mittel beschränkt.

So wie die Bildungsdiskussion dort zu verflachen droht, wo die Frage nicht mehr gestellt wird, was und wozu wir lernen sollen, so verhält es sich auch in der Wissenschaftspolitik. Es ist schon richtig, dass manche Diskussionen in der Vergangenheit über die "Idee der Universität" und über die "Aufgabe und Verantwortung der Wissenschaft" manchmal so hochgestimmt daherkamen, dass der Blick für die Probleme des institutionellen und organisatorischen Alltags in den Universitäten und Forschungsinstituten verloren ging. Etwas mehr vom Geist dieser Diskussionen würde ich mir aber heute schon wünschen.

Reicht es wirklich aus, wenn wir uns im Bereich der Wissenschaft nur um Struktur- und Managementoptimierung kümmern, ohne die Frage nach dem Sinn solcher Maßnahmen zu stellen?

  • Mehr Effizienz ist gut, aber wozu?
  • Welchen Maßstäben soll die universitäre Bildung in unserem Land folgen?
  • Wie sollen sich die Inhalte der allgemeinen schulischen Bildung zu den Inhalten der Hochschulbildung unter heutigen Bedingungen verhalten?
  • Wie soll das Verhältnis von Lehre und Forschung künftig aussehen?
  • Wie soll die Beziehung von Geistes- und Naturwissenschaften gestaltet werden?
  • Welchen Beitrag können die Wissenschaften über ihren Forschungsertrag im engeren Sinn hinaus zur Gestaltung der Zukunft unseres Gemeinwesens leisten - das heißt: Wie stellen wir uns den Brückenschlag von der Wissenschaft in die Gesellschaft vor?
  • Wasdarfdie Wissenschaft, welchen Grenzen soll sie unterworfen werden und wer zieht diese Grenzen?

Diese und viele ähnliche Fragen werden in wissenschaftspolitischen Diskussionen derzeit gerne ausgeklammert, vielleicht auch deshalb, weil man lange nachdenken muss, wenn man richtige Antworten zu geben versucht.

Ich finde das schade und ich wünschte, dass das anders wird und dass alle Beteiligten, die Wissenschaftler, die Politiker und die Öffentlichkeit mehr Mut bekommen, diese Fragen zu stellen undsichdiesen Fragen zu stellen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Frage, "wozu mehr Effizienz gut sein soll", selber schon als effizienzmindernd abgewehrt wird.

Wilhelm von Humboldt hat die deutsche Universität weltweit zum Erfolgsmodell gemacht, weil er eine klare Vorstellung von Ziel und Zweck der Hochschulen und vom Sinn des gemeinsamen universitären Arbeitens hatte. Seine Verbindung von Lehre und Forschung hat den Professoren große Freiheiten gewährt und ihnen weitgehend selber überlassen, wie und worüber sie arbeiten. Zugleich hat er die Lehre weit über das bis dahin gelegentlich anzutreffende Schulniveau gehoben und die Studierenden an die vorderste Forschungsfront herangeführt.

Heute müssen wir nicht nur die Idee der Gemeinschaft von Studierenden und Forschenden, sondern auch so manches Bildungsideal aus dem angelsächsischen Raum reimportieren.

Der Wissenschaftsrat hat in der Vergangenheit in seinen Stellungnahmen Weitsicht bewiesen. Er hat mit seiner Arbeit immer wieder überzeugend gezeigt, dass er die Probleme und Herausforderungen in der deutschen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft nicht einseitig und im Auftrag einer Lobby analysiert. Ich bin mir darum gewiss, dass er auch in dem vor uns liegenden Jahr wichtige Impulse für die wissenschaftspolitische Diskussion geben wird. Dafür danke ich allen, die dazu beitragen.

Sie, die Sie heute Abend hier im Schloss Bellevue sind, heiße ich herzlich willkommen.


Beispielsweise unterstützt der Wissenschaftsrat die Neugründungen privater Universitäten; er hat aber mit der Schaffung eines Akkreditierungsrates 2001 die Überprüfung hoher Qualitätsmaßstäbe durchgesetzt. Auch mit seinen Stellungnahmen zur Stärkung der Fachhochschulen hat der Wissenschaftsrat in letzter Zeit gezeigt, dass er eine Vorstellung davon hat, wie die Hochschullandschaft in weiterer Zukunft aussehen sollte.