Rede von Bundespräsident Johannes Rau auf dem Festakt des Kinderschutzbundes anlässlich seines fünfzigjährigen Bestehens

Schwerpunktthema: Rede

Potsdam, , 16. Mai 2003

Herr Vorsitzender Hilgers,

Frau Bundesministerin,

meine Damen und Herren,

das Wort "Lobby", das Sie hier im Logo stehen haben, gehört nicht zu den Worten, die man besonders gern ausspricht. Unter "Lobbyisten" versteht man diejenigen, die über Flure gehen und für Interessen eintreten und gelegentlich auch Beraterverträge anbieten.

Ich finde, dass es eine Lobby für Kinder gibt, das ist nicht nur schön, gut und dringend, das ist unverzichtbar. Kinder haben sonst keine Lobby, und Kinder, die noch nicht zu Ende formulieren, die noch nicht machtvoll durchsetzen können, was sie wollen, brauchen nicht nur Zuhörer und Gesprächspartner, sie brauchen auch eine Lobby.

Dass wir ein Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben, Frau Bundesministerin, das finde ich schön, schon, weil ich auch vorkomme im Namen Ihres Ministeriums.

Das mit den Kindern ist ja auch jenseits der eigenen Erfahrung schon in unserer Kulturgeschichte nicht ganz unproblematisch. Es gibt Philosophen und Soziologen, die sagen, dass es den Begriff der Kindheit eigentlich erst seit 200 Jahren gibt; dass die Zeit der Kindheit aber in unserer Gegenwart immer kürzer wird zugunsten der Zeit des Jugendlichen; dass es durchaus Tendenzen gibt, Kindheit zu begrenzen und abzukürzen, damit man schnell hineinwächst in den Markt, in die Markenbekleidung, in das Fernsehen, in das Internet.

Wir alle haben unsere Bilder von den jungen Menschen, und in vielen Publikationen sind das ganz skeptische Bilder. Wer genau hinsieht, stellt fest: Das ist die gleiche Skepsis gegenüber der jungen Generation, die Perikles vor 3.000 Jahren schon geäußert hat. Das Gerede ist immer das gleiche, aber es gibt da ein Spannungsfeld. Wer wie ich bezichtigt wird, besonders bibelkundig zu sein, dem fällt natürlich dieser Spannungsbogen auf: Einmal steht im Evangelium: "So ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht ins Reich Gottes kommen". Im gleichen Buch sagt der Apostel: "Da ich ein Mann ward, legte ich ab, was kindisch war". Also: "Kindlich" und "kindisch" sind offenbar sehr unterschiedliche Sachverhalte. Das eine ist ein Traum, das andere ist eine schreckliche Bedrückung.

Ich will Ihnen einfach ein paar Denkanstöße zu geben versuchen.

Der erste: Es geht nicht nur darum, dass wir nett sind zu Kindern, sondern es geht darum, dass wir unsere Gesellschaft kritisch unter dem Gesichtspunkt sehen, ob wir kinderfreundlich sind. Das ist nicht nur eine Frage nach Hort und Kindergarten. Das ist nicht nur eine Frage nach Tagesmüttern. Das ist auch eine Frage nach Verkehrsplanung, Straßenbau und Wohnungsbau, denn manche Verkehrsader ist in Wirklichkeit eine blutige Ader geworden. Wer gerade den Film gesehen hat über den toten Winkel in LKW und über die Kosten, die es verursachen würde, diese LKW sicherer zu machen - gerade für Kinder, der weiß, wovon ich rede. Der eine oder andere weiß auch, wovon ich rede, wenn ich sage: Es gibt Wohnungen, in denen die Kinderzimmer von begehbaren Wandschränken nur schwer zu unterscheiden sind. Es gibt genauso wenig Licht in ihnen.

Die zweite Erkenntnis: Wir müssen in der Arbeitspolitik - im weitesten Sinne in der Beschäftigungspolitik - Rücksicht darauf nehmen und darauf hinwirken, dass man Kinder haben kann, ohne bestraft zu werden durch "Lohnentzug". Da sind wir in Deutschland in einer sehr viel schlechteren Situation als manche unserer europäischen Nachbarn. Ich weiß ja nun, dass die politischen Parteien unterschiedlich heftig, unterschiedlich lange schon über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie reden. Ich weiß aber auch, wie viel da noch zu tun ist und wie viel an Umdenken nötig ist, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestärkt wird und damit vermieden wird, was wir jetzt haben: nämlich eine Million Kinder, die von der Sozialhilfe leben müssen. Es gibt inzwischen Familien, die in der zweiten und dritten Generation von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe leben. Das kann nicht gut gehen, das muss man zu bekämpfen versuchen, da muss man bessere Lösungen finden, als wir sie jetzt haben.

In Frankreich gibt es ein sehr viel besser ausgebautes System der Hilfe für Familien mit Kindern, was die Betreuungsmöglichkeiten angeht. Frankreich hat eine sehr viel höhere Geburtenrate als wir in Deutschland. Ich kann nicht im einzelnen darüber philosophieren, warum das so ist, aber es hat sicher auch zu tun mit den Angeboten, die gemacht werden, und ich gebe zu: Es hat wohl auch damit zu tun, dass wir in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten so pessimistisch geworden sind. Wer von der Zukunft nichts hält, der setzt keine Kinder in diese Welt. Das tut nur, wer einen offenen Blick für die Zukunft hat. Das muss ja nicht so sein wie im 19. Jahrhundert, als man glaubte, die Zukunft nimmt uns alle Ketten - aber, wissen Sie, es gibt Leute, die sehen die Zukunft nur wie einen Tunnel, und es gibt Menschen, die, wenn sie am Ende des Tunnels Licht sehen, sofort einen neuen Tunnel kaufen. Das hilft uns nicht. Wir brauchen eine zuversichtliche Gesellschaft, und ich hoffe, dass wir in Deutschland dafür ein Gespür entwickeln.

Der Kinderschutzbund ist fünfzig Jahre alt - der Gedanke ist älter. Es ist richtig, dass Sie diesen Namen behalten haben. Es ist richtig, dass Sie auf zweifache Weise den Gedanken des Kinderschutzbundes dienen: Einmal, indem Sie für Kinder und ihre Welt werben; auf der anderen Seite, indem Sie Kindern konkrete Hilfe anbieten, mit den vielen Möglichkeiten und Mitteln, die Sie haben: Vom Sorgentelefon bis hin zur Nachhilfe bei schulischen Minderleistungen. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass wir mehr Menschen finden, die Kinder gern haben.

In meiner Zeit als Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen habe ich manchmal Professoren an pädagogischen Hochschulen zu Berufungsgesprächen da gehabt, die habe ich dann zwischendurch mal unterbrochen und gefragt: "Sagen Sie mal, mögen Sie eigentlich Kinder?". Die sprachen von allem, von Schulstrukturen und von Fachdidaktik; nur von Kindern sprachen sie nicht. Kürzlich habe ich eine Rede gehört, da ging es um Berufsbildung, in der kam alles vor, außer einem Lehrling und einem Meister. Das ist nicht in Ordnung, wir brauchen wieder eine Rückkehr zum Personalen. Darum brauchen wir auch eine Hinwendung zu mehr ehrenamtlichem Tun, als wir es bisher in Deutschland haben.

Es gibt eine große Diskussion über Gentechnologie, es gibt eine große Diskussion über pränatale Medizin - ich will das hier im Einzelnen nicht aufgreifen, ich habe dazu vor zwei Jahren versucht, einige Grundsätze zu sagen - ich will nur einen Satz aus dieser Rede noch einmal zitieren: Es gibt kein Recht auf Kinder - so bitter das ist, aber Kinder haben ein Recht auf liebende Eltern. Die Frage ist, ob wir dazu beitragen und ob wir etwas von dem alten Satz Fröbels, der den Kindergarten erfunden haben soll, in unser Leben aufnehmen: "Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts".

Wenn Erziehung Beispiel und Liebe ist, dann geht es gegenüber Kindern auch immer um die Glaubwürdigkeit der Erwachsenen, derer, die einmal Kind gewesen sind und sich daran sehr häufig nicht oder nur verträumt oder albtraumhaft erinnern.

Wenn uns das gelingt, dann gelingt es auch mit der Arbeit des Kinderschutzbundes, der fünfzig Jahre alt wird, dem ich für seine Arbeit danke, dem ich zum Jubiläum gratuliere und dem ich nicht nur die hunderttausend Mitglieder wünsche, wie Herr Präsident Hilgers das getan hat. Ich denke immer, Herr Hilgers, an den Pastor in meiner Heimatstadt, der die höchsten Kollekten überhaupt hatte. Der sagte: "Gleich geht der Klingelbeutel durch die Reihen. Wenn jeder das Doppelte von dem gibt, was er geben wollte, dann hat er genau die Hälfte dessen gegeben, was Gott von ihm erwartet".

Wer nach Potsdam kommt, lernt nie aus. Ich habe hier in Potsdam gelernt, Herr Hilgers, dass Sie eine eigene Zeitschrift haben. Für die kriegen Sie mein Manuskript. Und jetzt wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.