Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des Deutschen Baumeister-Tages 2003

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 30. Mai 2003

Herr Präsident Wagner, Herr Bundesminister, Herr Erster Bürgermeister, meine Damen und Herren,

es geht einem immer so, wenn vorher ein Grußwort gesprochen wird, dass einem viele Stichworte genannt werden, auf die man gerne einginge. Sie glauben gar nicht, wie gerne ich als früherer Wissenschaftsminister etwas über Bachelor und Master Degrees und Ingenieurausbildung sagen würde. Das muss ich mir heute aber selber versagen, weil ich mir vorgenommen hatte, in meinem Grußwort ein Thema anzusprechen, das anschließt an das, was ich vor zwei Monaten bei dem Kongress über Baukultur gesagt habe. Das war eine gute und wichtige Veranstaltung. Ich würde gerne einen Gedanken weiterführen und Sie gleichzeitig um Verständnis dafür bitten, dass ich nicht den ganzen Vormittag bei Ihnen bleiben kann.

In der gegenwärtigen Zeit brauchte der Bundespräsident eigentlich einen Wandergewerbeschein, weil er seinen Beruf im Umherziehen ausübt. Gestern Aachen und Solingen, heute Morgen Hamburg, heute Nachmittag Ökumenischer Kirchentag in Berlin, man kommt in die Zwänge des Terminkalenders und wird ein bisschen atemlos.

Ich wünschte mir, das wir im Laufe der Zeit eine neue gesellschaftliche Verständigung darüber erreichen, was gutes Bauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts bedeuten kann und bedeuten sollte. Sie unterstützen ja, wir haben es eben von Herrn Wagner gehört, die Initiative Baukultur und ich vermute deshalb, dass der eine oder andere von Ihnen am 4. April dabei gewesen ist.

Wenn man auf dieser Veranstaltung damals gesprochen hat, und zwei Monate später wieder über Bauen und Architektur sprechen soll, dann besteht die Gefahr, dass man sich wiederholt. Ganz lässt sich das gewiss nicht vermeiden, aber ich würde gerne heute über eine andere Facette der Baukultur, von menschenfreundlicher Architektur sprechen.

Sie haben das Motto gewählt: "Bauen sichert Zukunft". Das lässt viele Interpretationen zu. Eine haben wir soeben gehört. Das ist sicherlich auch gedacht so. Dass sich die Anforderungen an die Architektur, an den Städtebau, an die Bauwirtschaft verändern, dass hängt ja auch ganz eng mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Allein die demografische Entwicklung stellt unsere ganze Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik vor historisch neue Fragen und Herausforderungen.

Ich habe den Eindruck, dass wir sehr viel über die Zukunft von Systemen reden: Über die Rentenversicherung, über die Krankenversicherung und über den Arbeitsmarkt. Das ist gewiss nötig, aber mir kommt ein Aspekt dabei etwas zu kurz: Wie werden die Menschen in 30 Jahren leben? In einer Gesellschaft, in der die über 60-jährigen mehr als 35 %, mehr als ein Drittel, der Bevölkerung ausmachen werden? Wie werden sich die Bedürfnisse verändern, wie werden sich die Lebensstile verändern?

Wer sich heute mit offenen Augen die Werbung in Zeitschriften, in Zeitungen, im Fernsehen ansieht, der kann leicht den Eindruck gewinnen, wir lebten in einer ewig jungen Gesellschaft, in der die Menschen immer offen sind für alles Neue. Jugend, das ist offenbar das Idealbild der Gegenwart. Eine Gesellschaft, die sich dem Wahn der ewigen Jugend verschrieben hat, verschließt aber die Augen vor der Zukunft des Einzelnen.

Wir sehen Berichte von Hochtechnologiemessen, die Geräte zeigen, die immer kleiner und immer komplizierter werden. Tastaturen auf Fernbedienungen und Telefonen, werden immer filigraner. Die Bedienungsanleitungen werden in gleichem Maße immer länger und unverständlicher. Ich glaube nicht, dass sich die Rentner von morgen vollständig von der älteren Generation von heute unterscheiden werden, der ich angehöre. Ich habe den Eindruck, dass immer noch viel zu viel an den Bedürfnissen älterer Menschen vorbeigedacht, vorbeigeforscht und entwickelt wird. Das gilt nicht nur in technischen Dingen, auch die Stadt- und Regionalplaner, die Bauingenieure und die Architekten müssen sich die Frage stellen: Sind wir auf den demografischen Wandel vorbereitet?

Der Anteil der über 60-jährigen wird von heute 22 % auf über 35 % im Jahre 2030 steigen. Das ist eine ziemlich sichere und solide Prognose, denn die über 60-jährigen des Jahres 2030 sind ja schon vor 33 Jahren geboren. Im Durchschnitt ist über 90 % der Bausubstanz des Jahres 2010 schon heute gebaut, und ich unterstelle, das meiste davon wird auch noch im Jahre 2030 Bestand haben. Wir müssen fragen: Sind unsere Städte wirklich so generationengerecht gebaut, dass sich junge Menschen, Singles, Familien, ältere Menschen darin gleichermaßen wohlfühlen können? Sind die Wohnungen und Häuser in den Städten und Gemeinden so flexibel, dass sie sich mit wenig Aufwand den wandelnden Bedürfnissen der Menschen anpassen lassen? Das Sicherheitsbedürfnis älterer Menschen ist wesentlich größer als das junger Menschen. Sind wir darauf in der Stadtplanung und in der Regionalentwicklung ausreichend vorbereitet? Vorhängeschlösser, Sperrriegel, vergitterte Fenster, das ist ja keine Antwort, die ausreicht.

Gewiss werden die 30-jährigen von heute mit den modernen Kommunikationstechnologien auch in 30 Jahren noch umgehen können, aber gibt es diese Technologien dann noch? Oder vielleicht ganz andere? Wie muss die Infrastruktur der Städte der Zukunft aussehen, damit sie den Bedürfnissen aller Menschen gerecht wird? Wie müssen Städte, wie müssen Wohnungen aussehen, in denen man auch gerne mit Kindern lebt? Gerade Familien mit mehreren Kindern haben es immer noch schwer, eine Wohnung zu finden, die groß genug und bezahlbar ist. Noch immer gibt es Wohnungen, in denen Kinderzimmer kaum von begehbaren Wandschränken zu unterscheiden sind. Immer mehr Siedlungen entstehen da, wo es grün und ruhig ist, fernab vom Lärm und der dichten Infrastruktur der Städte.

Die Wege werden immer weiter. Ältere Menschen sind aber weniger mobil als junge Menschen. Das sind gegenläufige Entwicklungen, die wir wieder zusammenbringen müssen. Künftig müssen mehr Dienstleistungen zu den Menschen kommen, damit die Menschen weniger Wege zurücklegen müssen. Ich kann das bislang allerdings kaum erkennen. Die Banken dünnen ihr Filialnetz immer weiter aus, die Post baut immer mehr Briefkästen ab, in immer mehr Bahnhöfen hält kein Zug mehr, immer mehr öffentliche Einrichtungen werden an zentralen Orten zusammengefasst, immer mehr Geschäfte und Einkaufszentren sind nur noch mit dem Auto zu erreichen. Diese Entwicklung mag ja betriebswirtschaftlich gesehen vernünftig sein, die volkswirtschaftlichen Kosten sind aber immens, ganz zu schweigen von den sozialen und ganz persönlichen Folgen, wie Vereinsamung und Isolation. Wir sollten diesen Trend nicht einfach laufen lassen. Wir müssen dem etwas entgegensetzen.

Manch einer sagt jetzt vielleicht, es sei Aufgabe der Soziologen und der Zukunftsforscher, sich mit solchen Fragen zu befassen. Ich sehe das anders: Wer als Architekt und Baumeister sein Handwerk professionell versteht, der steht auch immer in einer gesellschaftlichen Verantwortung. Über dem einzelnen Haus, das gebaut wird, sollte man nicht die Stadt vergessen, in der das Haus steht.

Die Bevölkerungsprognosen sagen uns, dass die Geburtenrate weiter abnehmen wird. Wenn das stimmt, dann stellen sich natürlich auch Fragen nach dem Rückbau oder der Umnutzung von Kindergärten, von Schulen und Spielplätzen. Auch darüber sollten sich die Verantwortlichen vor Ort Gedanken machen, bevor Gebäude leer stehen und Plätze verwahrlosen.

Die soziale und die ökonomische Entwicklung der Städte und Regionen wird maßgeblich bestimmt durch die Zuwanderung und die damit verbundene ethnische Vielfalt. Wenn wir den sozialen Frieden in den vielen Städten und Regionen unseres Landes dauerhaft sichern wollen, dann müssen die Wohnquartiere den Willen zur Integration widerspiegeln. Wohnviertel dürfen keine in Beton gegossenen Flächennutzungspläne sein. Sie müssen lebendige Orte des Zusammenlebens und der Kommunikation werden, Orte, an denen die Menschen gerne leben und sich wohlfühlen. Die Architektur trägt dazu ein gutes Stück bei, denn sie prägt, bewusst oder unbewusst, ganz wesentlich das Lebensgefühl der Menschen.

Jedes Haus, jedes Gebäude ist ein Eingriff in die Natur. Boden wird überbaut, Flächen werden versiegelt, Rohstoffe und Energien werden in Anspruch genommen. Ich finde, dass der Begriff der Nachhaltigkeit in letzter Zeit durch inflationäre Verwendung entwertet worden ist. Es stimmt aber, dass wir den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft organisieren müssen, und es stimmt auch, dass der Weg dahin noch sehr weit ist.

Zum nachhaltigen Bauen gehört gewiss, dass umweltverträgliche Materialien verwendet werden und dass der möglichst geringe Energiebedarf zu einem Teil am Haus oder auf dem Haus aus Sonnenenergie gewonnen wird. Zum nachhaltigen Bauen gehört gewiss auch, dass nicht nur die Baukosten beachtet werden, sondern auch die laufenden Kosten. Die Architekten, die Baumeister, alle Baufachleute werden sich noch weit stärker mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie Bauwerke konstruiert sein müssen, die diesen Anforderungen genügen und die zudem nicht mehr mit dem Bulldozer abgerissen, sondern um- und abgebaut werden können, ohne dass dadurch die natürlichen Lebensgrundlagen beeinträchtigt werden.

Die Politik muss sich auch fragen lassen, ob Sie nicht widersprüchliche Vorgaben macht. Auf der einen Seite sind sich alle darüber einig, dass die Zersiedlung der Landschaft gestoppt werden muss, nicht zuletzt aus ökologischen Gründen. Andererseits wird ein weiter Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz steuerlich begünstigt. Darum brauchen wir mehr bezahlbaren Wohnraum in Städten mit hoher Lebensqualität für junge und für alte Menschen, damit wir unseren Erholungsraum erhalten, statt ihn zu zersiedeln.

Menschenfreundliche Städte zu bauen, menschenfreundliche Häuser zu bauen, Städte, in denen man Kind sein kann und in denen man gerne Kinder haben möchte, Städte, in denen Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Deutsche und Nichtdeutsche, Gesellige und Einsame miteinander leben und die Chance bekommen, dass ihr Leben gelingt, das ist ein Auftrag an alle Architekten und Baumeister. Ich finde, wenn sie diesen Auftrag erfüllen, dann stimmt auch das Motto ihres Baumeistertages: "Bauen sichert Zukunft".

Ich wünsche Ihnen eine ergiebige Zusammenkunft.