Begrüßungsworte von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des Bundesfinales des Wettbewerbs "Jugend debattiert"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 15. Juni 2003

Demokratie ist kein Glücksfall, sie ist kein Lotteriegewinn. Demokratie will errungen sein und gestaltet werden. Wir müssen sie mit Überzeugung, nach Kräften und mit den richtigen Mitteln gestalten und bewahren, erstreiten und zuweilen auch verteidigen.

Gewiss, Demokratie ist vor allem eine Staatsform. Von anderen Staats- und Regierungsformen unterscheidet sie sich aber dadurch, dass sie auch eine Lebensform ist. Sie wirkt weit in unsere Gesellschaft hinein, in die Kultur und in das Wirtschaftsgeschehen, in unsere Bildungsinstitutionen und in alle Verbände und Vereinigungen.

Eine so weitreichende Aufgabe und ein so risikovolles Wagnis - das verlangt Vorbereitung, Bildung und Ausbildung. Wir müssen die Demokratie durch unser Handeln immer wieder lebendig halten, stärken und schützen.

Demokratie, das bedeutet auch Tradition: Wir Ältere müssen sie weiterreichen an Euch Jüngere.

Ich war so alt wie Ihr heute seid, als unsere Väter und Mütter begannen, die zweite Demokratie aufzubauen. Nur wenigen von ihnen war damals so deutlich bewusst wie uns heute: Demokratische Bildung, Erziehung zur Demokratie, das muss in unseren Schulen einen genauso hohen Rang haben wie Kenntnisse in den Sprachen, in Geschichte, in Mathematik und in den Naturwissenschaften oder wie die musischen Fächer.

Seit 1989/90, seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, hatte sich auch die demokratische Bildung neu zu verstehen: War sie früher oft genug antikommunistische Bildung oder gar Schulung gewesen, so musste sie sich nun auf ihre ursprünglichen Werte besinnen. Mögliche Bedrohungen und Gefährdungen kommen heute weniger von außen denn von innen auf sie zu. Zu diesen Gefährdungen gehört die Gleichgültigkeit.

Man kann Menschen impfen, um ihre Gesundheit zu schützen. Impfungen zum Schutz der Demokratie als Staats- und Lebensform, die gibt es nicht und sie werden auch künftig nicht erfunden werden.

Demokratie zu lernen und zu leben, das bedeutet stetige Anstrengung und Phantasie. Dazu brauchen wir engagierte Lehrerinnen und Lehrer, Schulen, die demokratische Lernformen und Strukturen wagen, und wir brauchen gesellschaftliche Initiativen, die das unterstützen.

"Jugend debattiert" ist eine solche Initiative. Sie ist hervorgegangen aus der Idee "Jugend streitet", sie ist in zwei Vorläufen in Frankfurt und in Hamburg erprobt worden und sie wird heute getragen von der gemeinnützigen Hertie-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Stiftung Mercator. Gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz und den Kultusministern aller Länder ist "Jugend debattiert" im vergangenen Jahr zu einem bundesweiten Wettbewerb ausgebaut worden.

Ich bin allen Beteiligten dankbar dafür, dass sie meine Initiative für einen solchen Wettbewerb mit viel Phantasie und Engagement aufgegriffen haben. Seit Dezember 2002 ist in Klassen und Schulen, in Schulverbänden und in den sechzehn Ländern debattiert worden. Direkt beteiligt waren sechzehntausend Schülerinnen und Schüler und fünfhundertsechzig Lehrerinnen und Lehrer an einhundertneunundsechzig Schulen aller Schularten. Der Wettbewerb will eine möglichst breite sprachliche und rhetorische Förderung mit aktuellen und alltagsnahen politischen und gesellschaftlichen Themen verbinden.

Ich freue mich darüber, dass wir heute das erste Bundesfinale des Wettbewerbs erleben. Ich danke sehr herzlich allen genannten Partnern und den Lehrerinnen und Lehrern, die den Wettbewerb in den zurückliegenden Monaten in ihren Städten und Ländern vorbereitet und durchgeführt haben.

Eine lebendige Demokratie ist auf die Kunst der Auseinandersetzung angewiesen, auf das Streiten in gesitteter Form. Eine gute Argumentation braucht sorgfältige inhaltliche Vorbereitung. Einen eigenen Standpunkt kann nur gewinnen, wer bereit ist, auch den Argumenten von Partnern oder Gegnern zuzuhören. Überzeugend spricht, wer die Argumente abwägt und das, was er sagen will, in eine gute sprachliche Form bringt. All das kann man lernen, auch wenn gewiss nicht aus jedem ein Cato oder eine Rosa Luxemburg werden kann. Klare Gedanken und rhetorisches Geschick geben auch die nötige Sicherheit, sich in die politische und gesellschaftliche Debatte einzumischen, statt schüchtern sprachlos daneben zu stehen.

Als Initiator und Schirmherr von "Jugend debattiert" wünsche ich mir, dass unser Wettbewerb genau das fördert: sprachlich gewandte und demokratisch couragierte Bürgerinnen und Bürger auszubilden. Ich wünsche mir und uns, dass die Kunst der Debatte als Form des Unterrichts in möglichst vielen Fächern in der Schule immer stärker selbstverständlich wird. Dazu soll auch das heutige Bundesfinale beitragen, in dem die Besten der Siegerinnen und Sieger aus den Landeswettbewerben gegeneinander - vor allem aber miteinander - antreten.

In den angelsächsischen Ländern mit ihrer so viel älteren demokratischen Tradition hat das "debating" einen festen und anerkannten Platz in den Schulen. Nehmen wir das heutige Bundesfinale "Jugend debattiert" zum Anlass, der Debatte und dem politischen Diskurs den Platz zu verschaffen, den unsere Demokratie dringend braucht.