Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau aus Anlass des Empfangs für die Teilnehmer der Europäischen Bildungsministerkonferenz 2003

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 18. September 2003

I.

Willkommen im Schloss Bellevue!

Dieses Haus hat eine reiche Bildungstradition. Friedrich Schiller war hier zu Gast; Friedrich Schlegel war hier und Alexander von Humboldt und auch sein Bruder Wilhelm, dessen Reform der deutschen Hochschulen im neunzehnten Jahrhundert weltweit Beachtung fand und zum Vorbild genommen wurde.

Später war hier im Schloss eine Kunstsammlung untergebracht und in den dreißiger Jahren diente es als Museum. Aber so viel geballten internationalen Sachverstand in bildungs- und hochschulpolitischen Fragen wie heute Abend hat dieses Haus nur sehr selten erlebt. Natürlich ist jeder Einzelne gemeint, aber auch die Gemeinschaft aller.

II.

Auch das gemeinsame Vorhaben, das Sie in Berlin zusammen geführt hat, ist so ziemlich ohne historische Vorläufer. Wo hat es das je gegeben auf der Welt, dass dreiunddreißig, bald vierzig, Staaten ihr Hochschulwesen aneinander anzugleichen versuchen, vergleichbare Studienabschlüsse einführen und verbindliche Qualitätsstandards formulieren?

Ich finde, dass der Bau eines Europäischen Hochschulraumes beispiellos ist. Wir sollten uns freilich daran erinnern, gelegentlich jedenfalls, dass die ersten Universitäten in Europa Teil eines europäischen Hochschul- und Bildungsraumes gewesen sind. Das war lange vor der Differenzierung in Nationalstaaten und vor der Entstehung ganz verschiedener Hochschultypen.

Aber als sich die Hochschulrektoren heute vor fünfzehn Jahren, am 18. September 1988, in Bologna getroffen haben und dort eine Magna Charta unterzeichneten, hat ihnen vielleicht das Ideal grenzenloser Gelehrsamkeit im Mittelalter vorgeschwebt. Diese Magna Charta sagt ja ausdrücklich, dass die Universitäten weit über den eigentlichen Bildungsbereich hinaus Bedeutung haben für die kulturelle, die soziale und die wirtschaftliche Zukunft der Gesellschaft.

Wenn Universitäten dieser Bedeutung gerecht werden wollen, dann müssen nach meiner Überzeugung drei Voraussetzungen erfüllt sein: die Freiheit der Forschung, die Einheit von Forschung und Lehre und der Austausch zwischen den Universitäten.

Nun hat die Politik diese Initiative der europäischen Hochschulen aufgegriffen, zuerst bei einem Treffen in Paris 1998, dann 1999 mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung durch dreißig europäische Staaten.

Seitdem hat sich einiges getan. 2001 sind in Prag drei weitere Unterzeichnerstaaten hinzugekommen, und wir dürfen uns jetzt hier in Berlin über sieben neue Mitglieder freuen. In vielen Ländern, auch hier bei uns in Deutschland, sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Einführung zweigliedriger Studiengänge geschaffen, ein Kreditpunktesystem ist eingeführt und spürbare Verbesserungen für ausländische Studierende sind erreicht worden. Der europäische Hochschulraum nimmt konkrete Formen an.

III.

Jetzt müssen die Hochschulen die neuen Möglichkeiten auch nutzen. Gelegentlich hat es den Anschein, als habe die Hochschulen der Mut verlassen, selber für eine grenzenlose Wissenschaft zu kämpfen, angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der die Bildungsminister einen europäischen Hochschulraum zu schaffen versuchen.

Ich glaube freilich, dass der Schein trügt. Die Hochschulen müssen in erster Linie um die Qualität in Forschung und Lehre bemüht sein. So gravierende Änderungen wie die Einführung gestufter Studiengänge entstehen nicht über Nacht. Sie machen eine grundsätzliche Überarbeitung vieler Studieninhalte nötig.

Vieles ist zu bedenken:

  • Die Studieninhalte sollen in Modulen zusammengefasst werden, damit die Anerkennung von Studienleistungen im europäischen Ausland erleichtert wird, und damit die Universitäten darüber hinaus ihre Tore für die Weiterbildung öffnen.
  • Das Bachelor-Studium muss die Fähigkeiten und das Wissen vermitteln, die man für einen erfolgreichen Berufseinstieg braucht.
  • Das Verhältnis von Lehre und Forschung und das Zusammenspiel von Master und Promotion müssen neu bedacht werden.
  • Vieles muss sich aber auch außerhalb der Universitäten ändern, damit diese neuen Strukturen positive Wirkungen haben können. Gerade in Deutschland sollten die Studierenden früher an die Universitäten kommen können, damit sie ihren Bachelor nicht erst mit fünfundzwanzig Jahren in Händen halten.
  • Die Einführung des Bachelors sollte auch mehr junge Menschen für ein Studium interessieren können. Dazu brauchen wir neue Wege, die zum Studium führen.
  • Vor allem aber muss sich der Arbeitsmarkt auf die Bachelor-Absolventen einstellen. Denn es macht ja keinen Sinn, dass sich ein Bachelor-Absolvent auf die gleiche Stelle bewirbt wie ein Promovierter. Das gilt übrigens ganz besonders für den öffentlichen Dienst und sein Dienstrecht.

Freilich drängen sich einem da auch Fragen auf:

  • Kann sich der Arbeitsmarkt auf die neuen Abschlüsse einstellen? Gibt es einen Bedarf an Bachelor-Absolventen? Ist es nicht eigentlich immer andersherum gewesen, dass sich nämlich die Absolventen auf den Arbeitsmarkt einstellen müssen und nicht umgekehrt?
  • Was heißt das für die Studieninhalte im Bachelor-Studium? Ist das eine "light-Version" der bislang üblichen Studienabschlüsse?
  • Soll das Bachelor-Studium stärker auf die Praxis ausgerichtet sein als das heutige Hochschulstudium? Was bedeutet das dann für die künftige Rolle der Fachhochschulen?
  • Schließlich: Soll es die Bachelor- und Masterstudiengänge in allen Fachrichtungen geben? Was hat man sich dann unter einem Mediziner mit Bachelor oder einem Juristen mit Bachelor vorzustellen?

IV.

Das europäische Hochschulsystem braucht mehr als die Umbenennung von Studiengängen. Die Politik ist gut beraten, wenn sie sehr genau auf das hört, was die Hochschulen dazu sagen. Damit meine ich die Rektoren, die Hochschullehrer, die Studierenden und die Administratoren.

Als Sie diesen Prozess vor fünfzehn Jahren angestoßen haben, wollten Sie die Freiheit von Forschung und Lehre stärken. Also muss sich die Gestaltung eines europäischen Hochschulraumes auch von dem Ziel leiten lassen, der Forschung und der Wissenschaft die größtmögliche Freiheit einzuräumen. Es geht nicht nur um die Anerkennung von Studienleistungen, sondern auch um den Austausch und die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern. An welcher deutschen Universität arbeiten heute nennenswert viele Professoren aus anderen europäischen Ländern? Werden Professoren- und Mitarbeiterstellen europaweit ausgeschrieben? Wenn es ein europäisches Kreditpunktesystem gibt, warum gibt es dann kein "European Research Council", wie es nicht nur der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Winnacker, vorgeschlagen hat?

Die Politik kann nur die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Den Hochschulraum selber müssen die Hochschulen gestalten und mit Leben erfüllen. Wir brauchen im Hochschul- und Wissenschaftsbereich mehr Gemeinsamkeiten und mehr Zusammenarbeit in Europa. Denn Bildung und Wissenschaft gehören zu den wichtigsten Ressourcen dieses Kontinents. Bildung und Wissenschaft prägen unsere Identität und sind Wegbereiter gesellschaftlichen Wandels seit alters her.

Darum verfolge ich Ihre Arbeit mit Interesse, darum finde ich sie so wichtig und darum wünsche ich dem Bologna-Prozess so viel Erfolg. Seien Sie nochmals herzlich willkommen!