Weihnachtsansprache 2003 von Bundespräsident Johannes Rau

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 25. Dezember 2003

Bundespräsident Johannes Rau und Frau Christina Rau

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

herzlich grüße ich sie alle, die Sie hier in Deutschland leben. Meine Frau und ich wünschen Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Wenn uns in diesen Tagen einige Augenblicke der Besinnung geschenkt werden, dann schauen wir zurück auf Vergangenes und blicken auf das, was wohl kommen mag.

Zuerst denkt wohl jeder an das, was in seinem privaten Leben geschehen ist. Mancher durfte das Glück erleben, einen Partner zu finden, Eltern durften sich freuen über die Geburt eines Kindes. Andere wiederum haben einen nahen Menschen verloren durch Trennung oder Tod. Eltern machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, manche bangen um ihren Arbeitsplatz oder haben ihn verloren. Wieder anderen ist ein neuer Anfang geglückt.

Wir schauen aber auch über unser privates Leben hinaus - auf das öffentliche und politische Geschehen.

Als im März der Irakkrieg begann, waren die meisten von uns erschüttert und entsetzt. Wir freuen uns über das Ende einer schrecklichen Diktatur - aber wir erkennen wieder einmal, dass mit Waffen und militärischer Überlegenheit allein die Probleme der Welt nicht zu lösen sind. Friede kommt nicht mit Gewalt.

Gewiss gibt es Situationen in denen wir Freiheit und Recht auch mit Waffen schützen müssen.

Deswegen danke ich allen Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten, auch den vielen zivilen Helferinnen und Helfern, die, oft weit weg von zu Hause, ihren Dienst leisten für Frieden, für Menschenrechte und für den Schutz vor Terror und Gewalt. Wir denken an sie und an ihre Familien und Freunde.

Meine Gedanken sind besonders bei den Familien derer, die in ihrem Einsatz ihr Leben gelassen haben - und ich denke auch an die, die an schweren Verletzungen leiden.

Das vergangene Jahr war bei uns geprägt durch Debatten, die sich um tiefgreifende Veränderungen in unserem Land gedreht haben.

Die Verantwortlichen in Regierung und Opposition, in Bund und Ländern haben sich vor wenigen Tagen verständigt. Manchen geht manches zu weit oder in die falsche Richtung, manchen geht vieles längst nicht weit genug. Mir ist wichtig, dass es bei allem Streit letztlich die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln gegeben hat. Das sollten wir nicht kleinreden.

Die Debatten über Veränderungen werden auch in Zukunft weitergehen. Wir müssen aber aufpassen, dass nicht unser gesamtes gesellschaftliches Leben in allen Bereichen immer mehr nach den Mustern von Wirtschaftlichkeit und Effizienz geprägt wird.

"Bilanz", "Kapital", "Ressource": Das sind Begriffe, die in der Wirtschaft unverzichtbar sind. Aber sie gehören nicht in jeden anderen Lebensbereich. Sonst wird selbst in Familien, in Partnerschaften und bei Kindern gerechnet: Was kostet mich das, was bringt mir das?

Ich glaube: Wenn wir alle Lebensbereiche nur noch nach wirtschaftlichen Gesetzen formen, geraten wir in eine Sackgasse. Dadurch verfehlen und verpassen wir wesentliche Dinge im Leben.

Die Schule ist eben kein Unternehmen. Auch die Hochschule nicht. Bildung ist mehr als bloße Funktionsertüchtigung. Bildung soll dem jungen Menschen helfen, im Beruf Erfolg zu haben, aber vor allem soll sie dem Menschen helfen, sich selber zu entwickeln und sich selber führen zu lernen.

Ein Krankenhaus ist keine Gesundheitsmaschine. Alten Menschen muss genauso geholfen werden wie jungen. Heilen und Pflegen bedeutet mehr, als man in starren Pflegenormen ausdrücken kann. Umso mehr danke ich den Angehörigen, den Krankenschwestern und den Pflegern, die Tag für Tag weit mehr tun, als berechnet werden kann.

Die Familie ist kein Betrieb. Familien leben vom Zeithaben füreinander, vom Austausch und Feiern, von Gespräch und Verständnis und vom Verzeihen.

Eine Gesellschaft lebt von Flexibilität und Wagnis, von Neugier und Aufbruch. Sie lebt aber auch von Treue und gegenseitigen Verpflichtungen, von Solidarität, von Engagement und Hingabe. Das taucht in keiner Effizienzrechnung auf, aber davon geht der Wärmestrom aus, von dem wir leben.

Vielleicht ist es Zufall, vielleicht auch nicht: In den letzten Wochen haben zwei Filme viele Menschen besonders berührt, in deren Titel das Wort "Wunder" vorkommt: Ich denke an "Das Wunder von Bern" und "Das Wunder von Lengede". Das sind Geschichten mit glücklichem Ausgang, Geschichten, die zeigen, dass wir bei aller Leistungsbereitschaft und bei aller Anstrengung auch auf den glücklichen Zufall angewiesen sind oder auf die glückliche Fügung, die dazu kommen muss, damit etwas gelingt.

Von einem noch einmal ganz anderen Wunder - dem Wunder schlechthin - erzählt in jedem Jahr die Weihnachtsgeschichte. Was hier erscheint, ist das, was wir nicht erwarten und nicht selber machen können. Es ist die Botschaft von der Nächstenliebe und vom Frieden auf Erden, dem äußeren Frieden und dem inneren. Weil es ein Wunder ist, also nie selbstverständlich, darum feiern wir es jedes Jahr aufs Neue.

Meine Frau und ich wünschen Ihnen und uns allen, dass die Botschaft von Weihnachten, vom Frieden in der Welt und vom Frieden in uns, in unserem Leben immer wieder Wirklichkeit wird - im Kleinen und im Großen.