Bundespräsident Johannes Rau im Gespräch mit "Berlin Direkt" (ZDF) am 28. Dezember 2003

Schwerpunktthema: Rede

28. Dezember 2003

Frage (Peter Hahne): Weihnachten war für Sie auch ein Fest der Arbeit?

Bundespräsident: Ja, das war in diesem Jahr so wegen des Vermittlungsausschusses. Man will ja mithelfen, dass die Gesetze nun wirklich noch auf den Weg kommen, und da sind sehr enge Fristen. Aber ich glaube, es funktioniert.

Frage: Was war für Sie das Eindruckvollste an diesem Jahr?

Bundespräsident: Ich habe so viel Eindruckvolles erlebt, dass ich gar nicht was bestimmtes sagen kann. Aber was mich am stärksten beschäftigt, das ist die Sommerreise zu jungen Leuten, die ich gemacht habe, quer durch Deutschland, Ost und West, Nord und Süd, und das, was ich da an Fragen und Antwortsuche noch bei mir und mit mir trage, das bewegt mich besonders.

Frage: Wenn man die politische Presse liest, dann gibt es Schlagzeilen bis hin zu den Worten: Es droht ein Generationenkrieg. Reden Sie über so etwas in der Familie?

Bundespräsident: Aber natürlich. Aber es gibt keinen Generationenkrieg. Es gibt immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. Und wenn es drei sind, dann wird es besonders heftig. Die Alten und die Jungen, die Erfahrung der Alten, der Schwung der Jungen - das zusammen bringt uns nach vorn.

Frage: Mehr als die Hälfte der Deutschen sagt, das Verhältnis zwischen Jung und Alt wird künftig schlechter werden. Werden die Alten zur Last für die Jungen?

Bundespräsident: Ich glaube das nicht. Ich glaube, das wird sich nicht nur einpendeln, sondern das wird zu einem Miteinander der Generationen kommen. Denn so sehr die Jungen das Gefühl haben, ich zahle jetzt für Menschen vor mir, so sehr haben die Alten die Sicherheit, sie haben dieses Land erst aufgebaut, damit die junge Generation auf einem relativ hohen Sockel ihr Leben gestalten kann. Mein Eindruck ist: Die alten Menschen sind bereit, mitzuhelfen, dass die Jungen gute Startbedingungen haben, wenn es ihnen verständlich gemacht wird, wenn nicht einfach das Gefühl entsteht, die Rente ist nicht mehr sicher.

Frage: Die Gemeinsamkeit und Kompromissfähigkeit der Fraktionen hat sich letztendlich bei der Verabschiedung der Reformgesetze gezeigt. Kann das jetzt nur ein Anfang sein?

Bundespräsident: Ich hoffe, dass es mehr Gemeinsamkeit gibt. Ich war auch inzwischen ungeduldig geworden, weil über diese Reformgesetze so lange und so erbittert und so fremdworthaltig gestritten worden ist. Aber ich rate andererseits nicht dazu zu sagen: Jetzt kommt die nächste Reform. Man darf den Menschen auch nicht zu viel zumuten. Jetzt haben wir Reformen die werden sich umsetzen, das wird Monate dauern, das wird zum Teil in Wochen geschehen, zum Teil aber auch Jahre in den Wirkungen. Ich glaube, wenn man einen Mechanismus hat, aber das nächste kommt dann auch, dass man dann die Menschen nicht da abholt, wo sie sind. Natürlich ist das nur ein Anfang. Nur erst diesen Anfang jetzt gestalten, bevor man über das andere schon wieder redet, das wäre mein Rat.

Frage: Können Sie als Staatsoberhaupt den Menschen sagen, wofür es gut ist, auch Opfer zu bringen?

Bundespräsident: Ich versuche das auf vielfache Weise und sage immer, es geht darum, den Sozialstaat zu erhalten und zu festigen. Es geht nicht darum, ihn abzuschaffen oder zu reduzieren. Natürlich kann im Sozialstaat bei einer solchen Veränderung der Geburtenraten und des Arbeitsmarktes und bei den Auswirkungen der Globalisierung nicht einfach alles so bleiben wie es ist. Kapital rast 24 Stunden um die Welt, Patente tun das auch, Waren und Dienstleistungen sind nicht mehr durch Grenzen behindert. Das alles bringt starke Veränderungen. Aber es hat sich nicht verändert, dass Deutschland die stärkste Exportnation der Welt ist. Es hat sich nicht verändert, dass kein Land in Europa mehr Auslandsinvestitionen anreizt als Deutschland. Wir haben also keinen Anlass zum jammern. Es gibt Menschen, die haben Anlass zum jammern, weil sie keinen Ausbildungsplatz haben, weil sie mit der Rente nicht auskommen, weil sie keine Arbeit finden. Aber viele jammern auf hohem Niveau und mit sicherem Einkommen. Und das finde ich nicht in Ordnung.

Frage: Damit sagen Sie ja auch, dass wir durchaus auch stolz sein können auf solche Leistungen, stolz sein können auf Deutschland. Aber warum fällt es uns im Augenblick so schwer, über Patriotismus zu diskutieren.?

Bundespräsident: Ich habe dazu gelegentlich gesprochen und habe vor etwa 15 Jahren gesagt und immer wiederholt: Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Ich möchte ein guter deutscher Patriot sein. Ich glaube, wenn wir uns darauf verständigen, können wir auch unsere ganze Geschichte annehmen.

Frage: . Aktuell in der Diskussion ist der Kopftuchstreit. Frankreich hat gesagt, Kopftuch nein und damit auch die anderen religiösen Symbole. Können Sie sich das für Deutschland vorstellen?

Bundespräsident: Bei uns ist die Situation anders. Bei uns ist die Kultur Länderhoheit, darum hat das Verfassungsgericht dieses Thema den Ländern zurückverwiesen. Ich bin aber der Meinung, wenn das Kopftuch als Glaubensbekenntnis, als missionarische Textile, gilt, dann muss das genauso gelten für die Mönchkutte, für den Kruzifixus. Das wird aber in Bayern etwas anders gesehen als im Rheinland. Ich selber komme aus einer reformierten Tradition. In der gibt es den Kruzifixus nicht als religiöses Symbol. Ich bin für Freiheitlichkeit, aber ich bin gleichzeitig für Gleichbehandlung aller Religionen.

Frage: Da hieße, wenn das Kopftuch nicht möglich ist, auch Kreuze aus den Schulen raus?

Bundespräsident: Dazu neigen wir Deutschen dann wieder, bei der Lehrerin zu gucken, ist das ein Kreuz oder ein Flugzeug, was sie an der Kette hängen hat. Also, ich bin gegen eine kleinkarierte Schnüffelei - die halte ich für falsch. Aber ich bin der Meinung, die öffentliche Schule muss für jeden zumutbar sein, ob er Christ, Heide, Agnostiker, Muslim oder Jude ist. Und es darf nicht durch religiöse Symbole, die der Lehrer mit sich trägt, eine gewisser Vorrang- oder Vormachtstellung gesucht werden.

Frage: Stimmen Sie dem Bundeskanzler zu, der gesagt hat, Kopftuch ist nicht möglich?

Bundespräsident: Ich bin der Meinung: Vorsicht mit religiösen Symbolen, mehr glaubwürdige Gläubige als Textilien oder Materialien, die man einer bestimmten Religion zuordnet. Man wird zum Glauben nur gerufen durch Menschen, die das ausstrahlen, und nicht durch Gegenstände oder Symbole.

Frage: Aber es wird doch niemand leugnen, dass wir in Deutschland aus christlichen Wurzeln leben und nicht aus islamischen.

Bundespräsident: Wir beide ja. Aber es gibt inzwischen 3,2 Millionen Menschen in Deutschland, die nach islamischen Wurzeln leben. Sie leben unter uns und sie sind damit nicht Bürger zweiter Klasse. Und deshalb müssen wir das, was der Islam an Glaubenskraft hat, auch anerkennen. Wir müssen nur darauf achten, dass nicht die Fundamentalisten das Sagen kriegen. Weder die muslimischen noch die christlichen, denn die gibt es auch. Wir müssen darauf achten, dass Toleranz nicht Beliebigkeit ist, dass man ein eigenes Glaubensprofil haben kann und haben muss, wenn man dem anderen begegnet, weil man ihn sonst nicht achten kann.

Frage: Was würden Sie sagen, sollten wir unseren Kindern mitgeben jenseits der materiellen Werte?

Bundespräsident: Ich würde gerne haben, dass mehr junge Menschen etwas von der deutschen Kulturgeschichte annehmen und zwar von Grimmelshausen über Goethe bis zu Böll und Grass. Ich würde mir das auch wünschen für den musikalischen Bereich, da vom Volkslied bis zu den großen musikalischen Werken. Wichtiger aber als das ist, dass wir die Grundrechte als leuchtend darstellen, dass wir wissen, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität - was in allen politischen Programmen steht - nicht nur für die Transparente am 1. Mai ist, sondern das ist Lebenswirklichkeit. Das heißt, dass man sich nicht um sich selber dreht, dass man für andere da ist, dass freiwillige Arbeit auch Erfüllung ist und nicht nur Frondienst. Das, meine ich, sollten wir mitgeben.

Frage: Im nächsten Jahr haben wir 14 Wahlen. Kann man da ernsthaft davon ausgehen, dass da noch ein Konsens möglich ist? Wäre es nicht von Vorteil, mal ein wahlfreies Jahr zu haben, damit Politik wirklich gemacht werden kann.

Bundespräsident: Wir haben vor einigen Jahren ein wahlfreies Jahr gehabt und keiner hat es gemerkt. 14 Wahlen sind zu viel. Allerdings habe ich bisher alle Versuche erlebt, das zu reduzieren und festgestellt, die Verfassungen lassen es nicht zu. Denn es geht um 17 Verfassungen, in denen auch Fristen genannt sind. Und was ich für falsch hielte, wäre eine Zusammenfassung aller Wahlen in der Mitte der Bundestagswahl. Wahlen müssen mehr sein als ein Thermometer für Bundespolitik. Trotzdem halte ich 14 Wahlen in einem Jahr für ein Unglück für die Demokratie.

Frage: Manche sagen, die Rolle des Parlaments sei ein Unglück für die Demokratie. Da gibt es Küchenkabinette, Kungelrunden, Kommissionen, runde Tische. Wo bleibt da das Parlament?

Bundespräsident: Meine Sorge ist, dass die Talkshows und die Kommissionen wichtiger werden und das die Parlamentarier nur noch das übernehmen, was in Kommissionen erarbeitet worden ist. Das gilt für mich nicht für den Vermittlungsausschuss, denn der ist ein im Grundgesetz vorgesehenes Organ, das allerdings früher anders getagt hat - früher wirklich vertraulich, früher wirklich ohne Presse, ohne Arbeitsgruppenbesprechungen mit hundert Leuten. Da würde ich gerne wieder hinkommen. Am schlimmsten aber finde ich, dass offenbar immer mehr Politiker glauben, sie müssten über Fernseh- oder Zeitungsinterviews das ersetzen, was im Parlament nicht zur Sprache kommt.

Frage: Die Stärke Ihres Amtes liegt im Wort. Manche sagen, der Bundespräsident darf überall mitreden, aber hat eigentlich nichts zu sagen. Wie ist Ihre Erfahrung jetzt nach viereinhalb Jahren. Wie könnte das Amt auch politisch gestärkt werden?

Bundespräsident: Ich fände es gut, wenn es zu einer Direktwahl käme, wenn es mehr Kompetenzen gäbe. Ohne mehr Kompetenzen geht das nicht, denn der Kanzler wird auch nicht direkt vom Volk gewählt und da muss ja ein bestimmtes Spannungsverhältnis sein. Das Wichtigste wäre mir eine siebenjährige Wahlperiode, ohne die Möglichkeit der Wiederwahl. Denn fünf Jahre sind eine wunderschöne, erfüllte Zeit, aber in sieben Jahren lässt sich mehr leisten. Zweimal fünf Jahre, also immer den Blick auf die Wiederwahl, könnte auch zum Populismus verführen. Deshalb war ich immer der Auffassung, sieben Jahre, ist auch eine biblische Zahl, und dann ist es gut.

Frage: Wenn einmal die Enkel und Urenkel an Johannes Rau zurückdenken, was soll bei denen haften bleiben und als erstes einfallen?

Bundespräsident: Ich würde mir schon wünschen, dass man mir abgespürt hat, dass ich die Menschen mag und dass ich auf vielfache Weise diese Sympathie für die Menschen zurückbekommen habe. Denn das ist doch ziemlich ungewöhnlich, dass man gerade als Politiker so viel Zustimmung, so viel Zuwendung, auch so viel Vertrauen findet, wie ich das in einem langen politischen Leben habe erfahren dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Frage: Was wünschen Sie sich, was wünschen Sie uns, unserem Land, für das neue Jahr 2004?

Bundespräsident: Ich wünsche unserem Land, dass es zuversichtlich bleibt und wird. Ich wünsche allen, dass sie gesund bleiben an Körper und Seele und hoffe, dass wir als Deutsche mit bescheidenem Selbstbewusstsein oder mit selbstbewusster Bescheidenheit das neue Jahr durchstehen. Mir selber wünsche ich, dass das letzte halbe Amtsjahr Freude macht und dass die nachberufliche Lebenszeit neue Herausforderungen bringt. Ich weiß noch nicht, wie die aussehen. Ich werde weder untätig sein noch stumm. Aber was dann kommt, wird man sehen - und da blicke ich einfach nach vorne.