Neujahrsansprache von Bundespräsident Johannes Rau vor dem Diplomatischen Korps

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 8. Januar 2004

Lieber Herr Botschafter Melaga,

ich danke Ihnen für Ihre herzlichen Worte und für die guten Wünsche, die Sie mir und dem deutschen Volk überbracht haben. Sie haben es schon erwähnt. In den letzten Jahren, ich kenne das gar nicht anders, ist immer Erzbischof Giovanni Lajolo, der Nuntius, so freundlich gewesen, an dieser Stelle zu sprechen. Er hat Deutschland inzwischen verlassen, um beim Heiligen Stuhl als "Sekretär für die Beziehungen mit den Staaten" eine neue, ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Ich möchte ihm auch von hier aus für die gute und besonders angenehme Zusammenarbeit danken und wünsche ihm für seine neue Funktion Erfolg und Gottes Segen.

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

ich freue mich darüber, dass Sie der Einladung zum heutigen Empfang gefolgt sind. Für mich ist das heute ein besonderer Tag, denn es ist das letzte Mal, dass ich Sie zum Neujahrsempfang für das Diplomatische Corps begrüße. Das gibt mir Gelegenheit, ein wenig zurück zu blicken.

Es gehört zu den Privilegien des Amtes des Bundespräsidenten, die Bundesrepublik Deutschland im Ausland zu vertreten. Ich hatte Gelegenheit, viele Länder zu besuchen. Und noch häufiger konnte ich Gäste aus anderen Ländern bei mir begrüßen. Die Gespräche, die ich bei diesen Anlässen geführt habe, waren mir sehr wichtig. Sie dienten einem Gedankenaustausch, der nicht allein von der Tagespolitik bestimmt war. In einer Zeit, in der das Reden von der Globalisierung und der Begriff des "globalen Dorfes" inzwischen zum allgemeinen Sprachgebrauch gehören, sind solche Kontakte unerlässlich für die internationalen Beziehungen. Das Wort von Aristoteles, der Mensch sei ein Gemeinschaftswesen, müssen wir ergänzen: Nicht nur Menschen, auch Staaten sind auf Gemeinschaft angelegt in dem Sinne, dass sie auf Dauer nicht allein existieren können. Nicht umsonst sprechen wir immer öfter von Weltinnenpolitik. Es ist ja keine neue Erkenntnis mehr, dass die Welt kleiner geworden ist, und dass die Staaten zunehmend aufeinander angewiesen sind.

Wir dürfen aber nicht so tun, als wenn das ein unwichtiger Prozess sei. Vorurteile, das rücksichtslose Durchsetzen sogenannter nationaler Interessen sind noch nicht verschwunden. Vor allem religiöse Unterschiede lassen sich leicht dazu missbrauchen, Gräben aufzureißen und Gesellschaften zu spalten. Die Akteure sind dabei nicht in erster Linie Staaten. Ich erinnere nur an die Herausforderungen, vor die der internationale Terrorismus uns alle stellt.

Bei nahezu allen meinen Gesprächen mit Amtskollegen und anderen Politikern hier und im Ausland hat für mich dieses Thema eine besondere Rolle gespielt: Wie können wir dazu beizutragen, Gräben zu überwinden, Missverständnisse auszuräumen, die Menschen einander näher zu bringen?

Mich hat die Arbeit der letzten Jahre in meiner Überzeugung bestärkt, dass die Zivilisationen, denen wir uns zugehörig fühlen, ihre Wertesysteme und Denkweisen mehr verbindet als trennt - wenn wir uns darum bemühen. Auf diesen Gemeinsamkeiten basieren auch die großen internationalen Verabredungen, allen voran das System der Vereinten Nationen. Gerade im letzten Jahr ist sehr viel darüber gestritten worden, welche Bedeutung die Vereinten Nationen heute haben, haben sollen und haben können. Die Vereinten Nationen sind gewiss reformbedürftig. Die Ereignisse des letzten Jahres haben aber gezeigt, dass wir nur mit ihrer Hilfe den globalen Herausforderungen begegnen können, zu denen an erster Stelle die internationale Stabilität und Sicherheit gehört. Die zunehmende weltweite Vernetzung - politisch und wirtschaftlich, sozial oder kulturell - ist eine Realität. Wenn wir diese Realität verantwortungsvoll gestalten wollen, dann brauchen wir eine globale Struktur, die uns die dazu nötigen Mittel gibt. Nach wie vor sind die Vereinten Nationen das beste Instrument, um über die Grenzen von Kontinenten und Sprachen, von Religionen und Kulturen hinweg Lösungen für globale Probleme zu finden, die die große Mehrheit der Menschen akzeptieren kann.

Deutschland ist bereit, im internationalen Rahmen mehr Verantwortung zu übernehmen. Das setzt klare institutionelle, rechtliche und politische Rahmenbedingungen voraus. Dann und nur dann können wir den Menschen in unserem Land verständlich machen, warum es sinnvoll ist, dass auch weiterhin deutsche Soldaten in Afghanistan im Einsatz sind, dass die deutsche Marine am Horn von Afrika tätig ist, dass deutsche Polizisten versuchen, auf dem Balkan für mehr Sicherheit und Rechtstaatlichkeit zu sorgen.

Sicherheit und Rechtstaatlichkeit - dazu gehört auch, dass es auch im zwischenstaatlichen Umgang keine rechtsfreien Räume gibt. Im vergangenen Jahr hat der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufgenommen. Dieser Gerichtshof ist ein wichtiger Baustein einer modernen Weltinnenpolitik. Deutschland hat sich besonders dafür eingesetzt, dass er errichtet wird.

Die Fortentwicklung des Völkerrechts steht auf der Tagesordnung, etwa dort, wo das Völkerrecht jetzt nicht die Bevölkerung, sondern diktatorische Regierungen schützt, die ihre Völker misshandeln. So gibt es seit einigen Jahren Bestrebungen, den traditionellen Begriff der staatlichen Souveränität neu zu definieren. Die KSZE hat hier einen Anfang gemacht. Auch viele afrikanische Staaten sind mit gutem Beispiel vorangegangen: Wo sonst auf der Welt gibt es eine überstaatliche Institution, die berechtigt und von den Regierungen beauftragt worden ist, das Verhalten der Mitgliedsstaaten kritisch zu durchleuchten, wenn es um Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und die Beachtung der Menschenrechte geht? Das ist ja eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben der Staatengemeinschaft: den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat in möglichst vielen Ländern zu fördern.

Die Arbeit an einer Verfassung für Europa ist vorangekommen, selbst wenn man sich auf dem Gipfeltreffen am 13. Dezember in einem entscheidenden Punkt noch nicht hat einigen können. Wir dürfen nicht übersehen, dass die Europäer in einer großen Zahl ursprünglich kontroverser Punkte Einvernehmen erzielt haben. Deshalb müssen wir mit Energie und Engagement, auch in der Frage eine Einigung erzielen, die in Brüssel offen geblieben ist. Allerdings darf es auch keinen Kompromiss um jeden Preis geben; alle Beteiligten müssen sorgfältig abwägen, sie dürfen das gemeinsame europäische Interesse nicht aus dem Blick verlieren.

Die Europäische Union, Exzellenzen, meine Damen und Herren, ist mehr als ein Zusammenschluss vergleichsweise wohlhabender Staaten. Sie ist eine politische und wirtschaftliche Gemeinschaft und eine Wertegemeinschaft zugleich. Eines der zentralen Anliegen der neuen Verfassung soll es sein, eine moderne Balance zu finden zwischen den Rechten der Mitgliedsstaaten und jenen Rechten, die die Gemeinschaft im Interesse der Mitgliedsstaaten wahrnimmt. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll das Gewicht der Europäischen Union international stärken. Das muss selbstverständlich auch für die Entwicklungspolitik gelten und für den Welthandel. Hier sollten wir gerade im Agrarbereich zugunsten der Exportmöglichkeiten der ärmeren Länder noch mehr tun.

Meine Damen und Herren,

das vergangene Jahr war von großen Problemen und Konflikten geprägt, die uns alle berührt haben: Der Krieg im Irak, die anhaltenden Spannungen in Afghanistan, die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus, die Diskussionen um die künftige Rolle der Vereinten Nationen und die Verhandlungen der Welthandelsorganisation in Cancun. Und nicht vergessen wollen wir das schreckliche Erdbeben im Iran in den Weihnachtstagen, das so viele Menschenleben gekostet hat. Ich bitte Sie, Ihren Regierungen und Völkern unsere Hoffnung und unseren Wunsch zu übermitteln, auch in Zukunft gemeinsam für eine friedliche, gerechte und freie Welt zu arbeiten. Diese Arbeit muss auf gute, freundschaftliche bilaterale Beziehungen bauen. Dieser Aufgabe widmen Sie alle sich mit großem Engagement.

Dafür danke ich Ihnen und all Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich hoffe, dass Sie sich in Deutschland wohlfühlen.

Ich wünsche Ihnen allen ein gutes und friedliches Jahr 2004.