Rede von Bundespräsident Johannes Rau bei der öffentlichen Präsentation seines Buches "Den ganzen Menschen bilden - wider den Nützlichkeitszwang"

Schwerpunktthema: Rede

Bildungsmesse "didacta" in Köln, , 11. Februar 2004

I.

Als ich dieses Lied hörte von der Kölner Domsingschule, da fiel mir der Lehrer ein, der vor der Klasse steht und sagt: "Es gibt keine kleinere und größere Hälfte. Hälften sind dem Wesen nach immer gleich. Aber die größere Hälfte von Euch versteht das nicht!" Meine Damen und Herren, herzlichen Dank an Elke Heidenreich, mit der ich gleich sprechen darf. Ich bin froh darüber, dass Bildung wieder ein politisches Thema ist.

Das hat lange gedauert. Aber auch hier gilt: Besser spät als nie.

Wir brauchen eine neue Bildungsreform. Bildungsreform - das ist etwas anderes, als die Schulverwaltung und die Verwaltung in den Schulen besser und effektiver zu gestalten.

In dem Buch, das wir heute gemeinsam vorstellen, finden Sie - so hoffe ich - viele Elemente und Ansatzpunkte für das, was ich mir unter einer Bildungsreform vorstelle.

Ich will mich hier jetzt auf wenige Bemerkungen beschränken. Wenn ich zu viel aus dem Buch erzählte, wäre das für den Beltz-Verlag geschäftsschädigend, und ich möchte mir keine Vorwürfe anhören. Und ein Gespräch mit Elke Heidenreich ist ja auch viel interessanter als wenn ich hier versuchte, den Frontalunterricht noch einmal neu zu beleben.

II.

Wenn eine neue Bildungsreform gelingen soll, dann muss am Anfang ein ganzheitliches Verständnis von Bildung stehen. Der Mensch besteht aus mehr als Kopf und Verstand. Bildung ist Persönlichkeitsentwicklung. Da geht es um Geist und Gefühl, um Körper und Seele.

Bildung hat ihren eigenen Sinn und ihren eigenen Wert, jenseits aller Nützlichkeit im Arbeitsleben. Ich weiß, dass manche das für eine hoffnungslos romantische Vorstellung halten. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass ein ganzheitliches Verständnis von Bildung heute noch wichtiger ist als früher.

Wer sich in einer Welt zurechtfinden will, die sich immer schneller verändert und die immer unübersichtlicher wird, der braucht mehr als Fachwissen. Der braucht Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn, der braucht Kreativität, Urteilsvermögen und Orientierungsfähigkeit.

Die Schulen müssen junge Menschen auf das Leben vorbereiten. Die Schulen sind nicht Zulieferbetriebe für den Arbeitsmarkt, und nur dann, wenn sie sich nicht so missverstehen, lernen junge Menschen auch viel von dem, was sie im Beruf brauchen können.

Was geschieht, wenn wir in der Gesellschaft nur noch nach Nützlichkeit fragen, das hat der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1998, Amartya Sen, so formuliert: "Wenn der Mensch nur noch als homo oeconomicus daherkommt und nur noch Nutzen und Präferenzen im Kopf hat, dann wird er zum rationalen Trottel."

Ich möchte nicht, dass junge Menschen unsere Schulen und unsere Hochschulen als rationale Trottel verlassen.

III.

Keine öffentliche Einrichtung, kein privates Unternehmen ist so abhängig vom Können und vom Wollen der Menschen, die in ihnen arbeiten, wie die Schulen von den Lehrerinnen und Lehrern. Darum müssen Lehrerinnen und Lehrer für ihre Arbeit mehr gesellschaftliche Anerkennung bekommen.

Wir brauchen besseren Unterricht für alle. Lehrerinnen und Lehrer müssen sich um jeden einzelnen Schüler und um jede einzelne Schülerin kümmern. Die Schulen müssen so ausgestattet und der Unterricht so organisiert sein, dass das auch möglich ist.

Eine neue Bildungsreform kann nur gelingen, wenn wir uns keine Scheinalternativen einreden lassen:

Es geht nicht darum, sich um die Schwächeren zu kümmern oder die Besten zu fördern.

Es geht nicht darum, Leistung zu verlangen oder die Freude am Lernen zu fördern.

Es geht nicht um gutes Sozialverhalten oder um solide Fremdsprachenkenntnisse.

Es geht nicht um Mathematik und Biologie oder um Musik und Kunst.

Die Schulen in manchen Ländern, aber auch Schulen bei uns in Deutschland zeigen, dass alle von einem Unterricht profitieren, der die unterschiedlichen Voraussetzungen, die unterschiedlichen Stärken und Schwächen, die unterschiedlichen Interessen und Neigungen junger Menschen aufnimmt und ernst nimmt.

IV.

Übrigens: In unseren Schulen lernen junge Menschen nicht nur im Unterricht.

Schulen sind Lebensräume, in denen junge Menschen weit über den Unterricht hinaus Erfahrungen machen, die sie oft ein Leben lang prägen.

Darum müssen uns die Schulen und ihre Arbeit mehr wert sein.

Wir müssen mehr in sie investieren - an öffentlicher Wertschätzung und auch an finanziellen Werten.

Wenn wir für Bildung weiter weniger ausgeben, als wir uns leisten können, dann wird uns das in Zukunft teuer zu stehen kommen.

Schulen beeinflussen nicht nur den Lebensweg jedes Einzelnen. Schulen müssen auch zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Die Schule ist die Schule der Nation.

Für mich war das wichtigste und das bestürzendste Ergebnis dieser Schul-Untersuchungen wie PISA und anderer, dass in keinem anderen Land in Europa der Schulerfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängt wie bei uns in Deutschland.

Das müssen wir dringend ändern, um der Lebenschancen jedes Einzelnen willen und wegen unserer wirtschaftlichen Stärke und des Wohlstands für alle, den wir auch in Zukunft haben wollen.

Die Schulen müssen zu einem Teil das ausgleichen, was junge Menschen von zu Hause nicht mitbringen. Da können Ganztagsschulen einen Beitrag leisten, aber nur dann, wenn sie nicht bloß die Verdoppelung der bisherigen Halbtagsschule sind.

Ganztagsschulen werden dann erfolgreich sein, wenn sie jungen Menschen dabei helfen, sich selber zu bilden. Junge Menschen müssen sich erproben können, sie müssen Erfahrungen machen können. Sie müssen die Chance haben, sich als Persönlichkeiten selber zu entwickeln. Sie sind ja nicht nur die Kinder ihrer Eltern und nicht nur die Schüler der Lehrer, sie müssen selber jemand werden und selber jemand sein.

Ich wünsche mir Schulen, die jungen Menschen jeden Tag dabei helfen, ihren Weg zu finden und ihren Weg zu gehen.

Das Buch, das hier vorgestellt wird, enthält eine Fülle von Anregungen - so hoffe ich. Es enthält am Schluss die Rede, die für mich die schwerste gewesen ist in meinem Leben: Die Rede vor dem Dom in Erfurt nach dem schrecklichen Geschehen in einer Stadt, in der ich selber einmal in die Schule gegangen bin als Evakuierungskind. Da habe ich zu sagen versucht: "Wir müssen einander achten, und wir müssen aufeinander achten."

Ich wünschte mir, die Bildungspolitik der Zukunft würde das tun, gemeinsam mit Elternhaus, Schule und Gesellschaft.

Herzlichen Dank!