Bundespräsident Johannes Rau im Gespräch mit der Zeitschrift SuperIllu

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 26. Februar 2004

Herr Bundespräsident, Ihre Amtszeit neigt sich dem Ende entgegen. Finden wir jetzt ein besseres Deutschland vor als bei Ihrem Amtsantritt 1999?

Schön, dass Ihre Frage zumindest die Möglichkeit unterstellt, dass auch etwas besser geworden sein könnte. Sie kennen ja die Geschichte von dem Vogel, der gefragt wird, warum er so gerne über Deutschland fliege. Die Antwort lautet: "Ist doch klar, weil da überall der Wurm drin ist." Aber ernsthaft: In vielen Teilen hat Deutschland tatsächlich eine Entwicklung zum Besseren genommen.

Trifft das auch auf die Entwicklung der deutschen Einheit zu?

Weitgehend. Es gibt im Verhältnis zwischen Ost und West mehr Mischung, mehr Verständnis, weniger Herablassung, weniger Selbstmitleid. Das große Problem ist immer noch die Arbeitslosigkeit, die im Osten doppelt so hoch ist wie im Westen.

Der frühere Kanzler Helmut Kohl hatte "blühende Landschaften" versprochen, der heutige Kanzler Gerhard Schröder wollte den Osten zur "Chefsache" machen. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist geblieben, und Enttäuschung macht sich breit. Hat die Politik den Mund zu voll genommen?

Vielleicht hat die Politik nicht früh genug gesehen, wie lang der Weg ist, auf den wir uns 1990 begeben haben. Aber hüten wir uns vor Pauschalurteilen: Ich hätte vor zehn Jahren nicht gedacht, dass Städte wie Görlitz, Leipzig oder Dresden inzwischen wieder so ein attraktives Gesicht haben würden. Es hat sich viel Gutes getan. Aber diese Entwicklung geht von den Zentren aus, kommt erst mit Verzögerung in der Fläche an. Deshalb haben vor allem die Menschen in der Fläche den Eindruck, es habe sich nicht genug bewegt. In meinen Augen liegt das Hauptproblem darin, dass es im Osten noch keinen Mittelstand gibt, der sich selbst trägt. Und für mich ist es ganz wichtig, dass die Anstrengungen in der Bildungspolitik in Ostdeutschland weiter verstärkt werden. Denn erst wenn die Bildungseinrichtungen exzellent sind, bleiben die Leistungsträger vor Ort. Wenn ich mir die Entwicklung einiger Universitäten anschaue - etwa Greifswald, Dresden und Jena - dann sind wir da schon ein ganzes Stück weiter.

Braucht unser Land "Eliteuniversitäten", wie die Bundesregierung sie jetzt fördern will?

Da bin ich eher skeptisch. Was wir sicherlich brauchen, sind mehr Eliten in den Universitäten. Aber ich glaube, das sollte sich fachspezifisch entwickeln und hängt mehr von der Qualität einzelner Institute und Professoren ab als von einem Adelsprädikat, das man einer Hochschule in ihrer Gesamtheit verleiht.

Viele junge Menschen sehen im Osten für sich keine Zukunft mehr. Was würden Sie denen raten?

Geht ruhig nach Sindelfingen oder Freising, wenn ihr dort Arbeit findet! Aber kappt bitte nicht eure Wurzeln, haltet Kontakt in die Heimat. Vielleicht kommt ihr ja irgendwann mit neuen Erfahrungen zurück und könnt sogar Arbeitsplätze schaffen.

Vor allem die Eltern machen sich Sorgen, wenn ihre Kinder über Abwanderung nachdenken...

Dass Kinder in eine andere Stadt, in eine andere Gegend ziehen, ist heutzutage normal. Dass Eltern sich um ihre Kinder Sorgen machen, ist ebenso natürlich. Uns geht es nicht anders, wenn unsere älteste Tochter jetzt zum Studium in eine fremde Stadt zieht. Normal ist es auch, dass ich in den Winterferien in meinem Urlaubshotel auf Teneriffa mehr Ostdeutsche als Westdeutsche getroffen habe - unter den Gästen wie beim Personal.

Die Ostdeutschen mussten nach der Wende unglaubliche Veränderungen bewältigen, jetzt soll mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen schon wieder vieles anders werden. Verstehen Sie den grassierenden Reform-Frust?

Natürlich. Aber diesen Frust spüren Sie in Wuppertal genauso wie in Chemnitz. Was die Ostdeutschen seit 1989/1990 an Veränderung durchgestanden haben - wir reden hier von 40 000 Blatt Gesetzestexten - hat sie in einer Weise widerstandsfähig und lebenstüchtig gemacht, die Respekt verdient.

Die Bundesregierung redet von einem "Vermittlungsproblem", aber ist es nicht in Wirklichkeit so, dass die Menschen vom Tempo der Reformen überfordert sind, dass die Reformen ihnen zu einschneidend erscheinen?

Diese Frage möchte ich nicht beantworten, weil ich mich sonst zu sehr in die Tagespolitik einmischen würde. Ich will jedenfalls mithelfen, dass wir eine menschliche Geschwindigkeit beibehalten, so dass die Bürger noch verstehen können, was geschieht.

Welche Verantwortung haben die Unternehmer an der Arbeitsplatzmisere?

Es gibt neben vielen hervorragenden Unternehmern in Deutschland auch Fehlbesetzungen im Management. Das ist wie in der Politik - nur dass in der Politik Fehlleistungen sofort öffentlich werden, während sie in der Wirtschaft oft zu lange verborgen bleiben. Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass die Trennung von Kapital und Arbeit durch die anonyme Rechtsform der Aktiengesellschaft verstärkt wurde. Wir brauchen deshalb neue Bindemittel.Die Steigerung des Börsenwerts ist wichtig, aber der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen muss ebenso zu den Unternehmenszielen zählen. Was wir brauchen, ist eine neue Wirtschaftsethik.

Wo soll die herkommen?

Sie müsste vor allem von den handelnden Personen in der Wirtschaft entwickelt und vorangebracht werden. Für den Anfang würde es nicht schaden, einen Pflichtkurs in Ethik ins Betriebswirtschafts-Studium zu integrieren.

Die EU-Osterweiterung zum 1. Mai sorgt für Verunsicherung - auch bei Ihnen?

Nein. Natürlich wird man immer Einzelbeispiele dafür finden können, dass jemand dadurch seinen Job verloren hat oder eine Firma wegen neuer Konkurrenz schließen musste. Aber insgesamt bin ich überzeugt, dass Deutschland der größte Gewinner dieser Erweiterung sein wird - so wie uns auch jede bisherige Aufnahme neuer Mitglieder unterm Strich mehr genutzt als geschadet hat.

Sind sie dafür, dass auch die Türkei möglichst rasch vollwertiges EU-Mitglied wird?

Die Türkei kann erst aufgenommen werden, wenn sie alle Auflagen der EU erfüllt hat. Dabei müssen Religions- und Pressefreiheit oder die Ächtung der Folter nicht nur durch Parlamentsbeschlüsse garantiert sein, sondern auch im praktischen Leben umgesetzt werden. Das kann noch viele Jahre dauen.

Aber inzwischen wird vermehrt die Grundsatzfrage gestellt: Gehört die Türkei überhaupt in die Europäische Union?

Ich persönlich war in dieser Frage immer skeptischer als andere. Aber schon zur Amtszeit Helmut Kohls war es offizielle Position der Bundesregierung, der Türkei die Aufnahme in Aussicht zu stellen, wenn die Bedingungen erfüllt sind.

Sie haben sich gegen ein Kopftuch-Verbot an deutschen Schulen ausgesprochen. Warum?

Unser Grundgesetz garantiert Religionsfreiheit für alle, nicht nur für Christen. Da der Gesetzgeber kein Definitionsrecht über die Zeichen einer Religion hat, muss er es hinnehmen, wenn eine Muslimin das Kopftuch trägt, um ihren Glauben nach außen zu dokumentieren. Würden wir ein religiöses Symbol verbieten, müssten wir alle verbieten - auch die des Christentums. Und genau das will ich nicht.

Was sind ihre Pläne für die Zeit nach dem Amt?

Für die Zeit ab dem 1. Juli bleibt der Terminkalender erst einmal frei. Danach werde ich mir den Stapel mit Anfragen für Vorträge oder die Mitarbeit in Stiftungen, Gremien und Vereinen vornehmen und drei, vier Schwerpunkte für meine letzte Lebensphase setzen. Natürlich wird es eine Umstellung nach 46 Jahren in politischen Mandaten, aber ich habe nicht die Angst vor einem großen schwarzen Loch.

Es heißt, Sie haben sich in diesen fünf Jahren zum Berlin-Fan gewandelt...

Ich bleibe natürlich immer ein bergischer Junge (lacht), aber meine Frau und ich werden nach dem Ende der Amtszeit eine sogenannte bipolare Existenz führen - halb in Wuppertal, halb in Berlin. Wir schauen uns schon auf dem hiesigen Immobilienmarkt um.

Das Gerangel um Ihre Nachfolge als Bundespräsident nervt viele Bürger. Beschädigen die Parteien damit nicht auch das hohe Amt?

Bei jeder Wahl eines Bundespräsidenten haben parteipolitische Erwägungen eine Rolle gespielt, aber sie waren immer der Frage untergeordnet, wer der Beste für das Amt ist. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass es mehr und mehr in Richtung Parteipolitik kippt. Und ob es der Würde des Amtes zuträglich ist, wenn zwei stellvertretende Parteivorsitzende allen Ernstes fordern, der nächste Präsident müsse wieder einen Hund haben, wage ich zu bezweifeln.

Vielleicht passt das zu einer Zeit, in der ein Daniel Küblböck in Umfragen nach dem wichtigsten Deutschen auf Platz 16 gelandet ist. Kennen Sie den überhaupt?

Ich habe den Namen gehört - mehr nicht. Ich halte aber schon die Fragestellung für unsinnig und könnte mich nicht auf einen wichtigsten Deutschen festlegen. Mir fielen Namen wie Luther, Bach, und Goethe ein. Jeder war auf seinem Feld wichtig.

Wenn wir Sie nach dem wichtigsten lebenden Deutschen fragen?

Dann fällt mir die Antwort allerdings leicht: meine Frau Christina...