Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt "125 Jahre Albert Einstein"

Schwerpunktthema: Rede

Ulm, , 14. März 2004

Meine Damen und Herren,

Albert Einstein hat einmal, als er einen Vortrag halten sollte, seine Geige hervorgeholt und dem Publikum darauf vorgespielt, und die Zuhörer sollen sehr zufrieden ge­wesen sein.

Ich hatte als Junge auch Geigenunterricht, aber in unser aller Interesse möchte ich lieber eine kurze Ansprache halten.

Wäre Albert Einstein heute hier und musizierte, dann wüssten wir seine Qualitäten als Musiker recht gut einzuschätzen. Wäre er aber hier und dozierte nach Herzenslust - wer von uns könnte seinen Schlüssen folgen, geschweige denn ihre Qualität bewerten?

Einstein selber soll, nur halb im Scherz, gewarnt haben, auf der ganzen Welt verstünden seine Arbeit vermutlich nicht mehr als zwölf Menschen. Mittlerweile sind es gewiss mehr geworden, und wer Einstein verstanden hat, der lobt gerade die Klarheit und Schönheit seines Denkens und die Präzision seiner Schriften ganz besonders. Für die meisten Menschen sind seine Berechnungen und Theorien aber doch ein recht ferner und fremder Kontinent. Sie haben nur vage Vorstellungen von Einsteins wissenschaftlichen Leistung.

Darum ist es umso bemerkenswerter, wie ungemein populär Einstein schon zu Lebzeiten war und welch große Sympathien er bis heute genießt. Kein Wissenschaftler war je volkstümlicher und beliebter.

Manches davon lässt sich auf den ersten Blick erklären: Albert Einstein weckt einfach Zuneigung. Viele Bilder von ihm entsprechen der landläufigen Vorstellung vom etwas weltentrückten freundlichen Genie, und zwar gerade deshalb, weil sie diese Vorstellung kräftig mitgeprägt haben. Es hat auch Einsteins Beliebtheit nicht geschadet, dass er in späteren Jahren eine besonders fotogene Frisur trug und gelegentlich dem Fotografen die Zunge heraus­streckte.

Das alles sind freilich Äußerlichkeiten. Die fröhliche Hochachtung für Einstein hat ein viel stärkeres Fundament. Einstein gewann den Respekt und die Herzen seiner Zeitgenossen, weil sie die Größe seines Beitrags zum Begreifen der Welt zumindest ahnten und weil sie erlebten, wie verantwortungsbewusst und aufrichtig er sich über die Grenzen seines Fachs hinaus für das Wohl der Menschheit eingesetzt hat. Wir müssen beides bewahren und stärken, das allgemeine Bewusstsein von seiner wissenschaft­lichen Leistung und die Erinnerung an sein Engagement für Frieden und Freiheit und für die Wertbindung aller Wissenschaft und Forschung.

Wer diesen Themen nachgeht, den erwarten spannende und bewegende Einsichten. Einstein hat die Erkenntnis über Raum und Zeit, über Masse und Energie und über die Struktur und Entwicklung des Weltalls revolutioniert und dem Nachdenken darüber faszinierende neue Perspektiven eröffnet. Er hat das auf eine Weise getan, die selber höchst lehrreich ist: angetrieben von einer fast kindlichen Verwunderung über die verborgenen Ursachen von Alltagserscheinungen, mit unglaublicher geistiger Konzentration und Hellsicht, ohne Scheuklappen bei der Suche nach der Wahrheit, kompromisslos in der experimentellen Absicherung und von bezwingender Folgerichtigkeit in seinen Schlüssen.

Über all das gibt es übrigens mittlerweile exzellente Bücher und Lehrmittel auch für uns Laien. Wer also mehr über Einsteins Denken wissen will, der muss nur Neugier und die Bereitschaft zur geistigen Anstrengung mitbringen - die Mühe lohnt sich allemal! Ganz ersparen lässt sie sich freilich nicht, denn um es mit Einstein zu sagen: "Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher." Das ist übrigens ein Grundsatz, den vielleicht auch manch einer in Wirtschaft und Politik besser beherzigen sollte. Auch da schadet es nämlich, wenn man die Dinge zu sehr versimpelt.

Einstein schrieb seine wissenschaftlichen Untersuchungen bis zuletzt auf Deutsch, und auch diskutiert hat er über Physik am liebsten in seiner Muttersprache. Deutsch blieb seine sprachliche Heimat; von Deutschland und den Deutschen aber wandte er sich angesichts der deutschen Kriegsschuld und vor allem angesichts des Mordes an den europäischen Juden ab. Wer will es ihm verdenken? Ich bin überzeugt davon, zum heutigen Deutschland hätte er wieder Vertrauen. Ein wichtiger Grund dafür ist hier in Ulm gelegt worden, der Stadt, die auch die Stadt der Geschwister Scholl ist und ihres Vaters, der nach dem Krieg der Oberbürgermeister dieser Stadt gewesen ist und dem ich viele Jahre freundschaftlich verbunden war.

Schon lange bevor Einstein Deutschland verlassen musste, setzte er dem wachsenden Nationalismus und Antisemitismus immer entschiedener sein Bekenntnis zum Judentum, zum Pazifismus und zum Zionismus entgegen. Er warnte öffentlich vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Nach dem Krieg trat Einstein nur umso beharrlicher für Frieden, für Abrüstung und für eine demokratische Weltregierung ein. Zugleich mahnte er angesichts des Schreckens der Atombombe, angesichts der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und unter dem Eindruck eines rapiden Werteverfalls immer wieder die ethische Verantwortung des Wissenschaftlers an. Auch diese Seite seines Wirkens lohnt es zu entdecken, denn auch sie ist so aktuell wie nur je.

Der ganze Einstein also soll es sein, das wissenschaftliche Genie, der politische Kopf und auch der Mensch in seinem Widerspruch. Wo aber ließen sich seine Spuren besser aufnehmen als hier in Ulm, wo er - ein Blick zur Uhr - vor genau 125 Jahren und acht Minuten an einem sonnigen Freitagvormittag geboren worden ist?

Ich bin darum gern nach Ulm gekommen, um mit Ihnen gemeinsam Albert Einsteins zu gedenken und um hier beim Festakt und nachher in der Ausstellung im Stadthaus mehr über ihn zu erfahren. Schon jetzt wünsche ich allen Veranstaltungen, die Ulm Albert Einstein widmet, reges Publikumsinteresse. Ich kann mir insgesamt keine bessere und keine gehaltvollere Einstimmung auf das kommende Einstein-Jahr 2005 denken!

Natürlich bin ich auch hier, um Ulm und seinen Bürgerinnen und Bürgern von Herzen zum Stadtjubiläum zu gratulieren. 1.150 Jahre sind eine relativ lange Zeit, und Ulm hat in dieser Zeit viele Höhen und manche Tiefen erlebt. Im Jubiläumsjahr können die Ulmer mit Stolz auf das Erreichte und mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Sie haben den liberalen Grundsätzen ihrer freien Stadt die Treue gehalten, sie haben der Stadt Bestes gesucht und gemehrt, und sie werden auch die Zukunft meistern, wenn sie ihr gutes Miteinander wahren!

Als Albert Einstein einmal an einem Festakt zu seinen Ehren teilnahm, hörte er nach einiger Zeit dem Redner nicht mehr zu, sondern begann, auf der Rückseite der Einladungskarte Formeln zu notieren. Bald war er völlig in seine Berechnungen versunken. Der Redner beendete seine Ansprache, und alle Gäste erhoben sich, wandten sich Einstein zu und applaudierten ihm. Einstein merkte es nicht und rechnete weiter. Schließlich wisperte ihm seine Assistentin zu, er müsse sich erheben. Einstein rappelte sich auf und begann eifrig mitzuapplaudieren.

Sollten Sie, lieber Albert Einstein, uns jetzt hören können: Sie brauchen nicht mitzuklatschen - unser ganzer Beifall gilt Ihnen!