Rede von Bundespräsident Johannes Rau bei der Konferenz "Bürgernaher Bundesstaat"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 31. März 2004

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

I.

Die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung gilt seit Jahren als drängende Aufgabe. Meine Amtszeit endet in drei Monaten. Ich bin nicht hier, weil ich in den vergangenen viereinhalb Jahren noch keine Gelegenheit gefunden hätte, mich zur Föderalismusreform zu äußern. Das habe ich oft und recht ausführlich getan, zum Beispiel vor genau einem Jahr beim Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente.

Ich bin hier, weil mich Ihr Anliegen überzeugt: Sie wollen die Beratungen in den staatlichen Gremien mit einer gesellschaftlichen Debatte begleiten, und Sie wollen dabei besonders für einen bürgernahen Bundesstaat eintreten. Beides ist gut, denn die vom Bund und den Ländern angestrebte Föderalismusreform verdient allergrößte öffentliche Aufmerksamkeit, und ob sie zu sehr viel mehr Bürgernähe führt, das steht ja noch nicht fest.

Ich will Sie also beim Wort und diese Veranstaltung beim Thema nehmen und darüber nachdenken, was ein "bürgernaher Bundesstaat" eigentlich ist und was er fordert. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

II.

Bürgernähe setzt Bürger voraus. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Im Wort Bürger schwingen zweieinhalb Jahrtausende europäischer Geschichte mit. Bürger ist, wer mit gleichen Rechten und Pflichten am politischen Leben des Gemeinwesens teilnehmen darf. Bürger sind keine Untertanen, sondern Freie und Gleiche. Sie sind nicht bloß Mitglieder eines Konsumvereins oder einer Wohngemeinschaft, sondern Schicksalsgenossen, die gemeinsam über die Belange des gemeinsamen Wohls, des Gemeinwohls entscheiden und solidarisch füreinander einstehen. So konstituieren sie den Staat und bedienen sich seiner, um ihre Freiheit zu wahren und Gerechtigkeit zu üben. Der Staat ist Mittel und Ausdruck ihrer demokratischen Selbstbestimmung und ihrer Werte und Ideale.

Ein "bürgerferner" demokratischer Staat ist darum ein Widerspruch in sich; er wäre eine Katastrophe. Nichts ist für eine Demokratie wichtiger als Bürgernähe und Bürger, die sich in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen.

Das heißt nicht, dass wir am besten gleich die direkte Demokratie einführen sollten, nach dem Motto: Viel hilft viel. In einem Land mit achtzig Millionen Einwohnern ist das keine vernünftige oder auch nur gangbare Alternative. Bürgernähe ist aber eine Aufgabe, die genaue Aufmerksamkeit und ständige Pflege verlangt.

Was stiftet diese Nähe? Ich meine, das sind Verstehen, Zuneigung und Teilnahme. Bürgernähe hat eine intellektuelle, eine emotionale und eine partizipatorische Dimension.

III.

Nur das, was man versteht, kann man richtig einschätzen und wertschätzen und mitgestalten. Die Demokratie lebt von ihrer Verständlichkeit und vom politischen Verständnis ihrer Bürger.

Verstehen beginnt mit der Durchschaubarkeit: Besonders in einem föderalen Staat mit seinen vielen Ebenen und Mitspielern müssen die Bürger ohne allzu großen Aufwand feststellen können, wer für was zuständig ist, wer wo mitentscheidet und wer für was von ihnen Geld verlangt. Zur Zeit wissen das alles oft nur noch Fachleute, und selbst die tun sich immer schwerer. Der Bauplan und die Verfahren unseres Bundesstaates müssen wieder verständlicher werden, auch für den Normalbürger.

Die staatliche Willensbildung muss sich den Bürgern verständlich machen. Von Christian Meier stammt die Feststellung, Menschenwürde bestehe in unserer Zeit rasanter Veränderungen nicht zuletzt darin, dass man mit dem Geschehen überhaupt noch "mitkommt". Auch dafür müssen die staatlichen Institutionen sorgen, allen voran die Parlamente. Sie müssen erklären und begründen, was sie tun. Sie müssen über die großen Fragen öffentlichkeitswirksam streiten und dann entscheiden. Sie dürfen die Debattenhoheit nicht einer kleinen Gruppe prominenter Talkshow-Gladiatoren überlassen und auch nicht nur Vorentscheidungen anderer ratifizieren.

Parlament und Demokratie werden geschädigt, in Bund-Länder-Gremien, in Ausschüssen und in Kommissionen, wenn unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit weitreichende Absprachen getroffen, die Ergebnisse dann in Kabinetten beschlossen und im Plenarsaal nachvollzogen werden. Ein bürgernaher Bundesstaat braucht die kritische Öffentlichkeit, er braucht starke und selbstbewusste Parlamente und er braucht Abgeordnete, die eigensinnige und bei Bedarf auch widerborstige Volksvertreter sind, und nicht mausgraue Fraktionsangestellte am Fließband der Gesetzgebung.

Wir haben viel zuviel Exekutiv- und Verbundföderalismus und viel zuwenig parlamentarische Debatten und Entscheidungen. Jede Reform wird daran zu messen sein, ob sich daran etwas ändert.

Der demokratische Staat muss verständlich sein und er muss sich verständlich machen. Er muss auch auf das politische Verständnis und Interesse seiner Bürger zählen können. Jeder und jede von ihnen sollte einen gewissen Fundus an politischer Bildung mitbringen. Dazu zählt es, die eigenen Rechte und Pflichten zu kennen, und dazu zählt die Bereitschaft, sie auch wahrzunehmen. Dazu zählt, sich über wichtige öffentliche Angelegenheiten zu informieren. Dazu zählen das Wissen, wie man gemeinsam mit anderen demokratisch etwas bewegen kann, und die Entschlossenheit, sich kräftig in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Diese politische Bildung zu mehren ist nicht zuletzt Ihre Aufgabe, die Aufgabe der politischen Stiftungen. Widmen Sie sich ihr nach Kräften!

Zur politischen Bildung gehört auch eine deutliche Vorstellung davon, wo die Grenzen der Staatstätigkeit liegen, was staatliches Handeln vermag und worin der Wert des Staates liegt, der durch keine andere Organisation zu ersetzen ist.

Ich will diesen Aspekt ein wenig vertiefen, weil er mir gerade in dieser Zeit vielfältiger Reformdebatten besonders wichtig ist.

- Heute besteht vielfach die Vorstellung, der Staat sei so etwas wie ein Versorgungsunternehmen. Darum erscheint Vielen eine rein ökonomische Sicht auf den Staat plausibel, und diese Sicht führt dazu, dass ihnen dann eben auch eine reine ökonomische Kritik des Staates einleuchtend vorkommt. So mehren sich die Stimmen, die nach seinem möglichst vollständigen Rückzug rufen. Zur Begründung heißt es, private Unternehmen könnten die sozialstaatlichen Aufgaben effizienter erledigen, bei ihnen bekomme der Kunde Bürger mehr für sein Geld und könne autonom für sich sorgen. Der Staat möge nur endlich aufhören, die Marktbürger in ihren rationalen ökonomischen Entscheidungen zu stören und die freie Entfaltung der Marktkräfte einzuschränken. Die Zauberworte dafür heißen Deregulierung, Flexibilisierung und Liberalisierung - und das soll reichen vom Ladenschluss bis zur verbrauchenden Embryonenforschung.

So sehr ich es begrüße, wenn auf die Effizienz staatlichen Handelns geachtet wird und wenn in unserer Rechtsordnung alte Zöpfe abgeschnitten werden - die rein ökonomische Kritik am staatlichen Handeln droht etwas Wesentliches zu verfehlen.

Der Staat ist mehr als ein technischer Dienstleistungsbetrieb oder eine Wach- und Schließgesellschaft und er ist auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der moderne Staat bildet das Gegengewicht zu gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit. Dagegen schützt der Staat, und nur er kann das auf demokratisch legitime Weise tun.

Der Staat legt die Pflichten zugunsten der Gemeinschaft fest - von der Wehr- über die Steuer- bis zur Unterhaltspflicht. Der Staat setzt im Interesse des Gemeinwohls Verbote - vom Umweltrecht bis zur Kriegswaffenkontrolle, vom Verbot der sogenannten aktiven Sterbehilfe bis zur Sonntags- und Feiertagsruhe - und dadurch schafft der Staat Freiräume gegen die grenzenlose ökonomische Freiheit und gegen eine allgegenwärtige Rechenhaftigkeit, die von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.

Es ist der Staat, der im Interesse des Gemeinwohls Rahmenbedingungen festlegt, Werte schützt, die Schwachen fördert, seine Bürger gegen Schicksalsschläge absichert und für einen Ausgleich zwischen Arm und Reich sorgt. Das ist weit mehr als Sozialpolitik.

Sozialer Ausgleich schützt die Bürger gerade in ihrer Eigenschaft als Bürger, denn ein Übermaß an sozialer Ungleichheit gefährdet auch die politische Gleichheit und damit die Bürgerqualität. All das macht die spezifische Bedeutung und den Wert des Staates aus. Das Bewusstsein für diese Zusammenhänge darf nicht schwinden, weil sonst die zentrifugalen Kräfte in der Gesellschaft überhand nähmen.

- Dem wird nun entgegengehalten, der Staat könne diese schützende und ausgleichende Rolle doch ohnehin immer weniger spielen. Es gebe schließlich immer mehr Entwicklungen, die wie Naturgewalten über uns kämen - vom Regelungseifer der Europäischen Union bis zur Globalisierung. Überhaupt vollziehe sich der rasante Wandel aus einer Unsumme von Impulsen heraus, die sich längst der politischen Steuerung und Entscheidung entzögen. Auch diese Thesen vom Steuerungsverlust der Politik und vom Verlust ihrer Reichweite können das politische Engagement der Bürger und die Bürgernähe des Staates schwächen, denn warum sollten sich die Bürger noch für einen machtlosen Staat interessieren?

Ich halte nichts von solchen Empfehlungen, die staatlichen Segel zu streichen. Oft stimmen schon die beklagten Sachverhalte gar nicht. Die Europäische Union zum Beispiel überfällt mit ihren Rechtsakten niemanden aus dem Hinterhalt. Außerdem gilt auch da ganz wie im deutschen Recht die Vermutung, dass so mancher Rechtsakt, den die einen Vertreter einer heimischen Industrie- oder Wirtschaftsbranche heftig kritisieren, auf den verständlichen Wunsch von Vertretern anderer Branchen zurückgeht.

Allerdings stimmt es, dass sich unser Bundesstaat auf der europäischen Ebene besser aufstellen muss, um unsere Interessen gezielter und wirksamer zu vertreten. Leider stimmt es auch, dass die Parlamente in Bund und Ländern in EU-Angelegenheiten mittlerweile besonders arg ins Hintertreffen geraten sind. Die Europapolitik wird ja noch stärker administrativ und gouvernemental bestimmt als die innerstaatliche Rechtsetzung. Daran sollte sich im Interesse der demokratischen Transparenz und um der Bürgernähe willen rasch etwas ändern.

Andere Entwicklungen wie die Globalisierung liegen nicht etwa außerhalb der Reichweite der Politik, sondern fordern von ihr Bestform. Die Bürger erwarten doch mehr als die Empfehlung: "Rette sich, wer kann."; sie erwarten mehr als den Rat, jeder einzelne möge sich auf eigene Faust in den Verhältnissen zurechtfinden, da sie insgesamt politisch nicht mehr zu gestalten seien. Davon kann ja tatsächlich nicht die Rede sein. Das zeigen doch die Erfolge der europäischen und internationalen Zusammenarbeit und das Vorbild anderer Staaten.

Es macht den Wert und die Bewährung des Staates aus, dass er auch angesichts besonderer Herausforderungen seine Kernaufgaben ernst nimmt und erfüllt: den Schutz der Schwachen und die Pflege des Gemeinwohls. Das wird nationalstaatlich allein nicht gelingen. Demokratisch legitimierte Entscheidungen dürfen der Internationalisierung der Wirtschaft nicht länger hinterherhinken. Früher schwelgte die Politik oft in Allmachtsphantasien. Das war falsch. Jetzt darf die Politik sich nicht in Ohnmachtsgesten flüchten.

IV.

So viel zur intellektuellen Dimension von Bürgernähe, zum Verstehen des Staates und seines Wertes.

Unser Bundesstaat sollte den Bürgerinnen und Bürgern aber auch emotional nahe sein. Sie sollen sich mit seinen Symbolen und Traditionen, mit seinen Festen und mit seinen Gedenktagen identifizieren können. Das setzt zunächst einmal bei den Repräsentanten dieses Staates einen Sinn für Formen voraus. Dieser Sinn ist nach meiner Erfahrung unterschiedlich entwickelt. Manchen sind staatliche Symbole und protokollarische Pflichten gleichgültig oder gar lästig, andere empfinden sie angesichts unserer gebrochenen Geschichte als zwiespältig, und wieder andere schwelgen förmlich in "pomp and circumstance" und können gar nicht genug bekommen von Flaggen und klingendem Spiel.

Die Bürgerinnen und Bürger selber sind unsicher. Umfragen zeigen zum Beispiel, dass sie die deutschen Farben gern sehen und dass sie es schätzen, wenn bei passender Gelegenheit die Nationalhymne angestimmt wird; aber als so selbstverständlich wie Amerikaner oder Franzosen empfinden sie das nicht. Das hat natürlich etwas mit unserer deutschen Geschichte zu tun. Die verbietet in der Tat jeden Nationalismus, aber am Patriotismus darf sie uns nicht hindern.

Bürgernah ist auf Dauer nur ein Staat, in dem sich die Bürger zusammengehörig fühlen. Sie sollen ihn nicht vergötzen, aber sie sollten patriotische Zuneigung zum eigenen Land empfinden und in aller Bescheidenheit selbstbewusst für den demokratischen Staat eintreten. Darum darf er die Bürgerinnen und Bürge nicht nur als Verstandesrepublikaner überzeugen, sondern muss auch ihre Herzen erreichen. Die Bundesrepublik Deutschland hat auch in dieser Hinsicht viel zu bieten, vom "Wunder von Bern" bis zum Fall der Berliner Mauer, von der in ihrem schlichten Ernst anrührenden Verfassungsgebung des Jahres 1949 inmitten der Menagerie des Museums König bis zum Schwarz-Rot-Gold der Abzeichen und Wimpel unserer Truppen und Aufbauhelfer auf dem Balkan und in Afghanistan. Es ist doch schön, bei all dem sagen zu können: "Dies Land sind wir."

V.

Damit komme ich zur unmittelbaren demokratischen Teilhabe und Teilnahme der Bürger an unserem demokratischen Bundesstaat, zur partizipatorischen Dimension seiner Bürgernähe.

Das wichtigste Mittel dieser Teilhabe ist das Recht zur Wahl der Volksvertretungen im Bund und in den Ländern, den Landkreisen und Gemeinden. Dieses Recht zählt zum unbestrittenen Kernbestand unserer Demokratie. Umso mehr muss seine Substanz geschützt und gestärkt werden.

Zum Schutz zuerst: Wenn den Gewählten nichts mehr zu entscheiden bliebe, dann würde das Wahlrecht zum leeren Formenspiel, und die Wähler wendeten sich ab. Diese Gefahr ist ja beileibe nicht bloß theoretisch. Die Länderparlamente können ein Lied davon singen. Sie haben durch die konkurrierende Gesetzgebung und die Rahmengesetzgebung des Bundes sehr viele Entscheidungsrechte verloren. Der Bundestag könnte spätestens dann in das Lied einstimmen, wenn es um die - ebenso vernünftige wie alternativlose - Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene geht. Darum gehört ins Zentrum aller Aufgaben-, Organisations- und Finanzfragen immer wieder auch die Frage, wie und auf welcher Ebene die parlamentarischen Kontroll- und Entscheidungskompetenzen und damit der Einfluss der Wähler gewahrt und gestärkt werden können.

Fast noch eindrucksvoller lässt sich die Problematik derzeit am Beispiel der kommunalen Selbstverwaltung zeigen. Sie braucht Aufgaben, Handlungsformen und ausreichende Finanzen, damit sie sich kraftvoll verwirklichen kann; sonst verlieren die Entscheidungsrechte der Kommunalvertretungen und die Teilhaberechte der Bürger ihre politische Substanz.

Das könnte dramatische Folgen für die Bürgernähe und für die demokratische Akzeptanz des Gesamtstaates haben. Darauf deutet eine norwegische Studie hin, über die jüngst in vielen Zeitungen berichtet worden ist. Sie ist im Auftrag des norwegischen Parlaments erarbeitet worden und kommt zu dem Ergebnis, dass die Kette der demokratischen Legitimation und Legitimität in Norwegen zu zerfallen droht.

  • Die Wahlbeteiligung gehe zurück;
  • örtliche, von der Mittelschicht dominierte Bürgerinitiativen nähmen zu;
  • die Parteien wandelten sich zu immer professioneller betriebenen politischen Maschinen, in denen die Mitglieder immer weniger Einfluss hätten
  • und es tue sich eine Kluft auf zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten.
Die wichtigste Ursache für all das: Die norwegische Demokratie wurzele in der örtlichen Selbstverwaltung, doch die wiederum sei nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Ihre Formen seien noch am Platze, doch ihre Entscheidungsrechte seien geschwunden. Stattdessen führten die Kommunen fast nur noch Entscheidungen des Zentralstaats aus. Die Selbstverwaltung sei deshalb demoralisiert, und die Wähler wendeten sich ab. Die örtliche Demokratie sei aber besonders wichtig für das Gefühl, auch zwischen den Wahlen zum Nationalparlament in demokratische Entscheidungen einbezogen zu sein. Der Niedergang der örtlichen Demokratie gefährde darum das demokratische Fundament des ganzen Staates.

Dieser Befund aus Norwegen gibt zu denken, weil uns vieles bekannt vorkommt, und er bestärkt mich in der Überzeugung, dass unsere Föderalismusreform auch die Lage der Kommunen durchgreifend verbessern muss, um die demokratischen Rechte der Bürger zu schützen und die Bürgernähe zu fördern.

Lassen sich die demokratischen Beteiligungsrechte darüber hinaus weiter stärken und ausbauen? Auch diese Frage verdient sorgfältige Prüfung.

Wie sehen zum Beispiel die Erfahrungen mit dem Kumulieren und Panaschieren aus? Wenn sie gut sind, und den Eindruck habe ich, warum sollte dieses Wahlverfahren dann nicht noch deutlich mehr in Gebrauch kommen? Außerdem: Warum öffnen die politischen Parteien ihre Listen nicht stärker für Nichtmitglieder oder Noch-Nichtmitglieder? Und: Gibt es noch andere Möglichkeiten, den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss auf die Auswahl der Kandidaten zu geben?

Und weiter: Wir haben in den Kommunen und in den Ländern mit Bürgerbegehren und Volksbegehren, mit Bürgerentscheiden und Volksentscheiden insgesamt gute Erfahrungen gemacht. Bis zum Herbst des vergangenen Jahres gab es in den Ländern schon mehr als 150 Volksbegehren, an die dreißig Volkspetitionen mit der Forderung, ein bestimmtes Thema im Landtag zu behandeln, und mehr als dreißig Referenden. Dazu kamen etwa 250 Bürgerbegehren und rund 120 Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene. Das ist schon den Zahlen nach eine eindrucksvolle Bilanz. Noch wichtiger ist aber: Diese Formen direkter Demokratie haben nicht etwa dem Populismus Tür und Tor geöffnet, sondern sind ganz überwiegend Zeichen von solidem demokratischen Engagement.

Das Grundgesetz kennt - bis auf den Ausnahmefall der Länderneugliederung - Volksbegehren und Volksentscheide bisher nicht. Die Mütter und Väter unserer Verfassung hielten solche plebiszitären Elemente für problematisch und wollten lieber eine starke parlamentarische Demokratie.

Niemand wird leugnen, dass Volksabstimmungen Demagogen auf den Plan rufen können. Nach fünfzig Jahren ist unsere Demokratie aber stark und selbstbewusst genug, um auch mit vereinzelten populistischen Missbräuchen fertig zu werden. Auch hier gilt, dass der gelegentliche Missbrauch einer Sache ihren Gebrauch nicht hindern sollte.

Darum halte ich es für richtig, dass inzwischen alle Parteien darüber nachdenken, wie wir auch das Grundgesetz durch klar definierte plebiszitäre Elemente ergänzen und bereichern können. Ich würde es begrüßen, wenn das schon bald gelänge. Die Bürgernähe unseres Staates und das Vertrauen in ihn könnten dadurch nur gewinnen.

Dabei sind mir allerdings zwei präzisierende Hinweise wichtig: Erstens können und sollen die Formen direkter Demokratie nicht die Parlamente ersetzen. Ich jedenfalls will unsere repräsentative nicht gegen eine plebiszitäre Demokratie eintauschen. Zweitens lassen die Anhänger direkter Demokratie nicht selten ein Ressentiment gegen die politischen Parteien erkennen, etwa nach dem Motto: Direkte Demokratie ist die Antwort auf die Unbeweglichkeit und auf die Handlungsschwäche der Parteien. Dieses Ressentiment halte ich für falsch und schädlich, auch wenn Parteien oft einiges dafür tun, es zu nähren.

In Wahrheit können die Formen direkter Demokratie die Arbeit der Parteien überhaupt nicht ersetzen, auch und gerade unter dem Aspekt der Bürgernähe nicht. Nur die Parteien sind zu mehr als punktuellem Engagement in der Lage; nur sie können landes- und bundesweit die Fülle der Themen erfassen und ordnen. Nur sie können widerstreitende Ziele und Interessen abwägen, Gegensätze überbrücken und Kompromisse finden und schließen.

Auch für die Parlamente ist die Arbeit der Parteien unverzichtbar - übrigens hat sich das schon in der Paulskirchenversammlung sehr eindrucksvoll erwiesen. Gäbe es die Parteien nicht, man müsste sie erfinden, nein: Sie würden von selbst entstehen, denn schon bald würden engagierte Demokraten über ihre Einzelinitiativen hinaus nach den größeren politischen Zusammenhängen und nach dauerhaften Verbündeten streben.

Es gibt Parteienverdrossenheit, ich weiß, und es gibt auch manchen Grund dazu; aber meine Antwort an alle Verdrossenen lautet: Lasst es Euch nicht verdrießen - engagiert Euch, organisiert Euch, tretet ein und macht es besser!

VI.

Die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung soll Vorschläge erarbeiten, "um die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz ihrer Aufgabenerfüllung zu steigern". So haben der Deutsche Bundestag und der Bundesrat es beschlossen.

Sie überprüft dazu die Zuordnung von Gesetzgebungszuständigkeiten, die Mitwirkungsrechte der Länder in der Bundesgesetzgebung und die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und sie beleuchtet alles auch vor dem Hintergrund der Entwicklung der Europäischen Union und mit Blick auf die Lage der Kommunen.

Dieses Arbeitsprogramm ist wichtig, sinnvoll und nötig. Man merkt freilich: Der Hauptakzent liegt auf Effizienz, auf Handlungsfähigkeit, auf Funktionalität und auf Wettbewerb. Von Bürgernähe ist in den Beschlüssen zur Einsetzung der Kommission nicht die Rede. Auch in den bisherigen Beratungen taucht dieses Stichwort nur am Rande auf, etwa wenn es um eine transparentere Ordnung der Zuständigkeiten geht und um mehr Rechte für die Länder - beides ist gewiss wichtig.

Sie werden verstehen, dass ich mich in die Einzelheiten der Kommissionsarbeit nicht einmische. Ich will aber doch gern zwei allgemeine Bemerkungen anfügen, die ich lange vor ihrem Beginn gemacht habe.

- Zum einen sollte die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Länder nicht in Konflikt mit dem Ziel geraten, die föderale Ordnung transparenter und damit bürgernäher zu machen. Ich zitiere mich ausnahmsweise einmal selber: Die Reform darf nicht zu Mandelbrot-Figuren führen - Sie wissen schon, diese unendlich komplexen Bilder aus der Chaosforschung.

Das könnte indes leicht geschehen, etwa wenn mit Blick auf einen Gesetzgebungsgegenstand den Ländern nur Teilfragen zur eigenen Regelung zurücküberwiesen werden oder wenn man neue, feinziselierte Verfahren der Mitwirkung und Rückholung und dergleichen mehr installiert. Wenn also rückübertragen wird, dann nicht ein bisschen auf vielen Feldern, sondern lieber auf wenigen ganz.

- Zum anderen sollte das Ordnungmachen nicht zum Selbstzweck werden. Auch die Politik schreibt gelegentlich auf krummen Zeilen grade, und mitunter führen Verhältnisse, die dem Ordnungspolitiker ein Gräuel sind, für die Bürger und das Gemeinwesen zu ganz vernünftigen Ergebnissen. Mischfinanzierung und Gemeinschaftsaufgaben zum Beispiel, die heute so in der Kritik stehen, sind ja nicht aus Freude an Verfassungsänderungen in das Grundgesetz eingefügt worden, sondern aus sachlichen Gründen.

Hat sich zum Beispiel die Kofinanzierung des Bundes in der Kulturpolitik, beim Hochschulbau und in der Forschungsförderung im Grunde nicht doch recht gut bewährt? Wie wird es Kultur und Wissenschaft in den finanziell weniger leistungsfähigen Ländern gehen, wenn der Bund sich aus der Finanzierung zurückzieht? Gewiss, das sind keine Fragen des Verfassungsrechts; aber es sind Fragen der Verfassungswirklichkeit, und die hat auch ihren Reiz.

Ich habe deutlich zu machen versucht, was die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung bislang nicht berät: Vieles nämlich, auf das man nur kommt, wenn man ein wenig über die verschiedenen Dimensionen von Bürgernähe nachdenkt.

Gewiss: Der Auftrag der Kommission muss begrenzt sein, wenn sie erfolgreich sein soll. Einige der von mir angesprochenen Fragen sind auch keine Sache des Verfassungsrechts. Alle erscheinen sie mir aber so wichtig, dass sie weitere Diskussion und dann auch Antworten verdienen.

Darum ist es gut, dass die Stiftungsallianz sich besonders um das Thema Bürgernähe kümmert und so die Arbeit der staatlichen Gremien begleitet und bereichert.

Ich wünsche Ihren heutigen Beratungen und Ihrer weiteren Arbeit von Herzen Erfolg.