Rede von Bundespräsident Johannes Rau in der deutschsprachigen Andrássy-Universität (AUB)in Budapest "Deutschland und Ungarn: Partner in Europa"

Schwerpunktthema: Rede

Budapest, , 22. April 2004

Ich freue mich darüber, dass ich hier in der Andrássy-Universität sprechen kann, und bedanke mich herzlich für die Einladung. Vor anderthalb Jahren war ich schon einmal hier, zur feierlichen Einweihung dieser Universität. Damals konnte ich den Glanz dieses Budapester Adelspalais schon erahnen. Aber diese festlichen Räume übertreffen alle Erwartungen. Und ich beglückwünsche Sie, Herr Rektor, ganz herzlich!

Nun gibt es die Andrassy-Universität erst kurze Zeit und schon übersteigt die Nachfrage ihre Möglichkeiten. Auf jeden Studienplatz, den sie anbieten können, gibt es mehrere Bewerber. Sie denken schon daran, ihr Angebot zu erweitern.

Das zeigt: Das Konzept der Universität ist richtig. Es war richtungsweisend, den europäischen Gedanken, die Verständigung und den kulturellen Austausch zum Studienprogramm zu machen.

Die erste Neugründung einer deutschsprachigen Universität im mittel- osteuropäischen Raum entspricht offensichtlich einem weit verbreiteten Interesse. Mich freut und mich berührt zugleich, dass die Anknüpfung an die gewaltsam unterbrochene, reiche Tradition deutschsprachiger Universitäten in Mittel- und Osteuropa so offensichtlich gelingt.

Alle privaten Förderer, die die Andrássy-Universität von Anfang an unterstützt haben, wissen heute: die Investitionen haben sich gelohnt. Alle öffentlichen Förderer, Bundesregierung, vor allem aber dem Land Baden-Württemberg und dem Freistaat Bayern, und allen anderen möchte ich ganz herzlich danken und gleichzeitig unsere Bitte: Lassen Sie in Ihren Anstrengungen nicht nach!

II.

Die Erweiterung der Europäischen Union wird ein Erfolg werden, das große Europa der 25 wird gelingen, wenn es junge Menschen gibt, die Europa tragen, die einen weiten Horizont haben und europäische Erfahrungen sammeln. Sie werden die neuen Chancen nutzen, die das größere Europa bietet. Diese Universität trägt dazu bei, junge, wirklich gesamteuropäische Spitzenkräfte herauszubilden.Sie ist eine einmalige übernationale Bildungseinrichtung: deutschsprachig und polyglott, ungarisch und international.

Die Andrassy-Universität ist für uns Deutsche und für Ungarn ein großer Gewinn. Wir brauchen junge Menschen, die unsere Sprachen sprechen und persönliche Erfahrung in und mit unseren beiden Ländern haben.

Ich habe die Studenten dieser Universität ein schönes, gutes Deutsch sprechen und singen hören. Das hat mir auch deshalb besonders gefallen, weil ich in Deutschland bei vielen einen ziemlich lieblosen Umgang mit unserer Sprache feststellen muss. Ein Einheitsjargon mit vielen importierten Neubildungen droht sprachliche Eigenheiten zu ersetzen und lässt unseren sprachlichen Reichtum verkümmern.

Wenn wir eine Welt wollen, in der die Vielfalt der Kulturen und die Vielfalt der Lebenswelten erhalten bleibt, dann müssen wir alles für die Pflege der Sprache und für Sprachenvielfalt tun. Zu dieser großen Aufgabe leistet Ihre Universität einen wichtigen Beitrag.

III.

Wir pflanzen diesen kräftigen jungen Baum auf einem gut bestellten Feld. Ungarn und Deutschland sind durch eine mehr als tausendjährige Geschichte, durch engen kulturellen Austausch und eine tiefe Freundschaft verbunden. Seit König Stephan damals eine bayerische Prinzessin als seine Frau in die pannonische Ebene führte, Gisela, ist der Kontakt mit den deutschen Ländern sehr eng gewesen.

Ein altes ungarisches Sprichwort sagt: "Ein guter Nachbar ist ein Schatz." Daran haben wir uns seit der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955 hoffentlich gehalten.

Am 2. Mai 1989 hat die ungarische Regierung den elektrischen Zaun an der Grenze abgeschaltet; auf Flüchtlinge wurde nicht mehr geschossen. Im Juni 1989 durchtrennten der ungarische und der österreichische Außenminister symbolträchtig den Stacheldraht. Am 10. September öffnete Ungarn schließlich uneingeschränkt seine Grenzen für die Bürger der DDR.

"Aus der Berliner Mauer hat Ungarn den ersten Ziegel ausgeschlagen" hat Helmut Kohl gesagt. Er hatte Recht.

15 Jahre liegt das nun schon zurück. Die politischen Verantwortlichen in Ungarn haben damals großen Mut bewiesen. Und sie haben entscheidend dazu mitgeholfen, dass ganz Europa die Freiheit und dass Deutschland die Einheit gewinnen konnte.

IV.

Das demokratische Ungarn und das vereinte Deutschland waren von Anfang an Verbündete, als es darum ging, die Verhältnisse in Europa neu zu ordnen.

Fast ein halbes Jahrhundert lang sind die Nationen Europas in "West-" und "Osteuropäer" sortiert worden. Mit dem Beitritt Ungarns und weiterer neun Staaten zur EU in wenigen Tagen, am 1. Mai, wird diese falsche Trennung unseres Kontinents endgültig überwunden. Europa gewinnt 75 Millionen neue Unionsbürger hinzu. Die Erweiterung ist ein Anlass zu heller Freude. Ich habe jedenfalls kaum je ein Dokument so gern unterzeichnet wie die Ratifikationsurkunden zu den Beitrittsverträgen.

Der 1. Mai wird freilich noch nicht das Ende des Erweiterungsprozesses sein. Wir verhandeln mit Bulgarien und Rumänien mit dem Ziel, sie im Januar 2007 ebenfalls als Mitglieder der EU aufzunehmen. Ungarn wird dann mit seinem Nachbarland Rumänien unter einem gemeinsamen europäischen Dach leben. Damit rücken Menschen und Landschaften wieder zusammen - ich denke an Siebenbürgen -, die tiefreichende historische Bindungen haben. Wenn die Grenzen nicht mehr trennen, weil sie europäische Binnengrenzen werden, wenn der Nationalismus ausgespielt hat, dann kommt Europa seiner Bestimmung ein großes Stück näher.

V.

Ungarn hat in den letzten Jahren enorme Herausforderungen zu bewältigen gehabt.

  • Mit der Übernahme des europäischen Rechts mussten praktisch alle Rechtsbereiche und die gesamte öffentliche Verwaltung verändert werden. Das gesamte öffentliche Leben wurde umgestaltet.

  • Die Wirtschaft, mitten im Transformationsprozess, musste sich auf den Wettbewerb im Binnenmarkt vorbereiten. Das Ergebnis ist beeindruckend: Ungarns Wirtschaft wächst seit sieben Jahren kontinuierlich.

  • Das hat sich auch auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern positiv ausgewirkt. Der Handelsumsatz hat sich in den letzten acht Jahren verdreifacht. Ein Drittel der ungarischen Exporte geht nach Deutschland und ein Viertel Ihrer Importe kommt aus meinem Land. Wer weiß beispielsweise schon in Deutschland, dass Motoren traditioneller deutscher Automobilmarken seit Jahren in Ungarn produziert werden?

Wenn man diese große ungarische Leistung in Rechnung stellt, dann ist der Beitrittsprozess durchaus nicht so langsam verlaufen, wie das manche kritisiert haben. Die Beitrittsverhandlungen haben 5 Jahre gedauert, bevor sie im Dezember 2002 abgeschlossen wurden - das ist kurz, wenn man bedenkt, wie Vieles es zu besprechen und zu regeln gab!

Am 12. April 2003 hat sich in einem Referendum eine eindrucksvolle Mehrheit von 84 % der ungarischen Wähler für den Beitritt Ungarns zur Europäischen Union ausgesprochen. Und in wenigen Tagen ist es nun so weit.

VI.

Die Europäische Union ist mehr als ein Wirtschaftsraum, sie ist eine Wertegemeinschaft. Demokratie, sozial gebundene Marktwirtschaft, Rechtstaatlichkeit, Menschen- und Minderheitenrechte zeichnen sie aus. Zu diesen Werten gehören auch die Rechte der Minderheiten. Darin sind sich Deutsche und Ungarn einig.

Diese Gemeinschaft darf sich nicht spalten in einen Kern und eine Peripherie. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten entspricht nicht der Vision seiner Gründerväter. Was wir allerdings brauchen, ist ausreichende Flexibilität, damit einige vorangehen können, solange noch nicht alle bereit sind. Bei der Währungsunion und beim System von Schengen haben wir damit gute Erfahrungen gemacht. Es muss aber dabei bleiben, dass diejenigen, die vorausgehen, das tun, um den anderen den Weg zu bahnen, und nicht, um sie zurückzulassen.

Die europäische Einigung hat uns Wohlstand und Frieden gebracht. Wir mögen Meinungsverschiedenheiten und Interessenunterschiede haben. Aber ein Krieg ist nicht mehr vorstellbar. An diesem Fortschritt wollen wir auch den gesamten Balkan teilhaben lassen. Allein die Aussicht auf Mitgliedschaft in der EU wirkt in dieser schwergeprüften Region schon stabilisierend. Ungarns Nachbar Kroatien hat bereits einen Beitrittsantrag gestellt. Die Kommission hat gerade positiv zu ihm Stellung genommen.

VII.

Ich bin zuversichtlich, dass die europäische Verfassung noch vor Jahresmitte, noch unter irischer Präsidentschaft beschlossen wird. Diese Verfassung brauchen wir, wenn wir die Strukturen der Union an die Erweiterung anpassen wollen. Wir brauchen sie, damit wir uns in der größeren Union zusammenfinden und mit geeinter Kraft die Probleme lösen können, die die Menschen bewegen.

Die Verfassung soll auch eine Vertiefung der Europäischen Union bewirken. Der französische Präsident Chirac hat am 24. Februar vor dem ungarischen Parlament an die Vision des großen ungarischen Patrioten Kossuth erinnert, der von einer Föderation der Nationalitäten im Herzen Europas sprach. Ich teile diese Vision Kossuths.

Wichtig sind vor allem Fortschritte bei der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Angesichts der immensen weltweiten Herausforderungen und Bedrohungen brauchen wir aber ein starkes, ein einiges und damit ein handlungsfähiges Europa. Ein wichtiger Punkt kommt hinzu: Nur wenn wir gemeinsam handeln, können wir ein wirklicher und verlässlicher Partner der USA sein.

Die Verfassung sieht eine Union der Staaten und der Bürger vor. Beide Elemente müssen beachtet werden, wenn es in Brüssel zu Abstimmungen kommt. Das schließt im übrigen auch ein ungesundes Übergewicht der großen Mitgliedstaaten aus.

Ich bin davon überzeugt: Europa kann nur dann gut funktionieren, wenn seine kleineren Mitgliedsstaaten sich dort gut aufgehoben fühlen. Sie müssen die gleiche Möglichkeit haben, ihre Interessen effektiv zu vertreten. Nur dann werden sie, wie bisher, zu den besten Europäern zählen.

Die Europäische Union wird sich weiterentwickeln. Was wir dazu brauchen, ist ausreichende Flexibilität, damit einige vorangehen können, solange noch nicht alle bereit sind. Bei der Währungsunion und beim System von Schengen haben wir damit gute Erfahrungen gemacht. Es muss aber dabei bleiben, dass diejenigen, die vorausgehen, das tun, um anderen den Weg zu bahnen, und nicht, um andere zurückzulassen.

VIII.

Viele Menschen, in Ungarn und in Deutschland, haben auch Sorgen, wenn sie auf Europas Zukunft blicken. Wir müssen diese Sorgen ernstnehmen. Wir müssen verstehen, was den Anderen bedrückt. Wir müssen die Sorgen um Arbeitsplätze, um die Verlagerung von Standorten begreifen und ernstnehmen. Darum war es vernünftig, in einigen Bereichen Übergangsregelungen zu vereinbaren.

Sie können sich darauf verlassen, dass Ungarn in seinem wirtschaftlichen Aufholprozess weiter unterstützt wird. Freilich hat auch diese Medaille eine andere Seite, Solidarität kann keine Einbahnstrasse sein. Im Wettbewerb der Standorte muss es fair zugehen. Das gilt für die Industriepolitik und für die Umweltpolitik genauso wie für die Steuerpolitik.

Die Menschen in Ungarn möchten wissen, was im vereinten Europa aus ihrer nationalen Identität, aus ihrer Kultur, ihren Eigenheiten, ihrer Sprache wird. Ich bin davon überzeugt, dass Europa nur bestehen kann, wenn wir beides zugleich sein können: Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union und unseres Landes. Mehr als Hymne und Fahne beschreibt das neue europäische Motto "In Vielfalt vereint" die Stärke Europas. Europa wollte nie zu einem Schmelztiegel werden. Die Vielfalt der Kulturen und Sprachen, die Vielfalt der Lebensweisen und Traditionen sind Stärken, die in der EU nicht aufgehen oder gar untergehen, sondern zu einem neuen Ganzen finden sollen. Brüssel darf nicht versuchen, gut verankerte nationale Traditionen zu vereinheitlichen und zu zentralisieren. Sonst wenden sich die Bürger von Europa ab.

Ich bin aber optimistisch: Die Erfahrung zeigt, dass die Mitglieder der EU nichts von ihren liebenswürdigen Eigenheiten, Traditionen und Kulturen einbüßen. Italiener sind Italiener geblieben und Deutsche Deutsche. Ich bin davon überzeugt, dass auch die Ungarn gute Europäer sein werden, ohne an ihrem Ungarischsein Abstriche machen zu müssen.

Ich bin auch deshalb zuversichtlich, weil sich nach früheren Beitrittsrunden die Erwartungen der Beitrittsländer mehr als erfüllt haben. Die Erfahrungen von Irland und Portugal, von Spanien und Griechenland zeigen: der Beitritt kann eine ungeheure Dynamik auslösen. Diese Länder haben einen beispiellosen Aufschwung erfahren. Das darf auch Ungarn Mut machen!

Freuen wir uns auf die nächsten 1000 Jahre guter deutsch-ungarischer Beziehungen in einem gemeinsamen Europa!