Tischrede von Bundespräsident Johannes Rau beim Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, Schloss Charlottenburg, , 7. Juni 2004

I

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

herzlich willkommen im Charlottenburger Schloss. Das ist auch für mich eine Premiere - ich bin zwar oft in diesem Schloss gewesen, aber nie als Gastgeber. Weil das Schloss Bellevue gegenwärtig eingerüstet ist und für zukünftige Zeiten renoviert wird, haben wir hier gewissermaßen "Asyl" gefunden für größere Veranstaltungen und ich hoffe, dass es uns gelingt, das hier so gesellig und wohnlich und festlich zu halten, wie ich das jeweils versucht habe. Ein herzlicher Glückwunsch zuerst an das neue Mitglied des Ordens Pour le mérite, und dann ein Gruß an Sie alle.

Ich verabschiede mich heute von Ihnen als Protektor. Das könnte ein geeigneter Anlass dafür sein, zurückzuschauen und die vergangenen fünf Jahre Revue passieren zu lassen, aber ich habe mir gesagt: Was sind fünf Jahre Amtszeit eines Bundespräsidenten gegenüber der Geschichte eines Ordens, die, alles in allem, schon mehr als ein Vierteljahrtausend währt, wenn ich den gesamten Orden nehme?

Je traditionsreicher eine Institution ist, desto größer wird auch die Versuchung, sich mehr auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart oder gar die Zukunft zu beziehen. Der heutige Abend führt uns ja die Tradition des Ordens im Wortsinne vor Augen: In der Bibliothek, in der Etliche von uns gewesen sind, konnten Sie die Bildnisse bedeutender Ordensmitglieder betrachten, aus einer Zeit, in der noch jedes Mitglied gemalt wurde von einem Künstler seiner Wahl.

Aber ich will nicht über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft sprechen.

Was den Orden Pour le mérite auszeichnet und was er auszeichnet, das ist die Exzellenz in Wissenschaften und Künsten. Darin liegt, so meine ich, auch eine Verpflichtung: die Verpflichtung, das Verhältnis zwischen Wissenschaften und Künsten, aber auch das Verhältnis zwischen den Geisteswissenschaften, den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften immer wieder neu zu bestimmen.

Dazu gehört es, dass die herausragenden Vertreter ihrer Disziplinen - und der Orden vereint viele von ihnen - sehr genau beobachten, ob sich unter dem Einfluss von Zeitgeist oder Tagespolitik die Gewichte verschieben, und dass sie Einspruch erheben, wenn Kurzsichtigkeit oder bloßes Nützlichkeitsdenken die Oberhand zu gewinnen drohen.

Die Naturwissenschaften, vor allem die Bio-Wissenschaften, finden heute viel öffentliche Aufmerksamkeit. Der Orden Pour le mérite vereint hervorragende Vertreter dieser Fächer. Für die Geisteswissenschaften gilt leider nur das letztere. Sie müssen heute oft um ihre öffentliche Anerkennung kämpfen. Darum möchte ich heute Abend etwas zu ihrer Rolle und zu ihren Aufgaben sagen, wie ich es sehe.

II

"Brauchen wir die Geisteswissenschaften? Wozu brauchen wir sie?

Haben sie sich nicht längst selber überholt, wenn sie mehr sein wollen als die Berufsausbildung für Deutsch- und Geschichtslehrer an unseren Schulen?"

So lauten populäre Fragen, die auch die Diskussionen in manchen Feuilletons bestimmen. Ich finde es richtig, solche Fragen zu stellen, damit wir den eigenen Standort überprüfen und die Balance zwischen den "drei Kulturen" der Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften neu justieren, wo uns das nötig erscheint.

Es macht mir aber Sorgen, wenn diese Fragen aus einer Haltung heraus gestellt werden, die nur nach dem Verwertbaren und nach dem ökonomisch Nützlichen fragt.

Manche Universitäten scheinen von diesem Sog erfasst zu sein. Da werden die "kleinen" Fächer wegrationalisiert und ganze Studiengänge eingestellt: Musikwissenschaft, Slawistik, Kirchengeschichte sind nur einige Beispiele dafür. Das weiß ich auch aus vielen Briefen, in denen ich um Hilfe gebeten werde.

Dabei nennt man diese Fächer doch auch die "Orchideen-Fächer". Wollen wir auf Orchideen etwa verzichten, nur weil sie selten sind und weil man sich besonders viel Mühe geben muss, sie zu pflegen? Weil sie dem frischen Wind der Innovation auf Dauer sowieso nicht standhalten könnten?

III

Wir müssen aufpassen, dass dieser Wind, der viele Segel blähen kann bei der globalen Fortschritts-Regatta, diejenigen nicht umbläst und hinwegfegt, die beim Rennen nicht mitmachen und nicht mitmachen können:

Diejenigen, die sich fragen, um welche Ziele es geht, ob diese Ziele wirklich für uns alle erstrebenswert sind, ob sie uns zu einem besseren Leben verhelfen;diejenigen, die fragen, wozu der Wettlauf gut sein soll, die seine Grenzen abstecken, die manchmal mahnen, doch die Geschwindigkeit etwas zu verringern.

Von Marc Aurel ist der Spruch überliefert: "Wer seinen Hafen nicht kennt, für den ist kein Wind ein günstiger."

Also sollten wir uns die Innovationsdebatte einmal genauer ansehen.

Da wird gesagt, Deutschland müsse wieder zur Weltspitze vorstoßen; Talente und Fähigkeiten seien Ressourcen für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, Investitionen in Bildung und Wissenschaft zahlten sich in einem höheren Wirtschaftswachstum aus.

Aber was heißt das für jede einzelne und für jeden einzelnen? Wer fühlt sich in der gegenwärtigen Debatte, die - je nach Stimmungslage - euphorisch oder mit gesenktem Haupt geführt wird, dafür zuständig, den Namen des Hafens zu erfahren und nicht nur den Namen, sondern auch, was wir dort sollen, wenn wir wirklich glücklich angekommen sind?

IV

Da haben, nach meiner Überzeugung, die Geisteswissenschaften eine wichtige und sehr aktuelle Aufgabe: nicht, weil sie uns auf alle Fragen eine direkte und "anwendbare" Antwort geben könnten, sondern weil sie seit dem Mittelalter das Verstehen, das Argumentieren und das Unterscheiden einüben.

Wir werden aus den Geisteswissenschaften keine konkreten Handlungsanweisungen bekommen, aber sie lehren uns das Deuten. Sie versuchen die Vergangenheit zu erklären und sie geben uns Denkmodelle an die Hand, mit denen wir uns in einer Gegenwart zurechtfinden können, die uns immer unübersichtlicher vorkommt.

Peter von Matt, der uns heute Nachmittag den Festvortrag gehalten hat, den ich mit großem Interesse zugehört habe, hat uns in einer kleinen Schrift vorgemacht, wie das gehen kann. Das Büchlein heißt "Die Ästhetik der Hinterlist" und handelt von "Theorie und Praxis der Intrige in der Literatur".

Nun handelt ja alle Literatur vom Leben, und man kann in diesem Text vieles von dem wiederfinden, was wir in der Politik oft erfahren müssen: von Intrigen und davon, mit welchen Mitteln und mit welchem Erfolg Interessen verfolgt werden.

Es geht aber nicht nur darum, dass die Geisteswissenschaften uns helfen, etwas wiederzuerkennen. Es geht auch darum, dass sie uns helfen, es zu bewerten.

Wie schreibt Peter von Matt? "Unübersehbar und unbestreitbar bleibt, dass die Intrige in der Literatur den Leser und Zuschauer mit den unerbittlichsten Fragen nach dem konfrontiert, was richtig und falsch ist, gut und böse."

Ich meine, diese Fragen dürfen auch in der beschleunigten Fortschritts- und Erneuerungsdebatte nicht erst ganz am Ende gestellt werden, als eine Art Schlusslicht gewissermaßen. Nein: Diese Fragen müssen am Anfang stehen.

Dazu brauchen wir das Verstehen, das Argumentieren und das Unterscheiden, die das Fundament aller wissenschaftlichen Anstrengungen bilden müssen.

Die Friedensklasse des Ordens Pour le mérite kann nach meiner Überzeugung ein Forum dafür sein. Hier tauschen sich Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Künstler in einer Gemeinschaft aus, die keinem unmittelbaren Zweck dient.

Deshalb möchte ich Sie am Schluss meiner Rede und meiner Amtszeit - beides ist nicht ganz identisch, ich habe noch gut drei Wochen - bitten, diesen Austausch weiter zu pflegen und lebendig zu erhalten. Lassen Sie bitte auch andere an diesem Austausch teilhaben, damit wir die vordergründige Frage nach dem Nutzen der Geisteswissenschaften nicht mehr zu stellen brauchen.

Ich sage Ihnen das am Ende einer Zeit, in der ich gern der Schutzherr des Ordens Pour le mérite gewesen bin. Ich denke gern an die Öffentlichen Sitzungen zurück, an denen ich teilgenommen habe - und ich glaube, es war jedes Jahr möglich -, und natürlich an die festlichen Abendessen im Schloss Bellevue.

Meine Frau und ich wünschen jeder und jedem von Ihnen alles Gute. Ich danke Ihnen für Gespräche und Anregungen und heiße Sie alle noch einmal herzlich willkommen!