Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau beim 4. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. Juni 2004

I.

Noch acht Tage und der Rest von heute - dann endet meine Amtszeit. Sie können sich gewiss vorstellen, wie Vieles da noch bedacht und getan sein will; aber heute zu Ihnen zu kommen, und sei es auch nur für eine knappe Stunde - das war mir besonders wichtig. Ich freue mich darüber, bei Ihnen zu sein, und ich wünsche Ihrem Symposium und Ihrer weiteren Arbeit viel Erfolg.

In der Europäischen Union ist die Harmonisierung des Asylrechts beträchtlich vorangekommen, in Deutschland stehen die parlamentarischen Beratungen über ein Zuwanderungs- und Integrationsgesetz allem Anschein nach kurz vor dem Abschluss. Auf beiden Ebenen haben wir endlose Debatten und viel Streit erlebt. Können die Ergebnisse sich sehen lassen, oder erleben wir bloß ein Ende mit Schrecken?

Ich kann und will dem Bundesgesetzgeber nicht vorgreifen und auch der Europäischen Union keine Noten erteilen. Darum nur so viel: Ich bin überzeugt davon, dass die Ergebnisse sich sehen lassen können. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass wir leider weit hinter dem zurückbleiben, was im Interesse von Einheimischen und Zuwanderern notwendig und möglich wäre.

Ich kann alle gut verstehen, die darunter leiden, wie lange es dauert, bis sich überhaupt etwas bewegt. Ich sage aber auch: Es ist besser, ein kleines Licht anzuzünden, als über die große Finsternis zu klagen. Es zeichnen sich ja doch substantielle Verbesserungen des deutschen Zuwanderungs- und Integrationsrechtes ab, und die Europäische Union hat eine wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung des Asylrechts in Europa geschaffen. An den jahrelangen Debatten, die zu diesen Ergebnissen hingeführt haben, hatten Sie alle einen guten Anteil. Es lohnt sich, diese Arbeit fortzusetzen.

II.

Nach den Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen gibt es derzeit weltweit rund zwölf Millionen Flüchtlinge und zusätzlich mehr als fünf Millionen Menschen, die innerhalb ihrer Heimatstaaten auf der Flucht sind vor Verfolgung, Gewalt und Naturkatastrophen. Die meisten von ihnen haben kein vernünftiges Dach über dem Kopf, keine ausreichende medizinische Versorgung und oft nicht einmal genug zu essen. Millionen von Flüchtlingen fristen ihr Dasein in ständiger Furcht, in verzweifelter Sorge um ihre Kinder und Familienangehörigen und ohne Aussicht auf bessere Zeiten.

Das Leid dieser Millionen kann und darf uns nicht gleichgültig lassen. Die Weltgemeinschaft und vor allem die wohlhabenden Demokratien und ihre Bürger müssen helfen: um der Menschen willen und auch aus berechtigtem eigenen Interesse. Auf Dauer wird es keine Inseln des Wohlstands in einem Meer von Elend und Not geben.

Unser Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte wäre verlogen, wenn wir dem Elend der Flüchtlinge schulterzuckend zusähen. Flüchtlingen helfen und Fluchtursachen bekämpfen: Das gehört zusammen. Das dient auch dem guten Miteinander hier bei uns. Die weltweiten Probleme verschwinden ja nicht, wenn wir uns ihnen nicht stellen - sie finden ihren Weg zu uns.

III.

Diese Wahrheit ist mittlerweile, so hoffe ich, zum Allgemeingut geworden. Das zählt für mich zu den Fortschritten in der Debatte um Flucht und Migration. Es kann auch keinen vernünftigen Zweifel an der großen Hilfsbereitschaft gerade in den westlichen Demokratien geben: Die staatlichen Anstrengungen sind ja beträchtlich. Dazu kommt ein breites gesellschaftliches Engagement, das zum Beispiel hier in Deutschland von "Pro Asyl" über ungezählte Integrationsinitiativen bis hin zur bekannten Spendenfreude der Deutschen reicht.

Am Beispiel Deutschlands lässt sich aber auch gut zeigen, wie zäh und wie schwierig manche Erkenntnisprozesse verlaufen und wie lange es dauert, ehe endlich aus den gewonnenen Einsichten auch die nötigen Schlüsse gezogen werden. Über die Frage zum Beispiel, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, ist jahrelang haarspalterisch gestritten worden, und es gab Momente, in denen ich ernsthaft daran gezweifelt habe, ob jemals ein modernes Zuwanderungs- und Integrationsgesetz zustande käme. Nun ist die Begriffsdebatte beigelegt und allseits anerkannt, dass Deutschland Einwanderung braucht und steuern muss, und ein Gesetz auf den Weg gebracht.

Bei aller Kritik im Grundsätzlichen und im Praktischen: Nach meiner Überzeugung sollte niemand dies Gesetz schlecht reden. Es soll zum Beispiel erhebliche rechtliche Verbesserungen für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und für Menschen bringen, bei denen aus humanitären Gründen Abschiebungshindernisse bestehen.

Das Gesetz nennt zum ersten Mal nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung als mögliche Asylgründe. Es soll endlich die gesetzliche Grundlage schaffen zur Einrichtung von Härtefallkommissionen auf Landesebene. Die Betroffenen sollen praktisch durchgehend mehr Rechtsklarheit und mehr Rechtssicherheit bekommen. Deutschland soll attraktiver werden für hochqualifizierte Zuwanderer, die wir dringend brauchen. Erstmals werden die großen Herausforderungen bei der gesellschaftlichen Integration von Migranten mit der notwendigen Ernsthaftigkeit angegangen. Das ist, nehmt alles nur in allem, ein Schritt in die richtige Richtung, und das ist auch in der Politik noch wichtiger als die Frage, ob dieser Schritt zu groß oder zu klein geraten ist.

IV.

Ich wünschte mir, dass nun mit deutlich höherem Tempo als in den vergangenen Jahren auch eine Reihe weiterer Fragen angegangen würden: Was soll beispielsweise mit sogenannten Altfällen geschehen, die nach neuem Recht anders behandelt werden müssten als bisher? Wie erreichen wir, dass künftig jeder Einzelfall einer abschließenden Plausibilitäts- und Gerechtigkeitskontrolle unterzogen wird, damit nicht mehr solche Fälle vorkommen, wie ich sie mehr als einmal erlebt habe: Alle Instanzen haben sich korrekt verhalten, alle haben die richtigen Textbausteine verwendet, aber das Endergebnis wirkt lebensfeindlich und rollt über den Menschen hinweg, um dessen Lebenschancen es da doch eigentlich gehen muss.

Ich habe das gerade bei jungen Menschen immer wieder erlebt: Sie wachsen hier auf, absolvieren mit Erfolg eine Lehre, dürfen dann aber im erlernten Beruf nicht arbeiten; sie machen das Abitur mit Bestnoten, dürfen aber wegen Aufenthaltsbeschränkung gar nicht oder nicht überall studieren; sie kennen das Herkunftsland ihrer Eltern gar nicht und sprechen nur Deutsch, sollen aber dann in die Fremde abgeschoben werden - das kann nicht richtig sein und das spricht oft allen unseren guten Absichten Hohn! Und das ist auch nicht in unserem deutschen Interesse.

Noch eines macht mir Sorge: Wenn ausgerechnet im Ausländer- und Asylrecht voller Verdruss, um nicht zu sagen verächtlich über den Rechtsstaat und über die angeblich "weltfremden Gerichte" gesprochen und die Forderung nach "kurzem Prozess" laut wird. Die Vergangenheit hat uns doch gezeigt: Der Rechtsweg ist immer mehr verkürzt worden und das materielle Ausländer- und Asylrecht wurde trotzdem immer komplizierter.

Ich wünschte mir ein in sich verständliches Recht, dessen Anwendung Verwaltungen und Gerichten rasche Entscheidungen möglich macht.

V.

Die Europäische Union hat die Chance, die Erfahrungen ihrer Mitgliedstaaten fruchtbar zu machen, damit wir auf der europäischen Ebene ähnlich lange Lernprozesse vermeiden. Ohne gemeinsame Regeln für die Asyl- und Einwanderungspolitik wird es keinen EU-weiten Raum der Freiheit geben, der Sicherheit und des Rechts. Diesen Raum zu schaffen ist eine Aufgabe, die dem Binnenmarkt an Bedeutung nicht nachsteht. Ich rate auch hier dazu, den Wert des bisher Erreichten nicht zu unterschätzen und zugleich konsequent auf weitere Verbesserungen hinzuarbeiten.

Zunächst einmal geht es nun darum, die jüngsten europäischen Rechtsakte zügig in die nationalen Rechtsordnungen umzusetzen. Außerdem gilt es zu prüfen, welche Folgen die Erweiterung der Europäischen Union und die damit einhergehende Verschiebung ihrer Außengrenzen für das Asyl- und Einwanderungsrecht hat. Die Achtung und die Durchsetzung des europäischen und des internationalen Rechts muss auch in dieser gewandelten Lage gewährleistet sein. Das macht auch mehr gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung des Menschenhandels und der illegalen Einwanderung und zum Schutz der Außengrenzen nötig. Diese Anstrengungen dienen zugleich dem Schutz vieler Migranten, die von Kriminellen bis hin zur Sklavenarbeit ausgebeutet werden, und dem Schutz unserer Gesellschaften: Sie sind auf Gleichheit und Solidarität gegründet und können nicht hinnehmen, dass in ihrem Schatten Menschen als Rechtlose leben.

Zu einem eigenen Arbeitsfeld der Migrationspolitik ist europaweit auch die Stärkung des Rückkehrwillens von Flüchtlingen geworden, die auf Zeit Aufnahme fanden und nun auf Dauer bleiben wollen, obwohl sie ungefährdet in ihre Heimat zurückkehren können. Auch da sind nach meiner Überzeugung alle Hau-Ruck-Rezepte falsch und schädlich, denn es geht um eine Rückkehr in Sicherheit und Würde; aber die Gastländer können zurecht erwarten, dass ihre Hilfsbereitschaft nicht länger als nötig in Anspruch genommen wird, auch damit sie künftig noch anderen Menschen zugute kommen kann.

Ähnliches gilt übrigens für den Rückkehrwillen von Asylberechtigten, wenn die Umstände weggefallen sind, die den Asylanspruch begründet haben: Dann sollte nicht mit Argumenten für den Verbleib im Aufnahmestaat gestritten werden, die nichts mit dem Asylrecht zu tun haben, wie etwa dem Hinweis, die allgemeinen Lebensumstände oder die Lage am Arbeitsmarkt seien im Heimatstaat für Rückkehrer zu unattraktiv.

Nur noch ein weiteres, weites Feld für die Zusammenarbeit in der Europäischen Union will ich nennen: Auf die Dauer muss die Flüchtlingspolitik sehr viel stärker in die allgemeine Migrationspolitik eingebettet werden. Flucht, Zwangsmigration und Migration sind keine getrennten Phänomene, weder in den Laderäumen der Flüchtlingsschiffe noch in den Herzen der Flüchtlinge und Zuwanderer. Wir können die Unterscheidung nicht aufgeben, ob jemand als Verfolgter, auf der Suche nach Wohlstand oder aus familiären Gründen zu uns kommt, aber wir müssen nach besseren Lösungen suchen, um der Mischung der Phänomene und der Motive noch besser gerecht zu werden.

VI.

Niemand kennt diese Mischung der Phänomene und Motive besser als die vielen Bürger, die sich in nichtstaatlichen und halbstaatlichen Organisationen für Flüchtlinge und Migranten einsetzen. Sie kennen deren Lage besonders gut, sie leisten praktische Hilfe von unschätzbarem Wert, und sie sind auch da hilfreich, wo sie die nationalen, supranationalen und internationalen Akteure informieren, sensibilisieren und bei Bedarf auch einmal gehörig kritisieren.

Ihr Symposium beweist aufs Neue, wie fruchtbar das Miteinander all derer sein kann, denen aus Pflicht und Neigung das Schicksal der Millionen Flüchtlinge und Migranten nicht aus dem Kopf und zu Herzen geht.

Ich wünsche Ihnen allen fruchtbringende Gespräche und weiterhin viel Erfolg.