Weihnachtsansprache 1984 von Bundespräsident Richard von Weizsäcker

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 24. Dezember 1984

Zu Weihnachten möchte ich Sie, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, herzlich grüßen.

Die meisten von uns ruhen über die Feiertage aus. Das ist recht so. Ausruhen, das heißt zunächst: nicht herumjagen, sondern innehalten. Es tut allen gut, einmal zu lesen, statt nur fernzusehen, zu wandern, statt zu fahren, uns zu sammeln, statt Zerstreuung zu suchen.

Der Christ denkt zu Weihnachten daran, daß etwas Neues, etwas Unerhörtes geschieht: Gott wendet sich in Christus den Menschen zu. Für uns alle, so meine ich, ist Weihnachten das Fest der Liebe, das Fest der Zuwendung zu unserer Welt. Das fängt für jeden von uns ganz persönlich an. Die Übersetzung der Bibel von Martin Buber sagt es sehr direkt: "Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du." Was ist gemeint?

Wenn ich mir ins eigene Herz schaue und in das Herz des nächsten Mitmenschen, dann spüre ich: er hat, wie ich auch, seine eigenen Interessen und Schwächen, seine eigenen Hoffnungen und Ängste. Vielleicht wartet er - wie ich - auf ein gutes Zeichen von mir.

Und jeder von uns kennt gewiß einen Mitmenschen, der krank ist, der Schmerzen hat, der trauert, der allein ist, vielleicht auch ein Ausländerkind von nebenan oder einen, der sich gegen eine Drogensucht nicht zu helfen weiß.

Wir wollen nicht vergessen, ihn während der Feiertage einmal einzuladen, ihn anzurufen, ihm zu schreiben. Vielleicht empfinden wir selbst Weihnachten gerade am stärksten, wenn wir uns ihm zuwenden.

Lassen Sie uns gemeinsam an die Menschen denken, die heute für uns ihren Dienst tun, zum Beispiel in der Krankenpflege, im Verkehr, im Grenzschutz oder als Soldaten, bei der Polizei, als Leuchtturmwärter, in der Stromversorgung.

Wir wollen herzlich unsere Landsleute in der DDR grüßen. Wir sind ihnen besonders verbunden. Sie tragen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges den schwereren Teil der geschichtlichen Last. Um so mehr schulden wir ihnen einen gewissenhaften, einen verantwortlichen, auf Frieden gerichteten Umgang mit unserer Freiheit.

Wir denken mit unseren Wünschen an alle Landsleute in anderen Teilen Europas, aber auch an unsere näheren und ferneren Nachbarn, mit denen wir in Frieden leben wollen.

1985 wird sich zum vierzigsten Mal das Ende des letzten Krieges jähren. Wir können dankbar sein für das, was aus den Ruinen gewachsen ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein festes und bewährtes Fundament freiheitlicher Demokratie. Wir haben Freunde gewonnen, die wir nicht wieder verlieren wollen. Wir sind ein angesehener Partner in der Welt geworden.

Um so mehr gilt es, der unübersehbar großen Zahl der Opfer des Krieges zu gedenken, bei den Verfolgten der Gewaltherrschaft, bei den Gegnern von damals und in nahezu jeder deutschen Familie.

Lassen Sie mich heute vor allem die Polen und die Russen nennen. Ihnen ist unermeßliches Leid zugefügt worden. Die Erinnerung daran lebt fort. Das können und wollen wir nicht hindern. Eine altjüdische Weisheit sagt: "Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung". Es ist unser ernster Wille, uns mit ihnen auszusöhnen, von Volk zu Volk und von Mensch zu Mensch.

Bei uns zu Hause haben es manche Mitbürger schwer, sich wirklich zu freuen, zum Beispiel weil sie arbeitslos sind. Vieles wird dagegen unternommen, aber wir sind noch zu unbeweglich.

Ich habe mehrere Betriebe kennengelernt, deren Auftragslage sich spürbar verbessert hat. Neue Arbeitskräfte haben sie dennoch nicht eingestellt. Leitung und Betriebsrat sind sich oft einig, lieber mehr Überstunden arbeiten zu lassen. Der Besitzstand wird verteidigt. Wer Arbeit hat, sichert sie ab. Das ist ganz normal. Aber wer drinnen ist, der sollte auch an die Arbeitslosen denken, die noch draußen stehen.

Wir wissen, daß viele Arbeitnehmer länger arbeiten als sie arbeiten möchten. Andererseits gibt es zahlreiche Arbeitslose, die lediglich Teilzeitarbeit suchen. Da müssen also die einen, die weniger arbeiten möchten, Vollarbeit leisten. Andere, die Teilzeitarbeit suchen, werden zur Nullarbeit gezwungen.

Auch ist nicht zu verstehen, daß Lehrer, die den arbeitslosen Kollegen durch Abtreten von Stunden und Gehaltsanteilen entgegenkommen wollen, daran durch zu starre Regeln gehindert werden.

Es wird uns allen, vor allem denen, die noch vor der Tür warten, guttun, wenn wir mehr Kraft und Dynamik auf Erneuerung, Strukturwandel und Beweglichkeit verwenden und nicht auf bloße Absicherung bestehender Verhältnisse.

Am besten werden diejenigen Gesellschaften mit der Arbeitslosigkeit fertig, die es fertigbringen, sich rechtzeitig auf neue Herausforderungen umzustellen.

Auch gilt es, teilen zu lernen - zu Hause und in der Welt. In Afrika sorgen sich die Menschen nicht um Atombomben, sondern um das tägliche Brot. Wollen wir denn nur unbewegte, ferne Zeitgenossen der größten Dürrekatastrophe dieses Jahrhunderts bleiben?

Zu Hause geht es uns, alles in allem, gut. Wir wollen, daß es so bleibt. Aber darauf können wir nur zählen, wenn wir erkennen, daß die Not auch uns selbst angeht.

Als bei uns Not herrschte, haben andere uns geholfen und mit uns geteilt. Daran wollen wir jetzt denken. Wenn jeder von uns jetzt während der Feiertage wenigstens einen Tagesverdienst gibt - an Brot für die Welt, die Caritas, das Rote Kreuz oder die Welthungerhilfe -, dann kann damit vielen Menschen das Leben gerettet werden.

Von den großen Mächten erwarten wir, daß sie den Weg heraus aus der Rüstungsspirale suchen und finden. Die Menschen sehnen sich nach einem Frieden, der durch mehr gesichert wird als durch Waffen und durch Abschreckung, nämlich durch praktische Zusammenarbeit, durch Freizügigkeit und durch gerechte Ordnungen.

Auch wir können zum Frieden beitragen, zum Beispiel, wenn wir dort helfen, wo Menschen hungern. Wir werden mit um so besserem Gewissen für unser tägliches Brot bitten, wenn wir lernen, es zu teilen.

So haben wir vieles zu lernen und zu tun. Das gilt auch für die Natur selbst. Wir dürfen sie nicht immer weiter beschädigen. Wir wollen sie schützen - auch um ihrer selbst willen. Dazu müssen wir auch eigene Gewohnheiten ändern. Es gilt, nicht Panik zu machen, sondern zügig und überlegt zu handeln.

Die Hoffnung führt uns weiter als die Furcht. Es gibt keinen Grund zu verzagen.

Ein altes spanisches Sprichwort sagt: "Gott ist ein guter Arbeiter, aber er läßt sich gern helfen." Ich meine, das ist eine tröstliche Verpflichtung. Wir wollen sie befolgen in Gedanken an das Fest der liebevollen Zuwendung zur Welt.

Meine Frau und ich wünschen Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest.