Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei einem Abendessen zu Ehren von Präsident Ronald Reagan

Schwerpunktthema: Rede

5. Mai 1985

Es ist mir eine große Freude, Sie, Herr Präsident, und Sie, verehrte Frau Reagan, in der Bundesrepublik Deutschland willkommen zu heißen. In Ihnen begrüße ich den ersten Bürger eines Landes, dem wir unsere herzliche Freundschaft entgegenbringen.

Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika haben ein gemeinsames unerschütterliches Fundament. Es besteht in unseren Überzeugungen von der Würde eines jeden Menschen, von seiner Freiheit und von Recht und Gerechtigkeit zum Schutze der Schwachen.

Es sind die Ideale, die die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika geprägt haben. Sie sind auch für uns heute verbindlich.

Morgen, Herr Präsident, werden Sie auf dem Hambacher Schloß mit jungen Deutschen zusammentreffen. Als dort im Jahre 1832 die Jugend Deutschlands ein historisches Bekenntnis zur Freiheit ablegte, war sie von den Ideen beseelt, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung ihren leuchtenden Ausdruck gefunden hatten.

Diese Gedanken haben in zweihundert Jahren ihre verpflichtende Kraft behalten. John Quincy Adams sagte es besonders liebenswürdig, als er die Aufgaben der amerikanischen Nation beschrieb: "Sie wird die allgemeine Sache der Freiheit durch das Erheben ihrer Stimme und durch die sympathische Wirkung ihres Beispiels unterstützen."

In vielen Teilen der Erde spornt das von Amerika gegebene Beispiel die Menschen an, ihre eigene Kultur und Lebensform in einem Gemeinwesen der Freiheit zu verwirklichen. Denn demokratische Freiheit ist auch in stürmischen Zeiten der beste Kompaß.

In diesen Tagen blicken viele Völker auf das Jahr 1945 zurück. Wir Deutsche wissen, welche unendlichen Leiden die nationalsozialistische Barbarei und der von Deutschland ausgegangene Krieg über Völker und Menschen gebracht haben.

Was im deutschen Namen unseren jüdischen Mitmenschen widerfahren ist, was der Holocaust bedeutet, was den Russen, den Polen und nahezu allen unseren Nachbarn angetan wurde, was aber auch unzählige Deutsche durch Verfolgung, Tod und Heimatverlust zu erleiden hatten, das alles wird nie aus der Erinnerung gelöscht werden.

Junge Deutsche sind inzwischen herangewachsen, die keinen Anteil an den Ereignissen hatten. Sie trifft wahrlich keine eigene Schuld. Aber sie können sich eines schweren Erbes nicht entledigen.

Wir alle, ob alt oder jung, stellen uns in Deutschland diesem dunklen Kapitel unserer Geschichte. Wir alle tragen Verantwortung für seine Folgen.

Wir wissen sehr wohl, mit welchen Empfindungen die Sieger im Jahre 1945 nach Deutschland gekommen sind. Seither sind 40 Jahre vergangen. Das schier Unglaubliche besteht im Wandel der damaligen Gefühle zu den heutigen.

In dieser Zeitspanne haben unsere Länder wie niemals zuvor in ihrer Geschichte ihre Beziehungen und ihr Schicksal miteinander verbunden. Als Verteidiger der Freiheit war Amerika ein Feind der Nationalsozialisten in Deutschland. Als Freund der Freiheit wurde Amerika der Freund des demokratischen Deutschland.

Sie, Herr Präsident, haben Ihrem Besuch bei uns den Sinn gegeben, diesen Wandel sichtbar zu machen und zu bekräftigen.

Gerade deshalb haben Sie heute die Stätten der Erinnerung an das Grauen und den Tod aufgesucht. Sie haben es nicht als Sieger getan, sondern zum Gedächtnis an Unrecht und menschliches Leid, zur Erinnerung an die wiedergewonnene Freiheit und zum Zeichen der Versöhnung zwischen den Völkern.

Im Vorfeld der Reise ist es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, die uns schmerzlich berühren. Niemand hat sie gewollt. Niemand durfte versuchen, ihnen auszuweichen. Tiefbewegte Gefühle, die dabei zum Ausdruck kamen, sind nur allzu verständlich im Angesicht von schwerem Unrecht und unsäglichem Leid. Wir ehren sie und stellen uns ihnen mit offenen Herzen.

Wir haben aber auch die zuversichtliche Gewißheit, daß niemand in Frage stellen will, was in den vergangenen Jahrzehnten erreicht worden ist.

Sie, Herr Präsident, sind dem Gedanken vielfach bewährter Partnerschaft gerade dort treu geblieben, wo Sie sich selbst schmerzlichen Belastungen aussetzen mußten. Sie haben verantwortlich und großherzig uns gegenüber gehandelt. Das werden wir Ihnen nicht vergessen. Im Namen der Deutschen möchte ich Ihnen für Ihre Weitsicht und Freundschaft danken.

Ihre Gesinnung steht in der besten Tradition des amerikanischen Volkes, die wir Älteren alsbald nach dem Krieg eindrucksvoll erlebt haben. Unzählige amerikanische Bürger haben damals mit ihren privaten Mitteln uns Deutschen, den Besiegten, geholfen, die Wunden des Krieges zu heilen. Unvergessen sind die Care-Sendungen und Quäker-Speisungen. Mit dem Marshall-Plan half Amerika auch uns Deutschen entscheidend beim Wiederaufbau.

Als der freie Teil Berlins ausgehungert und erpreßt werden sollte, haben die Amerikaner zusammen mit Briten und Franzosen Leben und Freiheit mutiger Berliner geschützt. In Berlin vor allem ist der gegenseitige Respekt gewachsen, der aus Gegnern Freunde werden ließ.

Verantwortliche Amerikaner fanden bei den Deutschen die geistige und moralische Kraft zur demokratischen Lebensform. Sie setzten darauf, und wir bekannten uns zu ihr in freier Entscheidung.

Vor wenigen Wochen, Herr Präsident, ehrten Sie zusammen mit mir in Ihrem Amtssitz John J. McCloy, dem ein entscheidendes Verdienst dafür zukommt. Es freut mich, seinen Sohn, John McCloy II, hier heute abend begrüßen zu können.

Unser Willkommensgruß gilt auch Miss Eleonor Dulles, der frisch gebackenen Ehrenprofessorin der Freien Universität Berlin, die zu meiner Freude ebenfalls unter uns weilt. Sie erhielt heute vormittag in Wiesbaden die Lucius D. Clay-Medaille des Deutsch-Amerikanischen Clubs für ihre Verdienste um die deutsch-amerikanische Freundschaft. Zu beidem gratuliere ich herzlich.

Diesen und vielen anderen Männern und Frauen bleiben wir für ihr Vertrauen und ihre Hilfe immer dankbar.

So haben wir Grund, uns auch daran zu erinnern, daß heute vor 30 Jahren die Bundesrepublik Deutschland ihre volle Souveränität erlangte. Einen Tag später, am 6. Mai 1955, wurden wir Mitglied des Atlantischen Bündnisses. Seine Partner haben sich in der Präambel ihres Vertrages darauf verpflichtet, "die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten".

Unser Bekenntnis zu diesen Werten ist unwiderruflich. Unser Bündnis dient der Freiheit und dem Frieden. Wir wollen und dürfen unsere Freiheit nicht einschränken lassen. Deshalb müssen wir bereit und fähig sein, sie zu sichern.

Niemand wird daran zweifeln dürfen. Diese Klarheit ist es, die auch dem Frieden dient. Auf ihrer Grundlage bemühen wir uns um Entspannung, Dialog und Zusammenarbeit.

Sie, Herr Präsident, haben zu Beginn dieses Jahres die Hoffnung ausgesprochen, daß sich das Jahr 1985 zu einem Jahr des Dialogs und der Zusammenarbeit entwickeln möge. Wir möchten Sie in dieser Hoffnung bestärken und verbinden sie mit der Erwartung, daß alle ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, um Fortschritte in den laufenden Verhandlungen über Kontrolle und Minderung der Rüstungen zu erreichen.

Ziel deutscher Politiker wird es immer bleiben, Freiheit und Frieden zusammenzuhalten. Wir dürfen nie eine Lage entstehen lassen, zwischen beiden Zielen wählen zu müssen.

In diesem Geiste arbeiten wir auf einen Zustand des Friedens in ganz Europa hin, der die Trennung überwindet und allen Völkern, auch dem deutschen, die Freiheit zur Selbstbestimmung gibt. Es geht uns nicht darum, Grenzen zu verändern, sondern ihnen den Charakter des Trennenden zu nehmen.

Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die die Entwicklung in der Nachkriegszeit nicht miterlebt hat, sondern sie als selbstverständlich voraussetzt. Seien wir dankbar, daß es eine Selbstverständlichkeit ist und bleiben wird.

Das verlangt aber auch, gegenseitiges Vertrauen stets neu mit Leben zu erfüllen und zu bewahren. Ihr Besuch, Herr Präsident, ist eine wichtige und willkommene Chance, dies unseren jungen Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks bewußt zu machen.

Sie, Herr Präsident, haben sich mit überzeugendem Nachdruck für einen verstärkten Jugendaustausch unter unseren Völkern eingesetzt. Dafür sind wir Ihnen dankbar. Schon die erste Nachkriegsgeneration hat dank der Großzügigkeit der Austauschprogramme des American Field Service, der Fulbright-Stipendien und anderer Stiftungen entscheidende Einsichten über Amerika gewinnen und lebenslange Freundschaften begründen können. Neue Initiativen sind hinzugekommen. Wenn die Mitglieder des amerikanischen Kongresses und des Deutschen Bundestages wechselseitig Jugendliche persönlich betreuen, dann gewinnen damit nicht nur junge Menschen bleibende Eindrücke vom befreundeten Land, sondern die Politiker selbst lernen, sich besser an den Hoffnungen der Jugend zu orientieren und sich vor ihnen zu bewähren.

Programme für die Jugend erreichen ihr Ziel stets dann am besten, wenn die jungen Menschen Vertrauen zur Glaubwürdigkeit der heute verantwortlichen politischen Generation gewinnen.

Europäer und Amerikaner tragen in einem Bündnis freier Völker zur gemeinsamen Sicherheit bei. Wir Europäer bleiben dabei auf die Vereinigten Staaten angewiesen. Niemand bei uns möge glauben, das Engagement Amerikas in Europa verstünde sich von selbst. Viele Tausende amerikanischer Soldaten mit ihren Familien leben Tag für Tag weit von der eigenen Heimat entfernt, um für unsere Sicherheit einzustehen. Bei uns und zusammen mit uns tun sie ihren Dienst zum Schutz unserer gemeinsamen Ideale.

Ich freue mich, Herr Präsident, daß ich Ihren Soldaten dies persönlich sagen und ihnen und ihren Angehörigen meinen Dank aussprechen kann, wenn ich sie in wenigen Wochen hier besuchen werde.

Die Partner auf beiden Seiten des Atlantiks haben unterschiedliches Gewicht. Neben der Weltmacht USA stehen europäische Partner, die ihr Ziel der Einigung noch nicht erreicht haben. Aber Europa wird auf diesem Weg weitergehen und Fortschritte machen.

Weitsichtige Amerikaner haben dies stets gefordert und begrüßt. Bald werden Spanien und Portugal der Europäischen Gemeinschaft angehören.

Ihr Besuch, Herr Präsident, beim Europäischen Parlament in Straßburg ist ein sichtbarer Ausdruck dafür, wie Sie es selbst formuliert haben, daß die Vereinigten Staaten "sich seit 40 Jahren dem Ziel der Erneuerung einer Gemeinschaft freier europäischer Staaten verschrieben haben".

Unsere gemeinsame Verantwortung muß sich auch im Bereich der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen bewähren. Noch immer drohen nationale Egoismen und Gruppeninteressen, uns den Weg zu einem wirklich freien Welthandel zu verlegen. Wir brauchen aber im allseitigen langfristigen Interesse ein System, in dem weder Protektionismus noch geschlossene Märkte, weder Beschränkungen des Technologietransfers noch wettbewerbsverzerrende Subventionen ihren Platz haben. Anderenfalls würden wir gegen den Geist unserer Zeit handeln.

Im Bereich der modernen Technologie haben die Amerikaner eindrucksvolle Fortschritte zu verzeichnen. Sie sind Symbol einer imponierenden Dynamik, Vitalität und Zuversicht der amerikanischen Gesellschaft.

Aber auch Europa wird - manchen Zweifeln zum Trotz, die wir von drüben hören - seine Leistungsfähigkeit wieder steigern. Wir werden es lernen, besser über nationale Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Wir werden ohne Preisgabe unseres bewährten sozialen Systems zu größerer Beweglichkeit vordringen.

Entscheidend bleibt, auf beiden Seiten des Atlantiks der Vorstellung entgegenzuwirken, daß sich nationale Wirtschafts- und Handelsinteressen auf Kosten anderer Staaten einseitig durchsetzen ließen. Wer dies versucht, schadet sich auf die Dauer nur selbst.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer umfassenden freien Weltwirtschaft zwingt uns, als Industrienationen verantwortlich zu handeln. Dies gilt für Beschäftigung und sozialen Frieden in der eigenen Gesellschaft und nicht minder für unsere Aufgabe, an einer gerechten Verteilung der Güter und Chancen in der ganzen Welt mitzuwirken.

Jeder, der Amerika besucht, ist immer wieder davon beeindruckt, wie sehr die Bürger der Vereinigten Staaten die Freiheit als Verpflichtung verstehen, den Nachbarn zu helfen und im Gemeinwesen mitzuarbeiten, um den Notständen tatkräftig zu Leibe zu rücken.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, Ihnen, verehrte Frau Reagan, unseren großen Respekt dafür zum Ausdruck zu bringen, wie Sie sich persönlich bei der Bekämpfung der Suchtgefahren engagieren. Sie helfen damit Eltern, Familien und vor allem jungen Menschen, die unter der Not des Drogenkonsums leiden.

Im Namen meiner Frau und vieler deutscher Familien, die sich derselben Aufgabe widmen, möchte ich Ihnen für die Ermutigung und das Beispiel danken, die Sie uns geben.

Herr Präsident, die Welt steht vor schweren Aufgaben. Winston Churchill hat einmal gesagt: "Der Preis der Größe heißt Verantwortung." Wir wissen, wie groß die Last der Verantwortung ist, die Amerika als wichtigstes Land der westlichen Welt und die Sie persönlich tragen.

Die Bundesrepublik Deutschland wird sich auch weiterhin so gut sie kann und ohne Vorbehalt an der Verantwortung beteiligen. Wir werden gemeinsam alle unsere Kräfte anspannen müssen, um die Freiheit zu schützen und zu stärken, den Frieden zu wahren und der sozialen Gerechtigkeit zu dienen.

Die selbstlose Hilfe, die wir in den vergangenen Jahrzehnten von den Vereinigten Staaten erfahren haben, erfüllt uns ebenso mit Zuversicht wie die Kraft und die Dynamik, die das amerikanische Volk unter Ihrer Führung von neuem entfaltet hat.

Ich erhebe mein Glas auf Sie, Herr Präsident, auf Sie, verehrte Frau Reagan, auf die Damen und Herren Ihrer Delegation, die heute abend unsere Gäste sind, auf alle Amerikaner, mit denen wir hier zusammenleben, und auf die Freundschaft mit dem großen amerikanischen Volk.