Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz anläßlich der Eröffnung der Ausstellung "Der Kreisauer Kreis". Porträt einer Widerstandsgruppe"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 21. Juli 1985

Der Einladung, heute hier unter Ihnen zu sein, bin ich gern gefolgt - nicht um viel zu sagen, sondern um Dank dafür auszusprechen, daß diese Ausstellung zusammengestellt und uns zugänglich gemacht wurde. Man kann sich denken, wie schwierig es gewesen sein muß, die Ausstellung zustande zu bringen, denn unter den damaligen Bedingungen mußten Dokumente, wenn es sie überhaupt gab, ja verborgen, aber nicht für die Nachwelt bereitgelegt werden. Diese Dokumente aus Kreisau sind für uns von besonderem Wert. Es ist einerseits der weite Horizont der Gedanken, um die es dabei geht; man sieht die Weite des Horizonts an der Unterschiedlichkeit der Herkunft der Menschen, die an den Überlegungen beteiligt waren. Es ist sodann die Aufgabe, der Platz, den die Kreisauer einnehmen. Sie waren ja nicht die Hand der Verschwörung und auch nicht Kommandozentrale des Widerstandes, aber, wenn man das so ausdrücken darf, seine Seele.

Es ging um die Fragen des Gewissens, um Reflektion, und um den Sinn, den Sinn des Widerstandes gegen das Böse und den Sinn dessen, was danach für das Zusammenleben der Menschen kommen sollte. Die Reinheit des Denkens und die Reinheit des Wesens, die in den uns überlieferten Dokumenten und Gedanken wiederzufinden sind, haben einen ganz einzigartigen Rang. Die Briefe, die geschrieben wurden aus den Gefängnissen an die Familienangehörigen und die Frauen, sind ein Ausdruck von der Kraft dieser Reinheit, auch ein Ausdruck von der Kraft derer, die die Briefe empfangen haben.

Oft haben in den letzten Jahrzehnten Menschen, die sich am Aufbau unseres Landes beteiligten, empfunden, wie viele Menschen, gerade aus Kreisau, uns nach dem Krieg gefehlt haben. Der Weg wäre leichter und klarer gewesen, wenn ihre Stimmen zu hören gewesen wären, wenn sie mit ihrer Kraft und ihrem Gewissen uns hätten helfen und anleiten können. Wann je sonst in unserer Geschichte hat es eine solche Konzentration von sittlich-politischer Substanz gegeben wie in Kreisau? Wir müssen unsere Wege heute selber gehen, unsere Entscheidungen selbst treffen. Es ist für viele Menschen heute, zumal auch für jüngere, vielleicht schwerer, klar zu erkennen und zu beschreiben, wo die Antworten auf die Fragen nach dem Sinn liegen, als es in jener Zeit gewesen ist. Aber das Leben und Denken und Empfinden der Menschen, die in Kreisau versammelt waren, ist und bleibt Maßstab für uns. Deshalb haben wir allen Grund zur großen Dankbarkeit dafür, daß der Gedanke zu dieser Ausstellung gefaßt und in die Tat umgesetzt worden ist.