Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zur Eröffnung des VII. Kongresses der internationalen Vereinigung für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft

Schwerpunktthema: Rede

Göttingen, , 26. August 1985

Wenn sich heute in Göttingen mehr als 1200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammeln, die an den Hohen Schulen ihrer Heimatländer darum bemüht sind, daß dort die deutsche Sprache gelernt, deutsche Literatur gelesen und studiert wird und man sich mit deutscher Kulturgeschichte und Landeskunde beschäftigt, ist das ein großer Tag und eine erhebende Freude für unser Land. Ihnen allen fühle ich mich dankbar verbunden, daß Sie zu uns gekommen sind, und heiße Sie herzlich hier in Deutschland willkommen.

40 Jahre nach dem Ende des Krieges versammeln sich die Germanisten aus 50 Ländern zum ersten Mal in Deutschland. Wir wissen, warum Sie nicht früher gekommen sind. Ihre Vorgänger und manche von Ihnen haben in den Jahren des Hitler-Reiches den ungeheuren Widerspruch ertragen und erleiden müssen, daß das Land, dessen Sprache und Kultur sie liebten, dem sie ihre Arbeit, ja ihr Leben gewidmet hatten, zum Repräsentanten dessen wurde, was sie fürchten und bekämpfen mußten.

Buchenwald lag in der Nähe des Ettersberges, von dem Goethe so oft ins thüringische Land geschaut hatte. Seine Sprache, die Sprache von Martin Luther, von Friedrich Hölderlin, von Karl Marx und Thomas Mann, von Hugo von Hofmannsthal und Siegmund Freud wurde von Unmenschen und Verbrechern mißbraucht und geschunden. Die außerdeutschen Universitätslehrer der deutschen Sprache und Literatur haben in jenen Jahren erfahren und so wenig wie ihre Schüler je wieder vergessen, daß von dem gleichen Land, aus dem Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" und Lessings "Nathan" zu ihnen gekommen war, nun verübt wurde, was in Guernica, Coventry, Leningrad und Auschwitz geschah. Sie haben erlebt, wie die Nationalsozialisten das große geistige Vermächtnis dieses Landes für sich in Anspruch nehmen und es als Wasser auf ihre Todesmühlen leiteten.

Die gleichen Gewalthaber, welche die Schriften der jüdischen und der politisch verfemten Schriftsteller, Kritiker und Wissenschaftler verbrannten und unterdrückten, ihre Verfasser ins Exil trieben oder zum Schweigen und zu Tode brachten, versuchten nun auch noch, Schiller oder Kleist als Wegbereiter und Kampfgenossen Hitlers auszugeben. Dafür fanden sie, zum Entsetzen der Außenstehenden, in den deutschen Ländern ein Heer von Parteigängern nicht nur unter harmlosen Bürgern, sondern auch unter Schriftstellern und Theaterleuten, unter Kritikern und Journalisten, unter Germanistikprofessoren und Deutschlehrern.

Die Stimmen der in Deutschland verbliebenen Hellsichtigen und Tapferen, Unbeirrbaren und Unangepaßten aber, die nur noch leise, verdeckt und andeutend sprechen konnten unter dem Druck des Gewaltstaates, waren im mörderischen Getöse dieser völkischen Kulturrevolution draußen kaum mehr vernehmbar.

Heute wissen wir: So ist es gewesen, auch wenn es ergreifende und großartige Zeugnisse dafür gibt, daß sich viele Menschen innerhalb wie außerhalb des NS-Staates, nicht zuletzt die Lehrer des Deutschen im Exil, gerade dann an die großen Sprachwerke der deutschen Literatur hielten, wenn sie ihre Erinnerungen an ein anderes oder ihre Hoffnungen auf ein besseres Deutschland nicht fahren lassen wollten. Um so mehr werden Sie verstehen, wie viel es für mich bedeutet, Ihnen heute auf deutschem Boden hier in Göttingen zu begegnen.

Göttingen: das ist ein guter Platz für einen Kongreß wie den Ihrigen. Geschichte und Gegenwart tragen dazu bei.

Die anwesenden ausländischen Gäste mögen mir erlauben, Herrn Professor Schöne, seinen Kollegen und Mitarbeitern für ihre große Vernunft und Liebe zu danken, mit denen sie diese Zusammenkunft vorbereitet und uns alle hier bei sich aufgenommen haben. Ich bin gewiß: Ihre vielfältige Mühe wird reiche Früchte tragen.

Hier in Göttingen wirkten Begründer Ihrer Wissenschaft, die Brüder Grimm, die uns hier vor Augen stehen. Ihr Bild macht, daß ich mich hier gewissermaßen zu Hause fühle, denn ein schönes Portrait der beiden hängt in meinem Amtssitz, dort, wo Botschafter akkreditiert und Gäste Deutschlands empfangen werden.

Diese Männer waren groß als Kulturforscher und Sprachkünstler, groß vor allem auch, weil sie in aller Klarheit erkannten, daß ein Freund des Wortes in seinem Gewissen an die Wahrheit gebunden ist. Als der König von Hannover sie zwingen wollte, ihren Eid auf die Verfassung zu brechen, da sprach Jacob Grimm das schöne, Ihnen allen geläufige Wort: "Wenn die Wissenschaft hier kein Gewissen mehr haben darf, muß sie sich eine andere Heimstatt suchen."

In jenen bösen zwölf Jahren haben Sie, die heute hier bei uns zu Gast sind, Ihrerseits bei sich im Ausland der Germanistik eine Heimstatt geboten. Sie haben sich vor den aller Ehre würdigen deutschen Geist gestellt und ihn von der Barbarei zu scheiden gewußt. Wie schwer mag das oft gewesen sein! Ich danke Ihnen dafür von Herzen.

Besonders habe ich mich darüber gefreut, daß auch die Jiddisten an diesem Kongreß teilnehmen und daß der Jiddistik hier ein so starker und bedeutender Akzent verliehen wird. Es ist für einen Deutschen ein tief tröstlicher Gedanke, daß Sie bereit sind, sich wieder mit der germanistischen Wissenschaft zusammenzutun.

Die Dankbarkeit hierfür entspringt hauptsächlich nicht der Wissenschaft, sondern dem Gewissen. Und es wäre gut, wenn dieser Kongreß dazu beitrüge, die große jiddische Literatur in Deutschland noch weiter zu verbreiten. Denn in ihr sind Geist, Tradition und Menschlichkeit eines großen Teiles der europäischen Judenheit aufbewahrt und leben in ihr fort.

Die Trauer um das Geschehene wird wahrer und tiefer, wenn man dem geistigen und seelischen Reichtum dieser Literatur begegnet ist.

Nun gab es bei uns nach einer Zeit maßloser Überschätzung deutscher Kultur in den letzten Jahrzehnten aber auch Tendenzen zu einer Unterschätzung unserer geistigen Traditionen. Das nahm gelegentlich Züge der Verwirrung an und ist, wie ich meine, fast genauso falsch wie das Gegenteil. So wenig die Liebe zum Eigenen taugt, wenn sie nicht das Verständnis für anderes in uns aufschließt, so wenig taugt eine Liebe zum Fremden, wenn sie nicht auf der Liebe zum Eigenen beruht.

Es gibt in der deutschen Sprache Sätze von höchster Schönheit und Reinheit, die so nur auf deutsch gesagt wurden, wie es in gleicher Weise Sätze gleichen Ranges in den anderen Sprachen der Welt gibt, die so nur in diesen Sprachen geformt werden konnten. Die deutsche Kultur eröffnet auch dem Ausländer eine reiche Geistesprovinz, deren Kenntnis seinen Gesichtskreis erweitert und ihm geistige Freude schenkt.

Wem sage ich das? Für Sie, die ausländischen Germanisten, ist diese Freude wohl ein wichtiger Grund Ihrer Berufswahl. Ihre Anteilnahme, Ihr Interesse an dem, was die Grundlage unserer kulturellen Existenz ausmacht, erfüllt uns mit Dankbarkeit. Sie wissen mehr von uns als viele Deutsche von sich selber wissen. Sie urteilen mit einer oft heilsamen größeren Distanz als wir selbst, mit weniger Vorurteilen oder Scheuklappen, mit mehr Nüchternheit und doch nicht ohne Zuneigung zum Gegenstand. Sie sind mit Leidenschaft bei der Sache, ohne sich doch immer gleich zu ereifern. Das ist eine große Hilfe für uns.

Wir werden also viel von Ihnen zu lernen haben - und natürlich hoffen wir, daß auch Sie hier manches erfahren können, was Ihr Bild der deutschen Literatur und Kultur und der geistigen Situation bei uns bereichert. Und so soll es ja auch sein. Kultur zeigt ihre Lebenskraft in ihrer Fähigkeit zum Austausch. Jeder, der sich eine fremde Sprache, die Sätze und Verse eines anderen Volkes wirklich zu eigen macht, trägt dazu bei, daß wir die Grenzen zwischen Menschen, Sprachen, Nationen, Kulturkreisen und gesellschaftlichen Systemen klarer erkennen, daß wir sie besser verstehen und im Verstehen überwinden lernen.

Ich wüßte nichts, was mir wichtiger und notwendiger erschiene in der Zeit, die uns gegeben ist. Und es scheint mir naheliegend, in Philologen, in Freunden des Wortes, auch Freunde des Gespräches zu sehen. Der Freund des Gespräches aber ist der Freund des Friedens, der nur auf dem Gespräch der Menschen miteinander ruhen kann.

Die Germanistik ist keine nationale Erkenntniswissenschaft. Sie ist dies ebensowenig wie ein elitärer Expertenzirkel für schöne Literatur. Gewiß: Für uns - für die Laien - werden nicht jedes Wort und nicht jeder Gedanke verständlich sein bei den "alten und neuen Kontroversen", die auf Ihrem Kongreß-Programm stehen. Aber seien Sie dessen versichert, daß wir eines wissen: Die Sache, der Sie sich widmen, ist unsere Sache. Was Ihnen gelingt, kommt uns allen zugute, unserer Sprache, unserem Geist, unserer Kultur, unserer Fähigkeit und unseren Beiträgen zur Verständigung.

In diesem Sinne begleiten wir Ihre Beratungen und Ihre Gespräche mit unseren Wünschen und Hoffnungen.