40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – Rede bei einem Staatsakt in der Beethovenhalle in Bonn

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 24. Mai 1989

Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Staatsakt 40 Jahre Grundgesetz in der Beethovenhalle in Bonn, 24. Mai 1989

Heute vor vierzig Jahren trat das Grundgesetz für die Bun­desrepublik Deutschland in Kraft. Nach schwerer Vergangen­heit hatten Deutsche wieder einen eigenen Staat. Er umfaßte nur einen Teil Deutschlands. Er war nicht souverän. Es herrschte große Not. Aber in dieser Stunde kehrten Deutsche in den Kreis der Völker zurück, die Verantwortung für sich selbst tragen. Sie taten diesen Schritt als freie Menschen.

Kaum je ist ein Staat so zur Welt gekommen. Im Zeichen der Spannung zwischen Ost und West war die Initiative von den Besatzungsmächten ausgegangen, vor allem von Amerika. Ein alliierter Auftrag zur Staatsgründung erreicht die Mini­sterpräsidenten der Länder, und diese zögerten. Sie waren Patrioten und wollten die Teilung Deutschlands nicht verfe­stigen.

Die Weichen aber waren inzwischen durch die neue weltpoli­tische Lage gestellt. Die Sorgen der Menschen galten den Gefahren aus dem Osten und dem Wiederaufbau zu Hause nach der Währungsreform. Man mußte sich der Wirklichkeit stel­len und handeln.

So schufen die Länder und der Parlamentarische Rat trotz ihrer Vorbehalte, die sie ehren, den neuen Bundesstaat. Sie verstanden ihn nicht als Absage an das ganze Deutschland, sondern, wie Theodor Heuss ihn nannte, als Transitorium.

Der eigene Wille war dort am stärksten, wo die Selbstbe­stimmung am größten war: bei den Verfassungsgrundsätzen selbst. Es fehlte zwar nicht an Vorgaben durch die Alliier­ten und an trefflichen Vorbildern westlicher Demokratien. Was aber die Väter und die vier höchst eindrucksvollen Müt­ter des Grundgesetzes beschlossen, entsprang ihrer eigenen Überzeugung.

Sie knüpften an deutsche Verfassungen an. Sie selbst zogen Lehren aus verhängnisvollen Schwächen der ersten deutschen Republik. Sie handelten im eigenen tiefen Bewußtsein der Notwendigkeit, umzukehren nach dem namenlosen Leid und Un­recht der zurückliegenden Jahre. Unsere Verfassung ist kein Werk der Siegermächte, sondern deutsch.

Am 8. Mai 1945 hatte die Deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert. Am gleichen Tag vier Jahre später wurde mit der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamenta­rischen Rat der Weg zu einem deutschen Staat frei, der für Demokratie, Menschenrecht und Frieden einsteht und sich heute in aller Welt Achtung erworben hat.

Der neue Bundesstaat wurde aus Gemeinden und Ländern ge­fügt. Er bildete die Antwort auf den totalitären Zentral­staat und stellte die Verbindung zum geschichtlichen Erbe der deutschen Nation wieder her: zum Föderalismus und zur kommunalen Selbstverwaltung als der wahren Quelle demokra­tischer Gesinnung in Deutschland.

Es entstand eine parlamentarische Demokratie westlicher Prägung, mit unantastbaren und einklagbaren Grundrechten und mit einer starken Exekutive. Alle staatliche Gewalt wurde in klare verfassungsmäßige Schranken verwiesen, alle politische Macht unter der Obhut des neugeschaffenen Bun­desverfassungsgerichts rechtsstaatlich gebändigt. Das Grundgesetz, von Politikern geschaffen, setzt höheres Ver­trauen in das Recht als in die Politik.

So konnte sich das Verhältnis der Bürger zum Staat ent­scheidend wandeln. Fast ein Jahrhundert lang hatte der Staat die Kraft seiner Bürger und in den Kriegen ihr Leben einge­setzt, um selbst an Macht und Größe zu wachsen. Nun sollte der Staat nicht mehr wie bisher über den Bürger ver­fügen können, sondern er wurde zum Schutz der Rechte des einzel­nen verpflichtet. Der Rechtsstaat wurde zur Rechtsge­mein­schaft, zur Einrichtung der Bürger füreinander.

Auf das Verlangen der Menschen nach gesicherter Freiheit gab das Grundgesetz überzeugende Antworten. In der Bevölke­rung erwärmte sich daher ihr Verhältnis zur neuen Verfas­sung sehr rasch. Ihre innere Beziehung zur Bundesrepublik als einem neuen deutschen Staat wuchs dagegen erst allmäh­lich hinterher.

Was für ein Leben hat sich nun bei uns seit 1949 entwik­kelt? Es hatte nach dem Krieg auf dem tiefsten Punkt wieder angefangen. Konnte es also nur aufwärtsgehen? Das war unge­wiß. Es gibt Zusammenbrüche, welche die Lebenskräfte unwie­derbringlich zerstören. Das blieb uns erspart. Rasch wuchs ein neues, leistungsfähiges Gemeinwesen heran. Heute blic­ken wir zurück auf ein gutes, zukunftsoffenes Kapitel unse­rer Geschichte und können dafür nur wahrhaft dankbar sein.

Das Meiste, Wichtigste und Schwerste haben wir Deutschen selbst dazu beigetragen. Die weltpolitische Entwicklung trat hinzu. Aus den Vereinigten Staaten von Amerika kam die großherzige Hilfe des Marshallplanes. Sie trug nachhaltig zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg bei. Zugleich sorgten die Amerikaner, wie sie es gemeinsam mit den Briten und Franzosen schon in der Berliner Blockade bewiesen hatten, für Schutz und Sicherheit. Werte und Interessen wuchsen zu­sammen. Schritt für Schritt wurden aus Gegnern Freunde.

Im Innern regte sich überall der Wille zum politischen Ge­lingen. Die grausamen Lehren der Vergangenheit erzeugten ein klares Bewußtsein von der Notwendigkeit zusammenzuar­beiten. Gewiß, es gab in den vergangenen vierzig Jahren wahrlich mehr als einen tiefgehenden Streit. Ich denke an die heftigen Auseinandersetzungen über die Wehrverfassung und die Notstandsgesetze, über die Westbindung unseres Staates und über seine Ostpolitik. Es waren schwere Kon­flikte. Man trug sie mit Schärfe aus, aber letzten Endes mit Vernunft.

Im Bund und in den Ländern war eine Generation politisch am Werk, die durch Erfahrung klug geworden war. Sie wußte, daß es in der Weimarer Zeit nicht zu früh zu viele Extremisten gegeben hatte, sondern zu lange zu wenige Demokraten.

Man hatte davon gelernt, was Demokraten nie vergessen dür­fen, nämlich bei allem Streit zuerst daran zu denken, was sie gemeinsam zu schützen haben.

Wir haben Grund zur Achtung vor dem Verantwortungssinn der Männer und Frauen, die nach dem Krieg die politischen Ge­schicke unseres Staates lenkten. Ihnen ist zu danken, daß die Bereitschaft zum elementaren Streit mit der Kraft zum grundlegenden Konsens verbunden blieb. Das hat unsere Demo­kratie stark gemacht, und ich meine, bis auf den heutigen Tag!

Auf dieser Grundlage entwickelte sich die Gesellschaft im ganzen. Verwüstungen des Krieges, Flucht und Vertreibung hatten die Menschen bei uns landsmannschaftlich und sozial, kulturell und konfessionell durcheinandergeworfen. Fast al­le mußten unten beginnen. Der Sozialstaatsgedanke als neues, rechtlich verbindliches Staatsziel verlangte, daß alte gesellschaftliche Gräben zugeschüttet und daß keine Gruppe oder Minderheit ausgegrenzt werden. Man war dem de­mo­kratischen Ziel größerer Angleichung von Chancen näher als je zuvor.

Extreme Kräfte bekamen in der Gesellschaft sowenig Chancen wie im Staat und in den Parteien. Man suchte den Konsens und entwickelte die Kraft zum Kompromiß. Man hatte Sinn für Maß und Mitte. Die Verpflichtung, für menschlich nicht wie­dergutzumachendes Unrecht, vor allem gegenüber Juden, we­nigstens materiellen Ausgleich zu leisten, wurde aufgenom­men.

Gegenseitige solidarische Hilfe, Sozialpartnerschaft in der Arbeitswelt, ökumenische Öffnung in den Gemeinden wuchsen heran. Damit gelangen die Aufnahme von zwölf Millionen Hei­matvertriebenen und Flüchtlingen, der Lastenausgleich, die Rentengesetze als Generationsvertrag.

Die Wirtschaft blühte auf, die Wissenschaft gewann Ansehen zurück, die Berufsausbildung wurde zum Vorbild in der Welt. Stabilität wurde ein politisches und soziales Merkmal der Bundesrepublik Deutschland.

Meine Damen und Herren, wir haben gewiß keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Auch unter dem Grundgesetz sind wir keine Engel geworden. Wir verrichten nur Menschenwerk, und das bleibt immer unvollkommen. Deshalb haben wir aber auch keinen Grund, uns selbst zu verleugnen. Wir dürfen uns so annehmen, wie wir sind, und gemeinsame Leistungen getrost anerkennen.

Die Zeit bringt unaufhaltsam neue Entwicklungen hervor, neue Gefahren und Chancen.

Veränderungen pflegen sich allmählich zu vollziehen. Das Ausmaß des Wandels ist größer, als wir es täglich spüren.

Vor vierzig Jahren gab es kaum Automobile und Luftfahrt. Wohnungen wurden zumeist mit Öfen geheizt. Die Nahrungsmit­tel kamen ganz überwiegend vom heimischen Boden. Das Radio erlaubte trotz seiner enormen propagandistischen Ausnutzung im Kriege nur eine ganz blasse Vorahnung auf die Wirkung heutiger elektronischer Medien. Computer und Halbleiter­technik, die heute unsere Arbeitswelt und Lebensorganisa­tion beherrschen, befanden sich kaum in der Entwicklung. Ein Mensch von 1900 hätte sich in der Entstehungszeit unse­rer Verfassung vielleicht besser zurechtgefunden als ein heute Achtzehnjähriger, der sich ins Jahr 1949 zurückver­setzt.

Diese Entwicklung ist nicht spezifisch deutsch. Sie kenn­zeichnet auch die anderen westlichen Industrievölker. Wir sind zuverlässig eingebunden nicht nur in die Verfassungs­prinzipien der westlichen Demokratien, sondern unwiderruf­lich auch in ihre Zivilisation. Sie ist gewissermaßen Teil unseres Wesens geworden, und sie beschert uns gemeinsame Herausforderungen.

Dazu zählte die Jugendrevolte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Aktive Teile einer neuen Generation sahen keinen Grund, in kritikloser Dankbarkeit hinzunehmen, daß sie nun über weit mehr Freiheit und Wohlstand verfügten als ihre Vorfahren. Nach ihrem Empfinden hatte sich der Wieder­aufbau in eine allzu einseitige, materiell orientierte, selbstsüchtige Leistungsgesellschaft hineinentwickelt. Es gab scharfe Fragen zur Vergangenheit, zur Offenheit des Bildungssystems, zur Demokratie als Lebensform. Jede Auto­rität geriet unter Verdacht. Überlieferte Bindungen wurden angefochten, eine neue Emanzipation ausgerufen. Die Ver­ständigung unter den Generationen war, wie so oft, schwie­rig. Fehler wurden allseits begangen. Ältere fühlten sich mit ihren Aufbauleistungen verkannt. Jüngere verlegten sich mit moralischen, radikaldemokratischen und kulturrevolu­tionären Motiven aufs Provozieren, auf Abbruch und rück­sichtslosen neuen Anfang. Es gab fundamentalen Widerspruch, strikte Verweigerung, massive Konfrontation. Zum Teil kam es zu offener Gewalt, später in einzelnen Fällen zu Terror und schweren Verbrechen.

Der demokratische Rechtsstaat bestand seine härteste Probe. In dieser Zeit schärfte sich unser Bewußtsein dafür, daß Recht Recht bleiben muß, daß Verbrechen Strafe fordert, daß aber auch Recht menschliches Recht ist und menschlich ange­wandt werden muß.

Geistige, soziale und politische Folgen sind seit 1968 ge­blieben. Gesellschaftspolitische Themen traten in den Vor­dergrund. Politisches Engagement drang über staatliche Or­gane hinaus in die Gesellschaft vor. Das ist unbequem und fruchtbar. Basisdemokratie wurde eingefordert, Bürgerini­tiativen verbreiteten sich. Neue soziale Bewegungen ent­stan­den. Befreiung und neue Gemeinschaft wurden gesucht. Dabei kamen alte menschliche Erfahrungen wieder zum Vor­schein. Es gibt Abhängigkeiten im Leben, die menschenunwür­dig sind; wir wollen sie loswerden.

Es gibt aber auch Bindungen, die wir suchen, weil sie uns zu Menschen werden lassen. Wir wollen zu uns selbst finden und uns doch nicht vereinzeln. So ist das im Leben, und leicht ist es nicht.

Hier ist von persönlichen Lebensentscheidungen die Rede, auf die die Gesellschaft tief einwirkt. Nirgends tritt uns dies schärfer vor Augen als bei der veränderten Stellung der Frau. Im Grundgesetz war nach heftigen Auseinanderset­zungen die Gleichberechtigung von Mann und Frau mit lapida­rer Eindeutigkeit verordnet worden. Um den Vollzug wird seither gerungen.

Bald nach dem Krieg wurden die Arbeiten und Verantwortun­gen, die die Frauen während des Kriegsdienstes und der Ge­fangenschaft der Männer hatten übernehmen müssen, wieder von den heimkehrenden Männern beansprucht. Dennoch gab es keine Umkehr mehr. Der Wunsch nach einem eigenen Beruf wur­de für viele Frauen zur Notwendigkeit, für die meisten zur Selbstverständlichkeit. Der Weg zur Ausbildung glich sich allmählich an. Der Zugang zu bislang männertypischen Arbei­ten wuchs - wir sehen es hier auf dem Dirigentenpodium.

Frauen sind aber nach wie vor zu oft benachteiligt. Sie be­kom­men es beim Einstieg, beim Aufstieg und beim Wiederein­stieg zu spüren. Dahinter steht die Spannung zwischen Fami­lie und Beruf. Noch immer müssen sich Familien dem Arbeitsmarkt an­passen statt umgekehrt. Darunter leiden alle. Die Frauen aber tragen den Löwenanteil der Lasten, die sich daraus er­geben.

Die materielle Lage für Familien mit Kindern fällt stark ins Gewicht. Vor kurzem schrieb mir eine Frau: "Eine Ge­sellschaft, die sich alles leisten kann, nur keine Mütter, muß sich nicht wundern, wenn sich die Frauen keine Mutter­schaft mehr leisten können." Sie wollte damit nicht ihren Wunsch, sondern nur den Zustand schildern.

Welche Zukunft also hat bei uns die Familie? Welche Obhut bietet sie kleinen Kindern und alten Menschen? Welchen Schutz findet werdendes Leben?

Die Stellung, die die Frau in der Vergangenheit innehatte, sollte niemand entwerten, so belastet sie auch war. Eines aber ist heute unumstößlich: Die Frauen sind freier gewor­den. Das ist ein Gewinn für sie. Männer sollten aufhören, unwiederbringlichen Privilegien nachzutrauern. Dann haben auch sie Gewinn davon, und dann sind sie besser in der Lage, den Familien nicht nur materiell aufzuhelfen, sondern auch beim Denken und Fühlen im ganzen.

Es wäre keine menschlich überzeugende Gesellschaft, der al­les als wertlos gilt, was nicht bezahlt wird. Was Mütter und auf ihre Weise auch Väter für Kinder tun, ist unbezahl­bar. Aber helfen muß die Gesellschaft, und bei der Vertei­lung der Lasten sollte es gerechter zugehen als bisher. Im übri­gen wäre es gut, wenn Männer, soweit sie im Rechts­staat da­zu berufen sind, über die Lage von Frauen beson­ders behut­sam urteilen.

Die genannten Beispiele zeigen, was unsere Verfassung kann und was sie nicht kann. Sie schützt die Würde des Menschen und die Grundrechte. Sie organisiert unser Zusammenleben mit seinen Konflikten, und in der Gewißheit neuer Entwicklungen macht sie friedlichen Wandel möglich.

Ob wir aber die Fähigkeit dazu haben, das garantiert die Verfassung nicht. Leben müssen wir selbst. Wir sind es, die die neuen Herausforderungen erkennen und mit ihnen fertig werden müssen, zumal mit solchen, die vor vierzig Jahren niemand vorhersehen konnte. Die Verfassung ist weder Orakel noch Motor der gesellschaftlichen Entwicklung.

Sie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen oder erneuern kann. Dazu gehören auch die allgemeinen ethi­schen Überzeugungen. Wir selbst müssen wissen, was wir dür­fen und wollen. Das ist schwer genug in einer Zeit, in der die "Potenzen", wie Jakob Burckhardt sie nennt, die Reli­gionen und die Kulturen es oft nicht wissen. Wie finden wir in einer Spannung zwischen Gleichgültigkeit und Fundamenta­lismus den rechten Weg? Die Verfassung sagt es uns nicht. Sie ist wehrhaft und werthaft angelegt, aber sie ist kein ewig sprudelnder Wertebrunnen für ethische Dürrezeiten.

Auch die Freiheits- und Grundrechte leben von dem, was wir aus ihnen machen. Sie verkümmern, wenn sie nur als eigene Ansprüche gegen den Staat verstanden werden. Ihre tiefere Bedeutung liegt in den Rechten, die jeder dem anderen zuge­steht. Mit der Verfassung allein ist kein Staat zu machen, sondern mit unserer Verantwortung für den Staat, das heißt füreinander; denn der Staat, das sind wir ja selber.

Wir haben uns hier versammelt, um unsere Verfassung zu fei­ern, weil wir sagen dürfen: Wir haben eine gute Verfassung. Aber es wäre doch eine oberflächliche Feierlichkeit ohne die ernsthafte Frage an uns: Sind wir in einer guten Verfas­sung?

Jeder von uns weiß ganz gut, daß er für seine eigenen pri­vaten Ziele Spielregeln beachten und selbst etwas einsetzen muß. Und für das Grundgesetz? Brauchen wir für sein Leben, nämlich für unser Gemeinwesen, nichts zu tun? Spielen im Verfassungsstaat nur Berufspolitiker mit? Ist der Bürger, wie er oft glaubt, lediglich als Zuschauer beteiligt und dann und wann als Schiedsrichter?

Die Schlüsselrolle fällt den Parteien zu. Das Grundgesetz behandelt sie in seinem Artikel 21 mit souveräner Zurück­haltung. Das hat wenig bewirkt. Es hat die überragende Be­deutung der Parteien damit nicht zu bremsen vermocht.

Dieser Zustand erfreut sich keiner großen öffentlichen Be­liebtheit. Aber auch im Ärger darüber sollte man sich vor falschen Schlußfolgerungen hüten. Es ist notwendig, den Willen des Volkes, von dem alle Gewalt ausgeht, zu ermit­teln und ihm eine Form zu geben, die uns vor einem ent­scheidungsunfähigen Durcheinander bewahrt. Dies kann nur mit Hilfe von politischen Parteien geschehen. Zumal als Volksp­arteien leisten sie auch innerparteilich einen oft unterschätzten, aber unentbehrlichen Beitrag zum notwendi­gen demokratischen Streit und Ausgleich.

Gewiß, manchmal tun wir in den Parteien unnötigerweise so, als wüßten wir alle Antworten auf die Fragen unserer Zeit.

Wahr ist auch, daß es den Parteien um die Macht geht. All­mächtig aber sind sie gerade nicht. Vielmehr sind sie ab­hängig vom Mehrheitsmandat, um das sie ständig kämpfen müs­sen. Nicht ihre Selbstherrlichkeit ist die große Gefahr; dann schon eher, daß sie auf der Suche nach Stimmen allzu viele Wünsche gleichzeitig erfüllen wollen. Wenn die Par­teien die Lösung der Probleme dem Streit gegen die Konkur­renz unterordnen, wenn sie die Fragen der Zeit zu Instru­menten im Kampf um die Macht entwerten, ja, dann leidet ihre Glaubwürdigkeit. Aber das schadet nicht nur ihnen, sondern uns allen. Denn einen Ersatz für sie gibt es nicht.

Es kann nur darum gehen, sie immer von neuem zu verbes­sern. Dazu kann jeder beitragen, am fruchtbarsten dadurch, daß er die Parteien mit seiner kritischen Anteilnahme zur Arbeit an den Problemen zwingt. Um der lebendigen Kraft un­seres Gemeinwesens willen gilt es mitzumachen und nicht ab­seits zu stehen.

Wir können für unsere Einsichten eintreten und unsere In­teressen wahrnehmen. Wir können Solidarität erwarten, wenn wir sie selber üben. Das Grundgesetz gewährt Schutz und bietet Chancen, aber nicht ohne unser Zutun. Wenn Ausländer unter diesem Schutz stehen, dann sollten auch wir Deutschen ihnen unsere Türen und Herzen wirklich öffnen.

Im übrigen sollten wir auf der Hut sein. Exzentrik kann in der geistigen Auseinandersetzung ihren guten Platz haben. In der Politik ist es anders. Politische Exzentrik heißt ja, heraus aus dem Kern drängen, die Suche nach einer ge­meinsamen Mitte aufgeben, die extremen Ränder aufsuchen.

Dort finden sich aber keine tragfähigen Antworten. Dort werden nur Stimmungen aufgeheizt. Das ist kein guter Platz für demokratische Verantwortlichkeit und damit gewiß auch nicht für die Wähler, die letzten Endes in der Lage sind zu beweisen, daß sie die wahren Politiker sind.

Es gibt bei uns, wie überall, Licht und Schatten. Mehr Spe­zialisierung, weniger Überblick; mehr technische Verbindun­gen, weniger menschlichen Kontakt; mehr Unruhe, weniger Zeit; mehr Angebote, weniger Konzentration; mehr Wohlstand, weniger Klarheit über die Aufgaben; wachsende Weltoffen­heit, schwächere Verwurzelung. Wir sind vom technischen Zeitalter geprägt. Verfassung und Rechtsstaat aber können uns kaum Auskunft über das Wesen der Technik geben. Im Zei­chen solcher Spannungen steht unsere Lebensweise und damit unsere ganze Kultur. Geist und Kunst wenden sich ihnen zu. Sie helfen uns, mit der Widersprüchlichkeit des Fort­schritts zu leben.

Mehr als auf manchem anderen Gebiet der Gesellschaft ist bei uns nach dem Krieg wirklich Neues entstanden im geisti­gen und wissenschaftlichen Leben, in der Kunst, der Musik und Dichtung, der Malerei und Plastik, der Architektur, dem Theater und dem Film. Wir erwarten von niemandem in der Welt, er möge an unserem Wesen genesen. Aber wir sind ein aktiver Partner unter den Kulturen. Es gibt bei uns eine stark gewachsene Sensibilität und kritische Auseinanderset­zungen. Das ist immer fruchtbar. Auf nichts anderem beruht der Fortschritt zu neuen Einsichten. Unsere Kultur ist ge­wachsen wie ein kräftiger und vielgestaltiger Mischwald. Er leistet seinen Beitrag zur lebensnotwendigen Frischluft.

Neues Licht, nicht ohne Schatten, erreichte auch den sozia­len Bereich. Wo sich Notstände fanden, wurde ihnen in rechtlich gesicherter Form abgeholfen. Die Kehrseite sind Besitzstände, die sich auch dort halten können, wo der einst zugrundeliegende Mangel längst behoben ist. Aber das Gemeinwesen darf nicht überfordert, nicht unbeweglich wer­den. Es muß immer wieder erneuerungsfähig sein. Wir können uns nicht alles leisten, wir müssen Prioritäten setzen.

Die Kräfte in den Menschen und in der Gesellschaft sind nicht kleiner geworden als früher. Aber sie wirken sich stärker im persönlichen als im sozialen Umfeld aus. Es ent­wickelt sich eine Mentalität der "Vollkaskogesellschaft". Eigene Interessen werden auf Kosten des Ganzen abgesichert und durchgesetzt. Die Belastungsschwellen werden niedriger, Streit und Klagen häufen sich, obwohl doch der Rechtsstaat nicht dafür gedacht ist, einer Rechthabereigesellschaft zu dienen, sondern der Gerechtigkeit und dem Schutz des Schwa­chen.

Unter solchen Lasten fällt es dem Staat schwer, wirksam ge­nug neuen Notständen abzuhelfen, die es ganz gewiß bei uns auch heute gibt. Es ist vor allem die ständig wachsende Zahl alter, im Ruhestand lebender Menschen bei scharf ge­sunkener Geburtenrate, die uns eine humane Aufgabe erster Ordnung stellt. Sie gehört zugleich zur anderen großen und ungelösten Problematik, der Arbeitslosigkeit. Jeder dritte Beschäftigte kommt heutzutage irgendwann mit der Arbeitslo­sigkeit persönlich in Berührung.

Familiäre und nachbarschaftliche, kirchliche und gewerk­schaftliche Bindungen können eine zunehmende Vereinzelung der Betroffenen nur unzureichend verhindern. In der gewerb­lichen Wirtschaft wächst zwar die Zahl der Arbeitsplätze erheblich, aber der internationale Kostenwettbewerb und die Technik wirken auch umgekehrt. Gleichzeitig steigt der Be­darf an sozialen Dienstleistungen. Beides zusammen macht die Forderung dringlich, statt Arbeitslosigkeit mehr sozia­le Arbeit zu ermutigen und auch zu finanzieren.

Es gibt Spötter, die sagen: "Uns geht es schlecht, aber auf hohem Niveau." Das ist ziemlich grober Unfug. Denn ei­nerseits ist es wahr, daß Menschen unter uns gar nicht auf hohem Niveau, sondern unter großen Schwierigkeiten leben. Ihnen gilt es, tatkräftig zu helfen. Andererseits befindet sich unser Land in der Spitzengruppe des Wohlstandes der Welt. Wir haben die materiellen und geistigen Kräfte, um uns führend am Kampf gegen globale Notstände zu beteiligen.

Die schärfsten Probleme der Gegenwart sind Hunger und Not, Ungerechtigkeit und Verschuldung in weiten Teilen der Welt. Der Zuwachs der Erdbevölkerung ist ungebrochen und nimmt wahrhaft verheerende Ausmaße an. Denn er führt zur immer weiteren Zerstörung der Naturräume. Wir in den Industrie­ländern denken vor allem an das zukünftige Weltklima. Men­schen in Not denken an ihr Brot von heute. Sie werden erst dann lernen, die Kinderzahl zu begrenzen und die Natur zu schützen, wenn sich ihre Notlage bessert. Dies hängt zu­nächst von ihnen selbst ab, aber nicht weniger von unserer Hilfe und von den Weltmärkten, die wir beherrschen, nicht sie.

Noch leben wir in unverantwortlichem Ausmaß auf Kosten an­derer Teile der Welt und zu Lasten der Zukunft. Ist uns das ganze Ausmaß drohender Klimaveränderungen wirklich bewußt? Wissen wir, daß wir einen Treibhauseffekt mitverursachen, der später weite, dichtbesiedelte Küstengebiete, Flußmün­dungen und Inselstaaten buchstäblich dem Untergang preisge­ben kann?

Mit wachsender Härte zwingen uns die Probleme umzulernen. Noch immer erscheint die Natur im Haushalt des Menschen nur als ein Rechnungsposten unter vielen. In Wahrheit aber ist der Mensch selber nur ein Faktor unter anderen im Haushalt der Natur. Er gehört der Natur an und muß lernen, das Ganze zu wahren, dessen Teil er ist. Er muß die Natur um ihrer selbst willen schützen.

Damit beginnen wir auch, die Gefahren des Verteilungskamp­fes zwischen Gegenwart und Zukunft besser zu begreifen. Wir schulden den späteren Generationen keinen geringeren Schutz als den Lebenden. Umweltschutz wird zum Nachweltschutz. Auch das Grundgesetz steht für solche Einsichten offen.

Die wachsende Sorge nicht vor der Wissenschaft und Technik an sich, aber vor ihrer Verselbständigung tritt hinzu. Überschauen wir noch die Auswirkungen neuer Erkenntnisse und Techniken in der Molekular- und Neurobiologie auf die Erbmasse von Pflanzen, Tieren und Menschen? Wie weit sind Computer schon auf dem Wege, sich selbst zu programmieren?

Mit der Frage, ob wir dürfen, was wir können, ist es bei weitem nicht mehr getan. Wir können zu wenig, um verantwort­lich entscheiden zu können, ob das geschehen darf, was ge­schehen kann, und ob das geschehen kann, was geschehen muß.

Wir werden das Problem nicht lösen, indem wir die Menschen­würde gegen die Freiheit der Wissenschaft und Forschung ins Feld führen. Es wäre so unrealistisch wie ethisch vage. Wichtig ist eine ungehinderte Information und eine breite Bewußtseinsbildung. Möglichst viele sollten möglichst viel wissen. Nicht alle Laien können Sachverständige werden, und demokratisch gewählte Organe dürfen die Entscheidung nicht in die Hand von Experten legen.

Aber Laien wie Politiker haben keinerlei Grund, ihre Rolle nur deshalb gering zu veranschlagen, weil sie keine Spezia­listen sind. Sie haben Recht und Pflicht, immer von neuem kri­tisch nachzufragen. Nichts schadet einer Gesellschaft mehr als nachlassendes Mitdenken. Nirgends ist unsere in Frei­heit gewachsene Öffentlichkeit so gut am Platz und so not­wendig wie hier.

Zu den bestimmten Aufgaben unserer Zeit zählen die Verände­rungen in ganz Europa.

Jean Monnet, der große Europäer, sagte 1943 an die Adresse der damaligen Kriegsgegner Deutschlands, sie hätten den Ersten Weltkrieg gewonnen, aber den Frieden verloren; nun seien sie im Begriff, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, und diesmal werde es entscheidend sein, auch den Frieden zu gewinnen.

Frieden kann man nicht gegeneinander gewinnen, sondern nur miteinander. In der Europäischen Gemeinschaft ist es uns gelungen. Noch haben wir bedeutsame Hindernisse bis zum Ziel der Politischen Union zu überwinden. Aber zum Wohle ihrer Völker ist der Weg der Gemeinschaft unumkehrbar ge­worden. Ihr gemeinsames Gewicht in der Welt wächst. Der Friede unter den Partnern der Gemeinschaft und auch im Eu­roparat ist besiegelt.

Jenseits unserer Grenzen leben jedoch Menschen, die Euro­päer sind wie wir, geprägt von der gemeinsamen Geschichte, erfüllt vom selben Verlangen nach Freiheit und gerechten Lebenschancen. Mutig und unüberhörbar drängen sie darauf bei sich zu Hause. Klar und eindeutig sind auch ihre Erwar­tungen an uns, daß wir uns nicht in unserem Wohlstand ab­schirmen, sondern unsere Freiheit einsetzen, um den Men­schen in ganz Europa vorwärtszuhelfen.

Wahrhaft aufregende Perspektiven zeichnen sich ab. Die gro­ßen Mächte stoßen an ihre Grenzen. Die Probleme, vor denen sie stehen, lassen ihrer Natur nach kaum noch interne oder konfrontative Lösungen zu. Ihre Waffensysteme können sie nur noch um den Preis der Selbstvernichtung einsetzen. Das militärische Potential nimmt in seiner Bedeutung ab. Über den Rang einer Weltmacht entscheidet dagegen in wachsendem Maße ihre wissenschaftliche und technische, ihre wirt­schaftliche und soziale Kraft im Innern und ihre Wettbe­werbsfähigkeit im Weltmaßstab.

Auch die sowjetische Führung hat dies erkannt. Wenn sie im globalen Vergleich nicht immer weiter zurückfallen will, muß sie ihr eigenes System aus seiner Erstarrung lösen. Sie leitet umfassende Reformen ein. Dabei erkennt sie immer klarer, daß sie nur dann Erfolg haben kann, wenn sie sich Schritt für Schritt unseren Grundsätzen annähert: Sie muß dezentralisieren, Selbstverantwortung ermutigen, persönli­che Leistung belohnen, den Bürger rechtsstaatlich besser schützen, seine Stimme politisch ernster nehmen, öffentli­che Kritik zulassen und sich um Wahrhaftigkeit gegenüber der eigenen Geschichte bemühen.

Ein atemberaubender Prozeß ist im Gang. Seine Risiken sind gewaltig. Niemand weiß, ob er zum Erfolg führt. Gewiß aber ist eins, daß wir ihn um unserer eigenen Ziele willen wün­schen müssen und, soweit wir können, fördern sollten. Denn seine Chancen kommen letzten Endes nicht den Systemen, son­dern den Menschen in ganz Europa zugute.

Spannungen zwischen Ost und West kennzeichnete die ganze Nachkriegszeit. Gegensätze der Interessen und Systeme sind auch heute noch längst nicht überwunden. Dennoch ist die europäische Nachkriegsordnung in Bewegung geraten. Wirt­schaft, Technik, Wissenschaft und - allen voran - die mas­siv gefährdete Natur verändern das Wesen von Grenzen. Es wird immer wirkungsloser, sie zu befestigen, immer sinnlo­ser, um ihre Verschiebung zu streiten. Denn unsere existen­tiel­len Probleme werden grenzenlos.

Damit stehen wir im Westen vor einer gewaltigen Probe. Ver­änderungen drüben erfordern neues Denken auch bei uns. Un­ter den Bedingungen des kalten Krieges war es leicht, einig zu sein. Es wird unbequemer, wenn die Welt nicht mehr so eindeutig Auskunft gibt, wer nun für uns und wer gegen uns ist. Sind die Polen und die Ungarn, die in ihrem Pakt blei­ben wollen, aber Anschluß an unsere Wirtschaftsordnung su­chen, gegen uns? Nehmen wir ihre Hoffnungen ernst genug?

Einigkeit im Westen brauchen wir heute erst recht, sowohl um der Risiken als auch um der Chancen willen. Wir müssen entschlossen sein und imstande bleiben, unsere Freiheit und Unabhänigigkeit gegenüber jedermann zu schützen. Wir brau­chen Bündnis und Bundeswehr. Es gilt, wie bisher so auch in Zukunft den Krieg zu verhindern. Dazu haben wir unseren Wehrdienst, und - wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf - es wäre klarer, wenn im Grundgesetz vom Recht zur Verweigerung nicht des Kriegsdienstes, sondern des Wehr­dienstes die Rede wäre. Er ist kein Kriegsdienst, sondern ein Kriegsverhinderungsdienst. Das sollte jeder wi­s­sen, der sich legitimerweise prüft, ob er aus Gewissens­gründen von seinem verfassungsmäßigen Recht der Verweige­rung Ge­brauch machen soll.

Sicherheitspolitik bleibt also ein notwendiger Rahmen in den internationalen Beziehungen. Aber sie ist nicht mehr ihr gestaltendes Prinzip. Was im Atlantischen Bündnis schon vor über zwanzig Jahren mit der Harmel-Doktrin geplant wur­de, das kann sich heute erfüllen: der feste Zusammenhang von Verteidigung und Entspannung. Wir brauchen Lösungen, in denen alles zusammenstimmt.

Es ist ein Gebot der Sicherheit, über Abrüstung und Rü­stungskontrolle mit voller Offenheit zu verhandeln. Wir im Westen müssen zur systemöffnenden Zusammenarbeit mit dem Osten bereit sein, und zwar im Sinne des Wesenskerns der westlichen Demokratie, nämlich im Geist von Menschenrecht und freier Selbstbestimmung.

Aus diesem uns verpflichtenden Geist heraus sind wir jeder Chance für andere Länder in ganz Europa aktiv zugewandt, und wer in solcher Haltung einen Anflug von Bündnisuntreue gegenüber dem Westen wittert, der leidet selbst unter einem Anflug von Vergeßlichkeit gegenüber der freiheitlichen Ver­antwortung, aus der dieses Bündnis lebt.

Heute gibt es die wahrhaft historische Chance zu einem Wan­del, der uns einem geordneten Frieden in Europa näherbrin­gen kann. Wir schaffen es vom Westen aus gewiß nicht al­lein. Aber ohne den nur uns möglichen Beitrag kann es auch nicht gelingen. Es gilt, ihn nüchtern und entschlossen zu leisten. Denn die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wiederholen.

Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind unwiderruflich eingebettet in die Europäische Gemeinschaft und das Atlan­tische Bündnis. Eine Großmacht sind wir nicht, aber ein Spielball anderer auch nicht. Es ist für uns ein entschei­dender Gewinn, Freunde und Partner gefunden zu haben.

Das Bündnis, das westliche Europa und der ganze Kontinent sind aber ihrerseits entscheidend angewiesen auf unsere Beiträge. Unser politisches Gewicht bestimmt sich durch un­sere zentrale Lage und die besondere Situation Berlins, durch unsere Bevölkerungszahl, unsere Leistungsfähigkeit und unsere Stabilität. Sowenig wir einen Sonderweg haben oder suchen, so unangebracht wäre es, unsere eigenen Inter­essen zu verbergen. Sonst wären wir keine berechenbaren, zuverlässigen Verbündeten.

Wir stehen im Dienste der politischen Ziele, die uns die Präambel des Grundgesetzes vorgibt: Frieden, Einheit der Europäer, Einheit der Deutschen. Wie wir ihnen näherkommen, das will und kann uns die Verfassung nicht vorschreiben. Wir müssen den Einklang der Ziele und den Weg zu ihnen selbst finden.

Mit Überzeugung gehen wir schon seit Jahrzehnten den Weg der Europäischen Gemeinschaft. Der Hauptteil der Landwirt­schaft und der Außenhandel liegen in europäischer politi­scher Zuständigkeit. Ökologie und Ökonomie in ihrer immer engeren gegenseitigen Abhängigkeit können wir allein nicht mehr bewältigen. Die Gemeinschaft braucht mehr Befugnisse, um zur Europäischen Union werden zu können.

Wie verträgt sich diese Entwicklung mit unserer Nation, un­serem Staat, unserem Empfinden als Deutsche? Soll alles Na­tionale europäisch wegharmonisiert werden? Davon kann keine Rede sein. Je mehr übernationale Entscheidungen zwingend notwendig werden, um so wichtiger ist die eigene Heimat.

Wir haben dafür in unserer Überlieferung gute Voraussetzun­gen, bessere als die meisten unserer europäischen Partner. Wir sind ein Bundesstaat. Von Haus aus sind wir Föderali­sten. Die deutsche Geschichte ist durch die Vielfalt der Regionen, der Konfessionen und Lebensgefühle geprägt. An­ders als bei den meisten Nachbarn hatte sie nur im Ausnah­mefall zentralistische Phasen, in der Regel dagegen gute Kapitel der Badener, Sachsen und Mecklenburger, der Bayern, der Preußen und anderer deutscher Länder. Unser Föderalis­mus ist höchst lebendig. Er verliert seine beschützende Kraft nicht, auch wenn er den Gesamtstaat als Notwendigkeit erkennt und trägt.

Erst die Verfälschung eines humanen Nationalgefühls in Na­tionalismus war zerstörerisch. Patriotismus ist Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist Haß auf die anderen, und dieser wurde zur Hauptursache für den europäischen Bruder­krieg. Seine Überwindung durch die Gemeinschaft ist ein wahrer Fortschritt zum Frieden in Europa, und es ist gut, daß wir Deutschen haben dazu maßgeblich beitragen können.

Nicht die Zentralstaatsnation, sondern der föderale Gedanke prägt unseren Staat. Er ist es, der uns auch den Weg zu den Zielen unserer Verfassung ebnet. Wir wissen aus der Erfah­rung unseres Volkes, daß die Eigenart seiner selbstbewußten föderalen Glieder nicht wegintegriert, sondern um der Hei­matwurzeln der Menschen willen stärker werden kann, wenn das Land aus eigener Einsicht in neue Notwendigkeiten Be­fugnisse an höhere Ebenen abgibt. Wir werden es deshalb leichter haben als andere, wenn nach einem ähnlichen Modell eine neue politische Architektur in Europa entsteht.

Die offene deutsche Frage ist Ausdruck der Zusammengehörig­keit der Deutschen, die schweren Belastungen ausgesetzt und doch lebendig geblieben ist und bleibt, wie die Präambel selbst, die an die Freiheit anknüpft. Unsere Verfassung sieht die deutsche Frage nicht im Gegensatz, sondern im Zu­sammenhang mit Europa. Für sie ist der Gedanke eines auf­einander zu wachsenden größeren Europas maßgeblich. Von ihm lassen wir uns im Bewußtsein leiten, daß die Geschichte of­fen ist und daß wir ihr am besten zuarbeiten, wenn wir uns den heutigen großen Herausforderungen verantwortlich zuwen­den.

Langweilig ist es uns nie geworden. Es geht spannend zu in der Bundesrepublik Deutschland. Die Probleme erscheinen uns oft unlösbar. Mancher wird darüber verzweifeln. Den möchte ich an das Dichterwort erinnern: "Wer sich der Verzweif­lung hingibt, verliert den Kopf. Wer Komödien schreibt, be­nutzt ihn."

Nun ist der Gegenstand von Komödien zwar der gute Ausgang von ernsten Konflikten. Dennoch wollen wir Politiker sie we­der schreiben noch aufführen. Dazu sind wir nicht ge­wählt; wir sind gewählt zur Auseinandersetzung über den be­sten Weg, mit Kopf und Herz, mit großem Ernst, aber ohne Verbis­senheit. Wir teilen die Aufgabe, dem Staat zu die­nen. Einer gibt sie an den anderen weiter, je nach Wähler­auftrag. Es wechselt nicht der Staat, es wechseln Regierun­gen. Die oft propagierte Lehre von den großen Zäsuren steht im Wider­spruch zu unseren Erfahrungen.

Es gibt keine Stunde Null. Mit keinem demokratischen Macht­wechsel droht der Untergang, mit keiner neuen Regierung fängt die Sache erst richtig an. Ein Gegner ist immer auch ein Lehrer, das ist doch ein gutes Sprichwort. Wir korri­gieren einander und arbeiten doch stets mit den guten und schlechten Erbschaften unserer Vorgänger weiter. Alle sind daran beteiligt und alle davon betroffen. Wir sitzen zusam­men in einem Boot der Kontinuität, und das ist gut.

Am Ideal gemessen, versagt die Wirklichkeit. Aber was wäre das für eine traurige Wirklichkeit, wenn sie aufhören wür­de, sich nach dem Ideal zu orientieren und nach der Wahr­heit zu fragen? Nähern wir uns im demokratischen Wettbewerb der Wahrheit? Wo bleibt sie in unserer offenen pluralisti­schen Gesellschaft?

Niemand hat sie. Niemand darf deshalb die Freiheit anderer beschneiden, weil er der Meinung ist, er besäße sie. Es geht aber nicht ohne das Ringen um Wahrheit. Wir alle, Wäh­ler und Politiker, alt und jung, Mann und Frau, Laien und Sachverständige, sind dazu aufgefordert, in der Verbindung von Freiheit und Wahrheitssuche uns an der Lösung der Zu­kunftsfragen zu beteiligen.

Die überragende Zukunftsfrage ist das Überleben der Schöp­fung. Das nüchterne, mit Werten so sparsame Grundgesetz nimmt dieses Thema bereits in seiner Präambel auf. "Im Be­wußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beschlossen.

Unser Gemeinwesen ist weltanschaulich neutral. Jeder folgt seiner eigenen Überzeugung. Für mich als Christen bedeutet die Verantwortung des Menschen vor Gott in ihrer politi­schen Dimension die Verantwortung für die uns Menschen an­heimgegebene Schöpfung.

Das Grundgesetz ruft uns auf, vor unseren Kindern dieser Verantwortung für die Schöpfung gerecht zu werden. Das ist der Kern.

Unsere Verfassung, die sich in vierzig Jahren bewährt hat, erfüllt damit ihre große Bedeutung für unsere Zukunft. Da­rin können wir alle einig sein.