Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zu seinem Amtsantritt

Schwerpunktthema: Rede

1. Juli 1994

Vor allem möchte ich mich bei Ihnen, Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages, und bei Ihnen, Herr Bundespräsident von Weizsäcker, aufs herzlichste für die guten Wünsche bedanken, die Sie mir soeben ausgesprochen haben.

In Stunden wie dieser wendet sich der Blick fast automatisch zurück, vor allem natürlich auf die Gestalten der bisherigen Bundespräsidenten, die alle, jeder auf seine Weise, unserem Staat in eindrucksvoller Weise gedient und dem Amt des Bundespräsidenten ihren jeweils ganz besonderen Charakter aufgeprägt haben: Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker.

Ich will nicht alle diese Männer vor dieser hohen Versammlung zu würdigen versuchen. Ihnen aber, verehrter Herr von Weizsäcker, gilt mein ganz besonderer Dank und mein Respekt, und man kann es in diesen Tagen ja mit Händen greifen: Es ist der Dank und der Respekt aller Deutschen, der sich mit dem meinen verbindet und den ich - gewissermaßen erstmals in meiner neuen Funktion - nur brennglasartig zusammenzufassen und auszudrücken brauche.

Zehn Jahre lang haben Sie das Amt des Bundespräsidenten - zusammen mit Ihrer Frau, die ich in diese Danksagung gleich mit einbeziehen möchte - in bewunderungswürdiger und unnachahmlicher Weise geführt. Sie haben zuerst die alte Bundesrepublik und sodann das wiedervereinigte Deutschland in der Welt so repräsentiert, wie es heute ist und wie es repräsentiert zu werden verdient. Sie haben den Deutschen ist Ost und West Weg und Richtung gewiesen, Sie sind Vorbild für viele gewesen, und Sie sind nicht müde geworden, dort, wo es Ihnen nötig erschien, auch deutliche Kritik zu üben und zu mahnen. Das ist Aufgabe und Recht jedes guten Bundespräsidenten, und Sie sind beidem in wahrhaft glanzvoller Weise gerecht geworden. Herzlichen Dank dafür!

Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat keine Regierungserklärungen abzugeben, am allerwenigsten am Tage seines Amtsantritts. Er braucht nicht alle Probleme zu erwähnen, die im Augenblick seines Amtsantritts vorhanden sind, und er braucht sie auch nicht gleich noch einer Lösung zuzuführen. Aus der Tatsache, daß er das eine oder andere Problem, die eine oder andere Institution nicht erwähnt, darf noch weniger als bei einer Regierungserklärung geschlossen werden, daß er damit nicht vertraut sei oder dazu vielleicht nicht einmal etwas zu sagen habe. Ich sage das gleich zu Anfang meiner Rede, um Mißverständnissen vorzubeugen. Und ich meine es auch nicht böse, meine Damen und Herren, es geht eben nicht alles in einer guten halben Stunde.

Aber unser Volk und Sie vor allem, meine Damen und Herren des Deutschen Bundestages und des Bundesrates, haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie ich in den entscheidenden Fragen unserer Zeit denke und welche Grundsätze ich daher meiner Arbeit zugrunde zu legen beabsichtige.

ich will mit der Außenpolitik beginnen, mit der Stellung des wiedervereinigten Deutschland in der Welt.

Es ist ja kein Geheimnis, daß diesem wiedervereinigten Deutschland, wenn es seine inneren Schwierigkeiten erst einmal überwunden haben wird, in Europa nach Bevölkerungszahl und Sozialprodukt besondere Bedeutung zukommen wird und daß auch seine Verantwortung in der Weltpolitik zunehmen wird. Deshalb ist in den jüngstvergangenen Jahren da und dort der Argwohn aufgekommen, es könnte sich nunmehr allmählich aus der Westbindung der vergangenen 40 Jahre lösen und auf die alten wilhelminischen Pfade zurückkehren. Ich spreche das so offen aus, weil ich der felsenfesten Überzeugung bin, daß es meist schon die halbe Antwort auf eine Frage ist, wenn man die Frage nicht vornehm umschreibt, sondern eben ganz offen frontal anspricht. Wenn es nach mir geht, meine Damen und Herren, darf sich diese Befürchtung mancher unserer Nachbarn nicht einen Augenblick und nicht einen Zentimeter realisieren.

Deshalb ist es meines Erachtens unerläßlich, daß dieses neue und zunächst nur vermeintlich stärker gewordene Deutschland zusammen mit den anderen westeuropäischen Partnern unermüdlich an der Erweiterung und an der Vertiefung der Europäischen Union mitarbeitet.

Deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika, im Rahmen der Nordatlantischen Allianz, aber auch außerhalb dieses Rahmens so wichtig. Deshalb brauchen wir die Intensivierung der deutsch-französischen Freundschaft weit über den Kreis der Amts- und Funktionsträger hinaus in allen gesellschaftlichen Bereichen. Und deshalb brauchen wir die Stärkung der Vereinten Nationen, auch durch verstärkte deutsche Mitarbeit - wobei ich die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts auch nicht thematisch gestreift haben möchte.

Sowohl die innere Sicherheit als auch die Überlebensfähigkeit der Menschheit hängen davon ab, ob es uns in unserer Lebensspanne gelingt, in Bereichen wie Friedenssicherung, wie Umweltschutz, Artenschutz, Rohstoffverbrauch und Ernährung zu Lösungen zu kommmen, die den Namen einer Weltinnenpolitik wenigstens in Ansätzen verdienen.

Besondere Verantwortung haben wir Deutschen für die Zukunft der frei gewordenen Völker östlich von uns. Dazu drängt uns nicht nur unser eigenes politisches Interesse, meine Damen und Herren, sondern auch die Vergangenheit, die unser Verhältnis zu vielen dieser Völker immer noch belastet. Was an mir liegt, soll geschehen, daß diese Last Stück für Stück abgetragen oder doch wenigstens gemildert wird und daß die Deutschen dort als das erscheinen, was sie schon immer hätten sein sollen: als friedliche, hilfsbereite und - vor allem im Politischen - auch der Uneigennützigkeit fähige Nachbarn.

Aus der Hilfe, die wir diesen Völkern anbieten, darf auch nicht der Hauch einer politischen Präponderanz entstehen; schon deshalb brauchen wir übrigens die Vertiefung der Europäischen Union. Und es darf auch durch diese Hilfe nicht der Schein eines deutschen Sonderweges entstehen. Ich bin im übrigen sicher, daß er gar nicht entstehen kann, meine Damen und Herren. In der 40jährigen Geschichte der europäischen Einigung ist bisher noch jede Erweiterung mit einer Vertiefung einhergegangen.

Aber wenn wir uns das alles vornehmen, dann müssen wir auch unserer selbst etwas sicherer werden, als wir das im Augenblick sind. Sie ahnen, was jetzt kommt: die Frage der deutschen Nation, die wir aus guten Gründen lange Jahre ganz tief gehängt haben, die wir jetzt aber nicht irgendwelchen Rattenfängern überlassen dürfen.

Ich habe zu dieser Frage schon in meiner Rede zum 17. Juni 1988 im Bonner Wasserwerk Stellung bezogen. Was ich damals gesagt habe, gilt unverändert fort und kann nachgelesen werden. Aber ein paar wesentliche Punkte will ich hier doch wenigstens wiederholen.

Ich habe mich damals zur deutschen Nation bekannt und will das auch in dieser Stunde wieder tun. Der Nationalstaat aber als alleinige Form politischer Gestaltung, der hat sich überlebt; das erfahren wir an allen Ecken und Enden. Aber ob wir es wollen oder nicht, ob wir Deutsche, Franzosen, Amerikaner oder Türken sind, wir alle sind nun einmal - so wie die Dinge heute liegen - in eine Nation hineingeboren oder hineinversetzt. Jede Nation hat ihr eigenes historisches Erbe. Dazu gehört auch, daß die deutsche eine lange, reiche und vergleichsweise friedliche Geschichte hatte, ehe sie - später als andere - zum Nationalstaat wurde. Wir können auch diesen Teil unseres Erbes nicht ausschlagen.

Aber wir Deutschen haben allen Grund, uns in dieser Frage sehr, sehr vorsichtig zu bewegen. Dazu sollten uns schon die Schandtaten veranlassen, die in deutschem Namen begangen worden sind, genauso aber auch die Erfahrung, daß unser Volk, vielleicht mehr als andere, sowohl in der Niedergeschlagenheit als auch im Jubel zur Übertreibung neigt und daraus wieder neues Unheil und neues Unrecht entstehen könnte.

Ich rate uns aus allen diesen Gründen, meine Damen und Herren, die Liebe zu unserem Land nicht einen Augenblick zu verschweigen, uns dabei aber, wie ich vor sechs Jahren schon sagte, ausgesprochen leiser Töne zu befleißigen. Nationales Trara, Fanfaren und Tschinellen sind das letzte, was wir dabei brauchen können.

Ich pflege in diesem Zusammenhang meist einen Satz des politisch gewiß unverdächtigen Kurt Tucholsky zu zitieren, der genau zum Ausdruck bringt, was ich jetzt meine. 1929 hat er geschrieben:

In allen Gegensätzen steht - unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert - die stille Liebe zu unserer Heimat.

In diesem Zusammenhang sind dann natürlich auch einige Worte zum Umgang mit unserer Geschichte nötig. Das Thema ist aus Gründen, die ich hier weder analysieren noch beurteilen möchte, immer noch schwierig, und es ist in letzter Zeit sogar wieder schwieriger geworden, weil es zu viele zwar geistvolle, aber eben auch irreführende neue Formeln dazu gegeben hat. Mit Formeln wie "Die Nachkriegszeit geht zu Ende" oder "Nach Auschwitz gibt es keine Geschichte mehr" ist der Sache, die uns alle umtreibt, meine Damen und Herren, nicht gedient. Wichtig ist etwas ganz anderes: der ungeschminkte, offene Blick auf die historische Wahrheit und die Bereitschaft, diese historische Wahrheit weder umzuschminken noch wegzuinterpretieren. Nichts weglassen und nichts hinzufügen!

Es ist historische Wahrheit, daß in den unseligen zwölf Jahren vom deutschen Boden ein Angriffskrieg ausgegangen ist, der die ganze Welt in Brand gesteckt hat, daß Millionen von Juden und Hunderttausende aus anderen Minderheiten ermordet worden sind, daß es KZs und Vernichtungslager gegeben hat, so wie es historische Wahrheit ist, daß unter den Folgen dieses verbrecherischen Systems auch ungezählte Deutsche gelitten haben, und wie es Wahrheit ist, daß auf den selbstverschuldeten Ruinen nachher ein freiheitlicher und demokratischer Staat aufgebaut worden ist und daß sich der Teil unseres Volkes, der dieses Glück und diese Chance zunächst nicht hatte, in einer unblutigen Revolution selbst befreit hat.

Nur, meine Damen und Herren, auch wenn wir das alles nicht verschweigen können und nicht verschweigen wollen: Aufrechnungen sind hier genausowenig möglich. Man kann nicht Hitler gegen Beethoven aufrechnen oder Himmler gegen Robert Koch oder Hilde Benjamin gegen Grundgesetz und Rechtsstaat. So können wir und so dürfen wir unsere Geschichte nicht betreiben; das würde wieder einmal alles schraffieren und alles verwischen, was wir aus ihr zu lernen haben.

Ebensowenig kann man historische Lasten der eigenen Nation gegen Lasten anderer Nationen, Verbrechen des einen Unrechtsregimes gegen die des anderen, Hitler gegen Stalin, Dresden gegen Coventry, Bautzen gegen Dachau aufrechnen. Der Gleichheitsgrundsatz gilt nicht im Unrecht.

An der historischen Einmaligkeit des Grauens von Auschwitz ist nun einmal nicht zu deuteln. Daß es eine historische Einmaligkeit bleibt, ist nicht ein Thema für streitende Historiker, meine Damen und Herren, sondern es ist Verantwortung und Pflicht für uns alle. Denn natürlich haben wir aus den schlimmen Teilen unserer Geschichte am meisten zu lernen; das ist immer so im menschlichen Leben.

Nur hat sich durch den Zeitablauf - auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen, weil ich es als eine Grundaufgabe meiner Amtszeit betrachte - auch die Struktur dieser Aufgabe zu verändern begonnen. Je mehr Zeit ins Land geht, desto weniger Sinn macht es, nach persönlicher Schuld einzelner Personen zu suchen, so sehr ich dafür bin, auch noch den letzten KZ-Schinder bis an sein Lebensende zu verfolgen.

Lassen Sie mich aber persönlich sagen: Als der Krieg zu Ende war, war ich elf Jahre alt, und schon da kann man zwar von Scham und Verantwortung für die Zukunft, schlecht aber von persönlicher Schuld reden. Von meinen Söhnen kann ich noch weniger verlangen, daß sie solche individuelle Schuld empfinden. Aber das kann man von uns verlangen: daß wir aus der Geschichte des Volkes, in das wir hineingeboren sind, lernen, daß wir uns engagiert damit auseinandersetzen und daß wir mit vollem Einsatz dagegen antreten, wenn sich in diesem Land wieder totalitäre und menschenverächterische Tendenzen zeigen.

Totalitarismus, meine Damen und Herren, den bekämpft man nicht, wenn er schon die Macht an sich gerissen hat; denn dann ist es für den einzelnen, für den kleinen Mann zu spät. Man bekämpft Totalitarismus, wenn er zum erstenmal sein Haupt erhebt, und schon dann mit aller Entschiedenheit.

In diesem Zusammenhang will ich gleich ein paar Worte zu den kriminellen Taten sagen, unter denen gegenwärtig die in Deutschland lebenden Ausländer zu leiden haben. Meine Damen und Herren, ich bin gern bereit, mich an Diskussionen darüber zu beteiligen, ob es nicht in der Ausländerpolitik Fehler und Versäumnisse gegeben hat und ob es nicht eine Perspektivlosigkeit gibt, unter der wenigstens die Jugendlichen unter den Tätern leiden, auch darüber, ob es mehr die Schulen und die Medien sind, die hier zuwenig entgegengewirkt haben, oder vielleicht nicht doch auch die Elternhäuser.

Aber das will ich auch hier mit aller Klarheit sagen - das werden Sie vielleicht einem früheren Innenminister nachsehen -: Hier sind auch Polizei und Strafgerichte gefordert. Wer es selbst nicht weiß, daß man lebendige Menschen nicht in Brand steckt, daß man sie nicht zusammenschlägt und daß man sie nicht durch Städte jagt, meine Damen und Herren, dem muß das eben auch mit den Machtmitteln des Rechtsstaates klargemacht werden.

Es ist üblich geworden, in diesem Zusammenhang unsere Mitbürger zur Zivilcourage aufzurufen, zur beherzten Nothilfe. Das will ich auch von dieser Stelle aus und in allem Ernst tun. Meine Damen und Herren, wir müssen alle wissen, daß es hier auch um unser Ansehen im Ausland geht, daß es aber vor allem darum geht, ob in Deutschland eine politische Atmosphäre erhalten bleibt, in der man gern und frei lebt, in der jeder von uns gern und frei lebt, und daß schließlich auch unser eigenes Schicksal, das Schicksal jedes deutschen Bürgers, zur Debatte steht. Denn die Verbrecher, von denen ich hier rede, werden, wenn erst einmal eine Atmosphäre der Gewalt entstanden ist, bei den Ausländern eben nicht haltmachen.

Heute sind die Ausländer dran, morgen dann wieder einmal die Juden, dann die Behinderten, die Katholiken und die Protestanten, die Gläubigen und die Ungläubigen - um nur einige Beispiele zu nennen. Ich will das nicht im einzelnen ausführen. Aber in diesen Fragen werden nicht nur unser Ansehen und die Atmosphäre, in der wir leben, es wird auch unser Lebensrecht gefährdet.

Das deutsche Volk lebt - bei allen Problemen und allen Ungerechtigkeiten, die ich keinen Augenblick übersehe - in Verhältnissen, wie sie im Weltmaßstab exzeptionell sind, und das gilt sowohl von der inneren Verfassung unseres demokratischen Rechtsstaates her als auch von dem Wohlstand dessen wir uns erfreuen.

Man braucht sich das nur vorzustellen: 200 Jahre - wenn überhaupt - von 6 000 Jahren Menschheitsgeschichte gibt es demokratische Rechtsstaaten. Schauen Sie sich den Globus an, schauen Sie sich an, wie groß der Anteil der demokratischen Rechtsstaaten im Verhältnis zur bewohnten Erdoberfläche ist! Viele von uns nehmen das als selbstverständlich. Aber, meine Damen und Herren, es ist nicht selbstverständlich. Ein Blick auf den Globus und auf die Geschichte zeigt, daß wir uns seit je in einer Ausnahmesituation befinden, die sich immer wieder aufs neue bewähren und vor allem verdient werden muß, und zwar nicht nur auf dem Feld der Wirtschaft und der Technik, sondern - damit auch das gleich gesagt wird - auch auf den Feldern der Humanität und der sozialen Solidarität.

Ich kann in der Kürze der Zeit nicht im einzelnen darstellen, was das alles bedeuten könnte. Wieder müssen einige Hinweise genügen, und der wichtigste davon scheint mir zu sein, daß wir in sehr, sehr vielen Fragen einfach werden umdenken müssen, auch wenn unsere bisherigen Lösungen noch so erfolgreich gewesen sein mögen.

Das beginnt schon in unserem Verhältnis zu Wirtschaft und Technik. Wir werden es uns auf die Dauer nicht leisten können, mit beidem so umzugehen, wie wir es bisher getan haben. Weder haben wir Anlaß, die beiden Bereiche so absolut zu setzen, wie es im Überschwang vergangener Wohlstandsepochen mitunter der Fall war, noch können wir es uns auf die Dauer leisten, auf jene Kuh einzuprügeln, von deren Milch wir leben. Wir werden einfach ein realistischeres Verhältnis zu Wirtschaft und Technik entwickeln müssen, als es sich bisher im Hin und Her zwischen Technologiebegeisterung und Zivilisationskritik gezeigt hat.

Dann werden wir auch unsere jungen Leute wieder zu Leistung und zu Lust an der Leistung bringen. Denn diese jungen Menschen spüren zutiefst, daß hier Fragen bestehen, auf die es bisher nur widersprüchliche und vor allem auf allen Seiten festgefräste Antworten gibt. Diese junge Generation ist zu Realismus und Leistung bereit, wenn man ihr einerseits die Chance des Erfolgs nicht wegdiskutiert und wenn man ihr andererseits die Möglichkeit läßt, die fortschreitende und fast unvermeidliche Technisierung mit ihren selbstverständlichen Humanitätsbedürfnissen halbwegs in Einklang zu bringen. Ich wiederhole: Das verlangt Umdenken in vielen Bereichen. Aber die Jungen, so wie ich sie kennen, sind dazu bereit. Und - ich sage das mit allem Ernst, nicht um eines Gags willen - sie werden uns Ältere vor der Zeit ablösen, wenn wir uns weiterhin in Situationsanalysen erschöpfen.

Eine so hochentwickelte technische Zivilisation behält ihr Lebensrecht aber auf die Dauer nur, wenn sie Raum für Humanität läßt, ja wenn sie diesen Raum recht eigentlich schafft.

Technischer Fortschritt darf, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht dazu führen, daß andere, weniger entwickelte Wirtschaften dadurch völlig aus der Bahn geworfen werden. Sie müssen umgekehrt in einem System vernünftiger internationaler Arbeitsteilung weiter leben können.

Technischer Fortschritt darf nicht zur weiteren Vernichtung der Umwelt führen, sondern er muß Schritt für Schritt - und zwar in kräftigen Schritten - zum pfleglichen Umgang mit der Natur, zu ihrer Wiederherstellung verwendet werden. Technischer Fortschritt muß uns gewiß im Weltmaßstab konkurrenzfähig erhalten, aber er darf nicht zugleich im eigenen Land zur Verdrängung des Menschen aus dem Produktionsprozeß führen. Ich halte das für eines der bedrängendsten Probleme der nächsten Zukunft, und da ich oft genug darüber öffentlich gesprochen habe, will ich mich auch hier auf das Nötigste beschränken.

Es ist eine Tatsache, daß sich der Arbeitsmarkt in letzter Zeit zumindest teilweise von der konjunkturellen Entwicklung abzukoppeln beginnt. Die Prognosen sagen es ja auch deutlich, daß im Augenblick zwar die Konjunktur wieder anspringt, daß das aber nicht ohne weiteres zu einem Schwinden der Arbeitslosigkeit führen wird.

Man kann das nicht einfach als Sachverhalt abtun, selbst wenn das soziale Netz Arbeitslose nach wie vor auffängt. Aber Arbeit ist mehr als eine Geldquelle. Sie ist zugleich eine Quelle von Selbstwertgefühl, von Sozialprestige, von innerer Zufriedenheit. Wenn das einer relevanten Anzahl von Menschen auf längere Dauer oder gar für immer vorenthalten wird, wird eine solche Gesellschaft ganz einfach inhuman.

Aus der Lektüre Hunderter von Verfassungsbeschwerden in den letzten Jahren weiß ich, daß auch das noch nicht alles ist. Je komplizierter unser Leben, unsere Wirtschaft, aber auch unsere Rechtsordnung und unser soziales System geworden sind, desto mehr Menschen gibt es auch, die damit ganz einfach nicht mehr fertig werden, die sich darin nicht mehr zurechtfinden.

Ich habe heute kein Patentrezept dafür anzubieten. Aber auch diese Form der Unbehaustheit kann kein Dauerzustand in unserer Gesellschaft sein. Damit möchte ich mich nicht abfinden, gleichgültig wie sie sich äußert: als Obdachlosigkeit, als Stadtstreichertum, als Drogenabhängigkeit, als allgemeine Antriebslosigkeit oder was sonst.

Damit keine Mißverständnisse auftreten, will ich hinzufügen: Ich bin natürlich weit davon entfernt, diese Unbehaustheit als den alleinigen oder auch nur als den Hauptgrund von Obdachlosigkeit und Drogenkonsum anzusehen. Einen Zugang zu diesen Problemen gibt es aber auch von hier aus.

Diese selbstverständliche soziale Verpflichtung gilt auch im Verhältnis zwischen den Volkswirtschaften. Sowenig ein Rechtsstaat eine rein machiavellistische Außenpolitik treiben kann, sowenig kann sich eine soziale Marktwirtschaft nach außen benehmen, als ob wir noch im Zeitalter des Manchester-Liberalismus lebten.

Es ist gewiß eine Utopie, wenn ich hier das Bild einer sozialen Weltwirtschaft an die Wand male. Aber ich glaube, solche Idealvorstellungen braucht der Mensch, gerade wenn er weiß, daß sie zu seinen Lebzeiten nicht zu erreichen sind. Deshalb habe ich vorher an die Notwendigkeit einer humaneren internationalen Arbeitsteilung erinnert, und deshalb will ich hier - kurz, aber doch in aller Eindringlichkeit - auf die Notwendigkeit einer entschiedenen Entwicklungshilfepolitik hinweisen.

Die internationale Solidarität, an die ich erinnere, beginnt übrigens auch hier im Inneren unseres Landes: bei den Ausländern, die mit uns und unter uns leben. Das Amt, das ich heute angetreten habe, verbietet es mir, hier in die Details zu gehen, zumal ich aus eigener jüngster Erfahrung weiß, daß jede Silbe, die man nicht nach allen Seiten absichert, zu den größten publizistischen Katastrophen führen kann.

Deshalb will ich hier auch nur an das Grundsätzliche erinnern, und das beginnt schon bei der Klarheit der Vorstellungen und Begriffe. Wie sollen wir eigentlich über Deutschland als Einwanderungsland und wie über eine multikulturelle Gesellschaft reden und entscheiden, wenn sich jeder etwas anderes darunter vorstellt?

Wie sollen wir über eine geregelte Einwanderung diskutieren, wenn nicht klar ist, ob wir sie jetzt eigentlich aus humanitären Gründen wollen oder nur zur Korrektur unserer eigenen demographischen Kalamitäten? Ich sage es so ungeniert: Hier bringt uns nur eine faire, offene Diskussion weiter, und um die sollten wir uns nicht länger mit Schlagworten herumdrücken.

Über zwei Eckpunkte müßte aber in jedem Falle Einigkeit bestehen: Die ausländischen Arbeiter, die wir selbst geholt und die unsere Wirtschaft mit vorangebracht haben, müssen ihr Gastrecht behalten können; das gehört in die ganz primitive Kategorie der menschlichen Dankbarkeit, um nicht zu sagen der Kollegialität. Und die Angehörigen der zweiten und dritten Ausländergeneration, die in Deutschland zu Hause sind, müssen hier Heimatrecht haben, wie immer das dann rechtlich ausgestaltet werden mag. Dazu werden Sie von mir keine weitere Silbe mehr hören. Meine Damen und Herren, wir haben als Deutsche gerade das Heimratrecht zu beharrlich betont, als daß wir es ihnen gegenüber in Abrede stellen dürften.

Lassen Sie mich nun noch ein paar Worte zur inneren Einheit zwischen den Deutschen sagen. Die staatliche Einheit ist erreicht; unter uns aber ist seit einiger Zeit weniger vom Glück dieser Einheit die Rede als von den Problemen und den Kosten des Zusammenwachsens.

Ich kann es gut verstehen, wenn die Stimmung in den sogenannten neuen Bundesländern mitunter gedrückt ist. Die meisten Menschen dort erleben Erfolg und Scheitern in einem. Sie erfahren nie geahnte Möglichkeiten und zugleich den Verlust bisheriger Berechenbarkeiten.

Wenn man es nicht am eigenen Leibe erlebt, kann man wahrscheinlich gar nicht ermessen, was es heißt, wenn von heute auf morgen ein ganzes Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtssystem ausgewechselt wird, was es heißt, sich auf ganz neue Methoden der sozialen Sicherung einstellen zu müssen, und was es heißt, über Nacht eine völlige Veränderung der Lebensperspektiven, den Verlust eines sicher geglaubten Arbeitsplatzes, den Verlust erworbener Qualifikationen und Ansprüche, das Wertloswerden von Erfahrungs- und Orientierungswissen verkraften zu müssen.

Ich kann das alles, wie gesagt, nur ahnen. Aber gerade deshalb bewundere ich die Umstellungsleistungen, die dort immer noch erbracht werden, Tag für Tag. Deshalb sage ich den Menschen in den alten Ländern: Machen Sie sich klar, wie privilegiert Sie 40 Jahre lang waren und wie privilegiert Sie heute noch sind, trotz aller Kosten und Opfer des Wiederaufbaus in den neuen Bundesländern!

Und dann das ganz andere, was ich überhaupt nicht verstehe: Unter uns Deutschen macht sich Erstaunen breit, daß wir auch geistige und mentalitätsmäßige Unterschiede feststellen. Dieses Erstaunen zeigt, wie wenig wir in den letzten Jahrzehnten wirklich voneinander gewußt haben und wie weit wir uns voneinander entfernt haben. Das böse Wort von der "Mauer in den Köpfen" geht um.

Aber haben wir denn im Ernst annehmen können, wir wären nach 40 Jahren der Trennung, der unterbundenen oder zumindest sehr erschwerten Information, der unterschiedlichen Lebenserfahrungen und dazu noch nach zweimaligem Generationswechsel sowohl westlich als auch östlich der Mauer wirklich noch dieselben - wohlgemerkt, dieselben, von denen uns unsere Großeltern erzählt haben? Das kann doch nicht sein, und es ist auch nicht so. Aber, meine Damen und Herren, damit muß sich doch fertig werden lassen, zumindest dann, wenn man nichts Unmögliches verlangt. Hinter dem Wort von der "Mauer in den Köpfen" steckt die Idee des Einheitsdeutschen, und das ist etwas in jedem Sinne des Wortes Unmögliches.

Es trifft zu: Deutschland ist am 3. Oktober 1990 nicht nur größer und bevölkerungsreicher geworden, es ist auch bunter, widersprüchlicher und sogar konfliktreicher geworden. Aber ist das eigentlich ein Schaden?

Uniformität ist noch nie das Wesensmerkmal unseres Landes gewesen, so gern das manche Stromlinienförmigen unter uns gehabt hätten. Unser Reichtum waren immer Vielfalt und Vielgestaltigkeit. Daraus ist unsere Kultur und wahrscheinlich auch unsere Kreativität entstanden. Da kann es doch nur von Nutzen sein, daß beide Teile unseres Volkes jetzt mit ganz neuen, ihnen bisher fremden Ideen und Erfahrungen konfrontiert werden. Was neu hinzugekommen ist - im Westen wie im Osten -, ist zwar vielleicht mühsam, aber es regt an, es muß anspornen, und es kann uns ohne weiteres zum Segen werden, wenn wir es nur zu nutzen verstehen.

Ich spreche jetzt nicht nur von den beruflichen Fähigkeiten der Ostdeutschen, von ihren Sprachkenntnissen und ihren Beziehungen zu Osteuropa, die wir eines Tages noch bitter nötig haben werden, sondern ich spreche vor allem von ihrer politischen Leistung, die heute hinter einer Wolke von Irritationen zu verschwinden droht: von der Wiedererlangung der deutschen Einheit in Freiheit. Denn diese Freiheit, die Freiheit von 1989, ist durch das Volk selbst erkämpft worden. Die Westdeutschen haben beim Aufbau ihrer Demokratie bestimmt viel geleistet, aber viele haben es zunächst auf Grund einer totalen Niederlage und unter dem Drängen der Siegermächte getan. Die Ostdeutschen dagegen haben ihre Demokratie selbst erkämpft.

Ich finde - und ich sage dies auch auf die Gefahr hin, daß ich Protestschreiben aus Frankfurt und Neustadt an der Weinstraße bekomme -: Das ist mehr als Hambacher Fest und Paulskirche zusammen; denn sie sind, so bedauerlich das ist, letzten Endes gescheitert. 1989 ist gelungen. Darauf kann man doch stolz sein. "Stolz" ist ein Wort, das ich ganz ungern in den Mund nehme, das hier aber wirklich einmal berechtigt ist.

Und das wird, wenn ich recht sehe, weder im Westen noch im Osten bisher ausreichend gewürdigt. Deshalb sage ich den Mitbürgern in den neuen Ländern: Bringen Sie Ihre Freiheitserfahrungen in den politischen Prozeß mit ein! Gestalten Sie Ihre Länder, Ihre Gemeinden nach diesen Erfahrungen, und geben Sie damit auch ein Beispiel für den Westen! Sie wissen doch am besten, wie schwer es ist, ohne Freiheit zu leben. Vergessen Sie das nicht, auch nicht unter den Belastungen, die diese Freiheit jetzt mitunter mit sich bringt! Vielleicht springt davon sogar etwas auf die kleinmütigen Westdeutschen über.

Die Westdeutschen aber frage ich noch einmal, ob sie sich wirklich darüber klar sind, wie privilegiert sie 40 Jahre lang waren, und ich frage sie weiter, wie willkommen ihnen die Menschen in den neuen Ländern nun eigentlich wirklich sind. Können Sie ins Haupthaus ziehen, oder sollen sie in einem Anbau Ost wohnen bleiben? Wird akzeptiert, daß sie nach ihren eigenen Erfahrungen und Überzeugungen leben und mitbestimmen wollen, oder dürfen sie vielleicht nur mitspielen, wenn sie sich an die Spielregeln des Westens halten? Meine Damen und Herren, die Antwort auf diese künstlich gestellten Fragen kann doch nicht eigentlich problematisch sein. Aber dann ziehen wir doch auch die Konsequenzen daraus, so unbequem sie mitunter sein mögen!

Die Deutschen haben es mit ihrer Einheit nie leicht gehabt. Oft wurde diese Einheit nicht erreicht, weil die Opfer dafür zu groß waren oder doch wenigstens als zu groß empfunden wurden. Oft war es genau umgekehrt: Der äußere Nutzen der Einheit war groß und begann die Geister zu blenden. Zwischen Scylla und Charybdis hat sich folglich das deutsche Schicksal vollzogen.

Heute stehen wir wieder einmal an einer solchen Wegmarke. Wir haben keinen Grund, die Schwierigkeiten, die noch vor uns liegen, gering einzuschätzen. Aber wir haben auch keinen Grund, uns von ihnen überwältigen zu lassen. Unsere Großeltern und Eltern haben ganz andere Probleme bewältigt, meine Damen und Herren. Sorgen wir dafür, daß auch wir das zustande bringen! Wir haben alle Möglichkeiten. Es liegt an uns, was wir aus dem Geschenk des Jahres 1989 machen.