Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog bei einem Festakt aus Anlaß des Tages der Deutschen Einheit im Congress-Centrum Bremen

Schwerpunktthema: Rede

Bremen, , 3. Oktober 1994

Zum vierten Mal begehen wir den Tag der Deutschen Einheit. Gemessen an vierzig Jahren der Teilung sind vier Jahre der Einheit nur wenig. Und doch gibt es bereits eine Geschichte des vereinten Deutschlands.

Zunächst war und bleibt es die Geschichte eines unerhörten Glücksfalls. Die Wiedervereinigung war ein Geschenk analleDeutschen, und auf die Bürgerbewegung, die die Freiheit im Osten unseres Landes erkämpfte, können wir auchallestolz sein.

Aber da gibt es auch die Geschichte einer übergroßen Erwartung, die sich inzwischen stellenweise in Enttäuschung gewandelt hat.

Ich kann das gut verstehen: Der Zusammenbruch aller gewohnten Strukturen in Ostdeutschland hat viele Menschen verunsichert und hat ihnen enorme Umstellungsleistungen abverlangt. Davor sollte niemand die Augen verschließen, und wir sollten alle dankbar anerkennen, daß viele Menschen diese Umstellungsleistungen unter großen persönlichen Opfern erbracht haben und täglich noch erbringen. Und im Westen gibt es ebenfalls Enttäuschungen: Vielen geht der Aufschwung im Osten zu langsam, und die 150 Milliarden, die alljährlich in den Aufbau der neuen Länder fließen, fehlen ja schließlich in den Kassen des Bundes, der Länder, der Kommunen und nicht zuletzt der privaten Haushalte.

Wie haben wir mit dieser Enttäuschung umzugehen?

Hier reicht es nicht aus, immer wieder die alten, falschen Fragen zu wiederholen - ob die DDR nicht doch reformfähig gewesen wäre, ob es richtig war, die Währungsunion so rasch durchzuführen, ob das Wirtschaftssystem des Westens humaner oder weniger human ist als das der DDR, ob ein langsamerer, schonenderer Weg in die Einheit - ohne Aufrechterhaltung der Mauer - möglich gewesen wäre.

Darüber mögen eines Tages die Historiker streiten, und ich verstehe natürlich auch, daß in den Wahlkämpfen dieses Superwahljahrs mitunter darüber gestritten wird.

Aber die Fragen, um die es jetzt wirklich geht, lauten ganz anders.

Das erste, worum es unvermindert zu gehen hat, ist der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern. Hier ist vieles geschafft worden und vieles ist auf gutem Wege; das haben mir meine zahlreichen Besuche im Osten Deutschlands deutlich vor Augen geführt, wenn auch die Hauptsorge, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, mit der Wiederbelebung der ostdeutschen Wirtschaft alleine nicht zu schaffen sein wird. Aber es ist das eine, eine solche Entwicklung, die noch "unterwegs" ist und gerade die ersten Früchte zeigt, von oben her zu betrachten und für gut zu befinden, und es ist etwas ganz anderes, in ihr "darinzustecken", ja sich ihr ausgeliefert zu fühlen und das Licht am Ende des Tunnels, von dem die Sachverständigen sprechen, selbst eben doch noch nicht zu sehen. Da ist auf beiden Seiten, im Osten wie im Westen, viel Geduld und viel Einsicht vonnöten, und nicht jeder bringt diese Geduld auf. Das ist der Grund für manche Irritationen der letzten Monate, bis in die Wahlergebnisse und in die Wahlbeteiligung hinein. Aber mit dem Erfolg werden auch diese Irritationen geringer werden und eines Tages vielleicht ganz verschwinden.

Und übrigens - das möchte ich mit Nachdruck sagen: Mit Wahlenthaltung ist hier überhaupt nichts zu gewinnen; sie stärkt nur die radikalen Flügelparteien, deren Anhänger in jedem Fall zur Wahlurne gehen.

Ostdeutschland ist heute schon ein Laboratorium des Neuen. Hier werden neue Formen von Eigentum und Management entwickelt, z.B. das management buy-out, die Gründung von regionalen Investitionsfonds, das Engagement von Risikokapital in Formen, die es im Westen eigentlich längst geben müßte. Hier wird das modernste Telekommunikationsnetz der Welt verlegt. Hier werden neue Verkehrssysteme getestet. In absehbarer Zeit wird im Osten vieles moderner und wettbewerbsfähiger sein als im Westen Deutschlands - und auch im Westen Europas. Das ist ein gutes Pfund, in der Zukunft damit zu wuchern.

Wir werden dieses Pfund auch gut gebrauchen können. Denn die Welt, in die uns die Jahrhundertwende stellt und in der unsere Kinder werden leben müssen, ist in einem Wandel begriffen, wie ihn wohl noch keine Generation vor uns erlebt hat. Ich erinnere nur an die sich weltweit herausbildende Abhängigkeit jedes Staates von jedem anderen, jeder Wirtschaft von jeder anderen, ich erinnere an die Leerräume, die der Zusammenbruch alter Ideologien mit sich gebracht hat, und an den Verlust scheinbarer Sicherheit, die viele Menschen daraus hergeleitet haben, ich erinnere an das Entstehen neuer, in ihrer Wirkungskraft noch gar nicht abschätzbarer Ideologien, an das Wiedererwachen von Nationalismen vor unserer Tür, an die Gefahren, die von manchen modernen Technologien auf die Arbeitsmärkte überstrahlen, und an vieles andere, was man hier noch anführen könnte.

Solche Zeiten haben die Menschen immer am besten bewältigt, wenn sie zwei Eigenschaften zeigten: erstens Flexibilität und zweitens Mut.

Ohne Flexibilität gelingt es keiner Gesellschaft, sich auf den dauernden Wandel in ihrer Umgebung rechtzeitig und mit Aussicht auf Erfolg einzustellen. In einem freiheitlichen Gesellschaftssystem ist das zunächst einmal ein Anruf an Wirtschaft und Technik; aber darüber will ich heute nicht reden und das ist auch nicht das einzige, worauf es ankommt. Gefordert sind auch die öffentlichen Verwaltungen und vor allem die Gesetzgeber. Natürlich müssen Recht und Verwaltung Übergriffe der Stärkeren auf die Schwächeren verhindern und natürlich haben sie auch die Würde von Mensch und Natur zu wahren. Aber sie sind nicht dazu da, Verkrustungen zu bewahren und Visionen totzuschlagen. Nur wenn Wirtschaft, Verwaltung und Recht so flexibel, so innovativ und so kreativ werden, wie es die Zukunft verlangt, wird unser Land den Wettbewerb mit anderen bestehen und nur dann werden wir den hohen Standard unseres Wohlstandes - auch unseres sozialen Wohlstandes - verteidigen können.

Das ist ein Thema allerersten Ranges, das wir noch längst nicht im Griff haben. Niemand will gern auf seine Besitzstände verzichten, auch nicht auf liebgewordene Denkschablonen. Aber allzu defensives Besitzstandsdenken muß wieder der offensiven Wahrnehmung sich bietender Chancen weichen. Das war das Geheimnis des westdeutschen Wirtschaftswunders nach dem Krieg, und das wird auch der Schlüssel zur Erneuerung Deutschlands nach seiner Vereinigung sein.

Und damit bin ich beim zweiten Erfordernis: beim Mut. Denn Chancen ohne Risiken gibt es im menschlichen Leben nicht, und um sich Risiken zu stellen, bedarf es eines erheblichen Mutes und eines gesunden Selbstvertrauens. Man kann das nicht predigen und ich selbst bin der letzte, der dazunurpredigen wollte. Aber wir brauchen in der Zeit, auf die wir zugehen, Mut so nötig wie die Luft zum Atmen, und wenn wir Älteren ihn nicht mehr aufbringen sollten, so hoffe ich wenigstens auf die jungen Menschen in unserem Land, für die es doch eigentlich eine - zwar harte aber doch auch faszinierende - Aufgabe sein müßte, sich den Problemen unserer Zeit zu stellen und mit ihnen schließlich fertig zu werden. Vielleicht ist die Mut- und Bewegungslosigkeit, die wir mitunter verspüren, ja sogar auch eine Folge unserer Alterspyramide?

Von den Aufgaben, die im internationalen Feld liegen, will ich heute nicht weiter sprechen. Unsere Verantwortung für das sich neu gruppierende Europa liegt auf der Hand. Nach Westen hin haben wir in vier Jahrzehnten bewiesen, daß wir diese Verantwortung sehen und daß wir sie ernst nehmen, und was wir über die anderen Teile Mitteleuropas wie über die Staaten Osteuropas denken, brauche ich hier nicht noch einmal zu wiederholen. Insofern ist ein Symbol aussagekräftiger: die Tatsache, daß Andrzej Szcypiorski heute unter uns ist und zu uns spricht.

Aber auch hier müssen wir alle im Grundsätzlichen umdenken: So wie innerstaatlich mehr Sozialprodukt nicht mehr automatisch mehr Arbeitsplätze und mehr Normen nicht mehr automatisch mehr Gerechtigkeit bedeuten, so wird auch der hergebrachte Nationalstaat nicht mehr allein zur Lösung aller Probleme ausreichen, und auf ähnliche Weise beginnt auch die jahrhundertealte Idee der Souveränität löchrig zu werden. Ein Staat, dem man eine Inflation oder Wolken voll saueren Regens einschleppen kann, ist ohnehin nicht mehr souverän im hergebrachten Sinne, und ein Europa ohne Souveränitätsverzichte wird nicht auf Dauer lebensfähig sein. Wir werden sehr viel Mut und Überzeugungskraft nach innen und außen, sehr viel Bereitschaft zum Risiko und zum Begehen neuer Wege brauchen, um daraus das Beste zu machen.

Was bleibt, ist die Frage, ob wir Deutschen selbst so einig sind, wie es notwendig ist, um unseren Aufgaben in der Welt gerecht zu werden.

Wer über dieses Thema spricht, von dem werden heute mehr Wehklagen als Aussagen erwartet. Aber daran will ich mich nicht beteiligen, zumal ich immer noch keinen gefunden habe, der mir erklären könnte, was "nationale Identität" eigentlich ist - "nationale Identität", die uns angeblich fehlt und die wir angeblich dringend benötigen.

Ich will das, was die beiden Teile des deutschen Volkes trennt, bei Gott nicht wegretuschieren. Vierzig Jahre der Trennung und des Lebens in ganz verschiedenen Gesellschaftssystemen haben natürlich Unterschiede im Denken entstehen lassen. Aber man darf diese auch nicht ewig überbewerten. Vielfalt war stets nicht die Schwäche, sondern die Stärke der Deutschen. Einen wirklichen deutschen Einheitsstaat hat es schließlich nur zwölf Jahre lang gegeben, und das war die schlimmste Zeit unserer ganzen Geschichte, sowohl für Deutschland wie für alle anderen Völker.

Fragen wir also weniger, was uns noch trennt, sondern vielmehr, was uns schon eint, und vor allem, wie wir unsere unterschiedlichen Lebenserfahrungen für die Zukunft nutzen können. Im Osten wie im Westen unseres Vaterlandes ist so viel an Wissen, Kraft und Erfahrung vorhanden, was uns nur nützen kann. Warum klagen wir dann eigentlich über die Verschiedenheiten, die wir zu diagnostizieren glauben?

Verschiedenheit des Denkens und der Erfahrung ist doch nicht Verschiedenwertigkeit. Verschieden mögen wir ja noch sein, abergleichberechtigtund vor allemgleichwertigsind wir trotzdem. Ich wiederhole hier bewußt, was ich beim Jubiläum der Reichsverfassung von 1919 in Weimar gesagt habe: Westdeutschland hat uns die erste erfolgreich erprobte demokratische Verfassung beschert. Ostdeutschland aber die erste erfolgreiche demokratische Revolution unserer Geschichte,und so ist es heute schon auf vielen Gebieten. Wir müssen nur die Augen aufmachen, um das zu sehen. Seit der Vereinigung wirken Ostdeutschland und Westdeutschland tagtäglich aufeinander ein, und wenn der westliche Einfluß im Osten zunächst auch eindeutig stärker war, so zeigt sich doch mehr und mehr, daß es hier keine Einbahnstraßen gibt.

Das funktioniert allerdings nur, wenn wir aufhören, uns gegenseitig vorzusagen, wie wir die Welt richtig zu sehen hätten und wie wir uns vor allem in der Vergangenheit richtig hätten verhalten sollen. Natürlich: wir wissen immer noch viel zu wenig voneinander, und ich bezweifle, daß es im Westen Deutschlands sehr viele Menschen gibt, die sich anmaßen dürften, Ostdeutschen vorzuhalten, wie sie sich in den bewußten vierzig Jahren richtig verhalten hätten; das kann eigentlich nur der, der diese Jahre am eigenen Leibe erlebt hat.

Also käme es doch eigentlich darauf an, daß wir mehr aufeinander hören, als daß wir uns belehren. Daß wir uns wechselseitig unsere Biographien erzählen, um daraus Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Daß wir uns austauschen und dabei unsere Einheit finden. Denn am Ende kann ein Volk - wie übrigens das ganze Europa - nicht mit zwei verschiedenen Geschichten leben, sondern es muß eine einheitliche, ehrliche und nach keiner Seite geschönte Geschichte daraus werden. Ich weiß, daß Wissenschaftler - wenn auch bei weitem nicht alle - längst daran arbeiten. Aber das ist nicht nur eine Sache der Spezialisten. Es ist eine Sache, die uns alle angeht. Warum tun wir es dann so selten?

Und schließlich ein Letztes: Wenn wir heute über die Schwierigkeiten der "inneren Einigung" klagen, so darf dabei nie vergessen werden, daß sie Spätfolgen der Teilung sind, daß diese Teilung Folge des letzten Krieges war und daß dieser Krieg von der ersten der beiden Diktaturen entfesselt wurde, die dieses Jahrhundert auf deutschem Boden gesehen hat.

In das vor uns liegende Jahr, das fünfte der Einheit, wird auch der 50. Jahrestag des Kriegsendes fallen. Er wird uns Gelegenheit geben, uns in der Verantwortung für die Geschichte zu einigen und für die Zukunft weiter zu lernen: Nie wieder Krieg von deutschem Boden. Nie wieder Gewalt, Unfreiheit und Verfolgung Andersdenkender - oder anders Aussehender - auf deutschem Boden.

Das ist die Devise, unter der wir beide angetreten sind und unter der wir beide leben wollen - die Westdeutschen und die Ostdeutschen.