Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zum 50. Jahrestag der Zerstörung von Dresden im Zweiten Weltkrieg

Schwerpunktthema: Rede

13. Februar 1995

In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 ist binnen weniger Stunden die Stadt Dresden durch Bomben vernichtet worden. Zehntausende Menschen kamen in den Feuerstürmen um. Unermeßlich war das Leid der Überlebenden. Unersetzliche Werte europäischer Kultur gingen unwiederbringlich verloren - Werte, die auch ein Stück Seele der Menschen waren.

Wenn wir uns heute - wie oft zuvor - dieses Geschehens erinnern, so verlangt das vorab eine Klarstellung. Niemandem hier im Raum geht es um Anklage, niemandem geht es um das Einfordern von Reue und Selbstbezichtigung. Niemandem geht es um Aufrechnung mit den Untaten Deutscher im NS-Staat. Wenn das beabsichtigt wäre, hätte die Dresdener Bevölkerung unsere britischen und amerikanischen Gäste nicht so warmherzig aufgenommen, wie wir das einmal mehr in dieser Stunde erleben.

Uns geht es zunächst um die Trauer - um die Totenklage, die doch ein Teil ältester menschlicher Kultur ist. Wenn wir alljährlich am Volkstrauertag der Opfer von Krieg und Willkürherrschaft gedenken, so tun wir das mit den folgenden Worten, die ich nochmals in Ihr Gedächtnis rufen will:

"Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten.

Wir trauern mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen um die Toten."

Genau das ist der Geist, aus dem heraus wir auch um die deutschen Opfer unserer Geschichte trauern, um die zahllosen Menschen, die ihr Leben oder ihre Gesundheit im Krieg und in Lagern, auf der Flucht, in Vertreibung und Verschleppung, in Häusern und auf Straßen, in Gräben und Kellern verloren haben. Man kann Geschichte nicht überwinden, man kann weder Ruhe noch Versöhnung finden, wenn man sich nicht der ganzen Geschichte stellt.

Und wir verwahren uns dagegen, daß irgend jemand unsere Trauer so auslegt, als wollten wir die Verbrechen, die Deutsche an den Menschen anderer Völker - aber auch an ihren eigenen Mitbürgern - begangen haben, gegen die eigenen Kriegs- und Vertreibungsopfer aufrechnen. Wer - wie die Deutschen von heute - den Teufelskreis von Unrecht und Gewalt, von Krieg und Unmenschlichkeit brechen will, wer Frieden, Freundschaft und Versöhnung zwischen den Völkern sucht, der kann nicht einfach zwischen den Toten, Verwundeten und ins Unglück Gestürzten der verschiedenen Völker einen buchhalterischen Saldo ziehen. Leben kann man nicht gegen Leben aufrechnen, Schmerz nicht gegen Schmerz, Todesangst nicht gegen Todesangst, Vertreibung nicht gegen Vertreibung, Grauen nicht gegen Grauen, Entwürdigung nicht gegen Entwürdigung. Menschliches Leid kann nicht saldiert werden. Es muß gemeinsam überwunden werden, durch Mitleid, Besinnung und Lernen.

Diese Mahnung richte ich auch an die Historiker und die historischen Laien, die sich noch heute um die Zahl der Opfer auf allen Seiten, vor allem aber um die Opfer des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft streiten. Man hat diese Rechenspiele zu recht als die "Ziffernsprache des Ungeheuerlichen" bezeichnet. Diese Sprache führt nicht einen Schritt weiter und sie entspricht auch nicht dem Denken der heutigen Deutschen in ihrer ganz großen Mehrheit. Die Verwurzelung der Demokratie in unserem Lande und unsere Beteiligung am europäischen Einigungswerk sind die richtigen Konsequenzen aus unserer Geschichte. Wir sind imstande, dem ins Auge zu sehen, was war. Deshalb versuchen wir nicht, eigene Lasten durch Vergleiche mit anderen zu verkleinern. Um unsere Geschichte geht es uns, nicht um die der anderen. Aus der eigenen Geschichte lernt man immer noch am besten.

Ich will um der Wahrheit willen noch ein weiteres hinzufügen. Es gibt keinen Sinn, darüber zu richten, ob der Bombenkrieg, an dessen Unmenschlichkeit ohnehin niemand zweifelt, im juristischen Sinne rechtmäßig war oder nicht. Was bringt uns das - angesichts des Abstands von fünfzig Jahren und angesichts der bitteren Erkenntnis, daß die Völkerrechtsordnung auch heute noch weithin machtlos ist gegenüber Krieg und Massenmord?

Wer heute die Konsequenzen aus den Erfahrungen jener Zeit ziehen will, auch wer die Wunden von damals heilen helfen will, dem stellt sich doch eine ganz andere Frage. Die Frage nämlich, ob wir aus der Vergangenheit genug gelernt haben und ob wir alles tun, um die Wiederkehr des Schreckens - in welcher Form auch immer - zu verhindern. Das geht jeden einzelnen von uns an, in allen Generationen und in allen Völkern. Das sage ich gerade auch unserer Jugend, auf die es heute mehr ankommt als auf uns Ältere, die wir doch alle noch die Narben des Krieges und der NS-Zeit an uns tragen. Und das ist die Botschaft, die auch von Dresden aus in alle Welt gehen muß!

Es gibt keinen Ort in Deutschland, von dem diese Botschaft besser ausgehen könnte, als diese Stadt Dresden. Ich sage das, weil ich die Geschichte der Lichterprozession ernst nehme, die sich hier seit vielen Jahren am 13. Februar von der Kreuzkirche zu den Ruinen der Frauenkirche bewegt. Die Bürger Dresdens haben mit dieser Prozession zunächst ja bewußt Versuchen des SED-Regimes widerstanden, die darauf hinausliefen, aus dem Gedenken an den 13. Februar 1945 ein anti-britisches, ein anti-amerikanisches, ja ein anti-westliches Fanal zu machen. Sie haben mit den Mitteln, die ihnen seinerzeit zur Verfügung standen, dagegen Protest eingelegt und den richtigen Weg aufgezeigt: vom Gedenken und von der Trauer nicht zu Haß und Rache, sondern zu Frieden und Verständigung zu kommen. Sie haben gezeigt, daß sie - aus sich heraus - imstande waren, mit den Schatten der Vergangenheit so fertig zu werden, daß damit das Tor zu einer besseren Zukunft geöffnet wird.

Sie wissen es vielleicht: Ich sage gelegentlich - und ich sage es mit voller Überzeugung -, daß die rechtsstaatliche und friedliche Demokratie der Deutschen nicht nur auf der geduldigen Aufbauarbeit und Lernbereitschaft der Westdeutschen beruht, sondern ebenso auf der unblutigen Revolution, mit der die Ostdeutschen im Jahre 1989 etwas in der deutschen Geschichte noch nicht Dagewesenes erkämpft haben. Hier in Dresden füge ich hinzu: Die Freundschaft und das Vertrauen, das die westdeutsche Politik in vier Jahrzehnten im Verhältnis zu den ehemaligen Kriegsgegnern gewonnen hat und das diese uns heute auch entgegenbringen, haben ihre Entsprechung in jener würdigen Art gefunden, in der die Bürger Dresdens und vieler anderer ostdeutscher Städte seit langem Gedenktage wie den heutigen begehen. Auch hier stehen wir Deutschen also auf zwei Beinen.

Trauer, Erinnerung und Gedenken ja, aber als Folgerung daraus nicht Anklage und Aufrechnung, sondern Verständigung und - vor allem - Mahnung für alle Zukunft! Auch hier sind sich die Deutschen in West und Ost viel näher, als manche von uns wahrhaben wollen! Was das Verhältnis zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges betrifft, haben sich die Bürger in Ost- und Westdeutschland, je nach ihren verschiedenen politischen Möglichkeiten, zwar in der Form höchst unterschiedlich geäußert, aber sie haben es im gleichen Geist und im gleichen Wollen getan. Das ist eine gute Grundlage für die Zukunft, auch für unsere künftige Außen- und Bündnispolitik.

Gemeinsam haben wir uns auf den Weg begeben, der Frieden und Verständigung heißt. Gemeinsam wollen wir die Wunden schließen helfen, die noch immer nicht vernarbt sind. Gemeinsam wollen wir uns der Vergangenheit stellen, dort wo Deutsche die Täter waren, aber auch wo Deutsche zu Opfern wurden. Und gemeinsam müssen wir dafür kämpfen, daß sich Krieg und Totalitarismus, Gewaltherrschaft und Verlust von Heimat nie mehr wiederholen.

Dresden ist - vor allem anderen - ein Fanal gegen den Krieg. Gewiß, der Zweite Weltkrieg hat Millionen und Abermillionen von Opfern gefordert, in allen Völkern und ganz besonders in der früheren Sowjetunion und in Polen. Dresden ist also nicht das flammendste Beispiel, wenn es darum geht, die Scheußlichkeit moderner Kriege darzustellen - und wir wollen auch nicht vergessen, daß es im Rahmen eines Krieges zerstört wurde, den eine deutsche Regierung vom Zaun gebrochen hatte. Gerade deshalb zeigt Dresden aber auch die ganze Sinnlosigkeit moderner Kriege.

Betrachtet man die Geschichte nur nach Staaten und Nationen, so ist die Rechnung einfach: Die Deutschen haben den Krieg begonnen, und es hat sie dafür die gerechte Strafe ereilt. Aber das Muster ist zu grobmaschig. Erst wenn man sich vorstellt, wer alles unter den Bombenopfern von Dresden gewesen sein muß, wird die menschliche Tragödie moderner Kriegführung handgreiflich. Da waren in der Wolle gefärbte Nazis und Gestapoleute, die Deportationslisten für Juden zusammenstellten. Da waren Juden, die auf diesen Listen standen. Da waren nicht nur Menschen, die bei Kriegsausbruch lauthals gejubelt hatten, sondern auch solche, die in Tränen ausgebrochen waren und die nur deshalb nichts tun konnten, weil sie 1933, am Anfang, nicht widerstanden oder nicht genug Unterstützung für Widerstand gefunden hatten. Es waren schweigende Feinde des NS-Regimes, es waren Mitläufer und Wegschauer dabei. Es waren Widerstandskämpfer dabei, die im Untergrund Flugblätter gegen den Wahnsinn verbreiteten oder dafür schon im Gefängnis saßen. Es waren Flüchtlinge in Dresden, die ihre Heimat schon verloren hatten, und junge Menschen, die man aus Polen, Rußland, der Ukraine und vielen anderen Ländern zur Zwangsarbeit in Deutschland gepreßt hatte.

Auch hier ist jeder Versuch der Abwägung und Aufrechnung sinnwidrig. Es gibt kein menschliches Hirn, das einen solchen Sachverhalt moralisch auch nur entfernt aufarbeiten könnte. Hier zeigt sich - wieder einmal - die ganze Gefährlichkeit des Denkens in Kollektiven, das damals Menschen verblendete und auf das wir uns nie wieder einlassen dürfen.

Nur soviel steht fest: Es ist der Krieg als solcher, dem wir widerstehen müssen, den wir hassen müssen wie die Pest. Vor allem der moderne Krieg, in dem es weder Front noch Heimat gibt. Ihn gilt es mit allen Mitteln zu bekämpfen, nicht nur durch Pakte und Bündnisse, sondern zunächst einmal dadurch, daß die Völker lernen, friedlich und vertrauensvoll miteinander zu leben.

Das haben viele europäische Völker in den vergangenen Jahrzehnten gelernt. Und wenn es dafür - über die Politik dieser Jahrzehnte hinaus - Zeichen gibt, so erleben wir sie in diesen Tagen. Wie wäre es sonst möglich, daß die Kriegsgegner der Vergangenheit den Jahrestag des Kriegsendes in diesem Jahr gemeinsam begehen wollen, indem sie gemeinsam die Zukunft bedenken? Und wie wäre es sonst möglich, daß heute unsere britischen und amerikanischen Freunde unter uns sind, an ihrer Spitze Seine Königliche Hoheit, der Herzog von Kent und der Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika?

Sie und ihre Delegationen heißen wir mit besonderer Freude willkommen, nicht als Vertreter der Gegner von einst, sondern als Vertreter der Freunde von heute. Nichts drückt diesen Wandel besser aus als die amerikanische Institution "Friends of Dresden" und der britische "Dresden Trust", deren Spenden uns beim Wiederaufbau der Frauenkirche helfen werden.

Wenn dieses Symbol des zerstörten Dresden in einem wiedererstandenen Dresden leuchten wird, so wird es ein Turmkreuz tragen, das wir britischen Spenden verdanken werden. Das wird ein Symbol sein, stärker als es Worte auszudrücken vermögen.

Dieses Turmkreuz, das hoch über der Stadt stehen wird, wird uns auf ewig daran erinnern, daß wir, ein halbes Jahrhundert nach der Zerstörung, zueinander gefunden haben. Das Zueinanderfinden, einander vertrauen, die böse Vergangenheit gemeinsam überwinden. Das ist der richtige Weg. Wir Deutschen werden alles dazu tun, ihn auch in Zukunft zu gehen. Geduldig und beharrlich.