Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog beim Staatsakt aus Anlaß des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 8. Mai 1995

Herr Präsident der Französischen Republik,
Herr Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika,
Herr Premierminister des Vereinigten Königreichs,
Herr Ministerpräsident der Russischen Föderation,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle zu dieser Stunde des Gedenkens aufs herzlichste. Mein besonderer Gruß gilt den Staats- und Regierungschefs der vier Mächte, die viereinhalb Jahrzehnte lang Mitverantwortung für Gesamtdeutschland getragen und in einer entscheidenden historischen Stunde den Weg zur Wiedervereinigung unseres Landes geöffnet haben. Seien Sie herzlich willkommen.

Gestern und heute vor fünfzig Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende.

Man muß diese Tage selbst erlebt haben, um halbwegs zu begreifen, was damals geschehen ist.

Deutschland hatte den furchtbarsten Krieg entfesselt, den es bis dahin gegeben hatte, und es erlebte nun die furchtbarste Niederlage, die man sich vorstellen konnte. Europa war ein Trümmerfeld, vom Atlantik bis zum Ural und vom Polarkreis bis zur Mittelmeerküste. Millionen aus allen europäischen Völkern, auch aus dem deutschen, waren tot, gefallen, in Bombenangriffen zerfetzt, in Lagern verhungert, auf den Straßen der Flucht erfroren, und andere Millionen - vor allem Juden, Roma und Sinti, Polen und Russen, Tschechen und Slowaken, - waren den größten Vernichtungsaktionen zum Opfer gefallen, die menschliche Hirne je ersonnen hatten. Millionen hatten ihre Verwandten, ihre Freunde, ihre Heimat verloren oder waren gerade dabei, sie zu verlieren. Millionen kamen aus Kriegsgefangenenlagern oder wanderten gerade dorthin. Millionen waren zu Krüppeln geschossen. Hunderttausende von Frauen wurden vergewaltigt. Der Geruch der Krematorien und der schwelenden Ruinen lastete über Europa.

Die Herzen der Menschen waren verstört von Leid und Haß, von Angst und Verzweiflung, von Rachegefühlen und Hoffnungslosigkeit. Jeder wußte instinktiv, daß die Welt nie mehr so werden würde, wie sie zwölf Jahre vorher gewesen war. Zwar hatten viele Visionen von einer künftigen, besseren Welt. Aber keiner konnte sagen, ob solche Visionen je zu realisieren sein würden.

Ich male dieses Gemälde nicht, um die Schuld der deutschen Machthaber hinter dem Bild des allgemeinen Ruins verschwinden oder auch nur kleiner werden zu lassen. Den Holocaust an den Unschuldigen vieler Völker haben Deutsche begangen - darüber brauchen wir heute wohl nicht noch einmal zu diskutieren. Die Deutschen wissen auch heute noch sehr wohl - heute vielleicht sogar deutlicher als vor fünfzig Jahren - daß ihre damalige Regierung und viele ihrer Väter es gewesen waren, die für den Holocaust verantwortlich waren und Verderben über die Völker Europas gebracht hatten, und die meisten von ihnen leiden noch heute darunter, auch wenn sie ihre eigenen Leiden ebenfalls nicht vergessen haben. Gewiß: Als sich das Ausmaß der Verbrechen Hitler-Deutschlands herausstellte, da fehlte es auch nicht an Versuchen der Aufrechnung, nicht an Kollektivausreden und nicht an Versuchen zu kollektiver Beschönigung. Aber das Grundgefühl war doch, je länger desto klarer, die Kollektivscham, wie es Theodor Heuss so treffend genannt hat. Und Ernst Wiechert, ein deutscher Dichter, der selbst im KZ gesessen hatte und der damals das Empfinden unendlich vieler traf, wußte auch das Gefühl auszudrücken, das vielen Deutschen ihre Zukunft zu weisen schien. Er sagte es in der Form eines Gebetes:
"Und gib, daß ohne Bitterkeit
wir tragen unser Bettlerkleid
und Deinem Wort uns fügen ..."

Aber davon will ich heute nicht in erster Linie reden. Über die Vorgeschichte des 8. Mai 1945 habe ich in den letzten Monaten oft gesprochen: in Warschau, in Jerusalem und noch vor wenigen Tagen in Bergen-Belsen zu den Opfern unter den Juden und unter den Völkern, die Deutschland angegriffen hat, und auch in Dresden, wo ich meiner Trauer über die deutschen Opfer Ausdruck gegeben habe. All das gehört zum Gedenken an den 8. Mai, zum Erinnern und zum ehrlichen, rückhaltlosen Umgang mit der Geschichte. Aber heute muß auch von dem gesprochen werden, was auf das Ende des Krieges folgte.

Denn die Zukunft gestaltete sich anders, als es die meisten am 8. Mai 1945 erwarteten, auch anders, als es dem soeben zitierten Dichterwort eigentlich entsprochen hätte. Sie alle, die Sie hier versammelt sind, haben es miterlebt, und nicht wenige von Ihnen haben daran an führender Stelle mitgewirkt.

Über die Ruinen, die Gräber und die Lager hinweg sind uns Deutschen Hände der Mitmenschlichkeit gereicht worden - einzelne zunächst, trotz des Verbots der Fraternisation. Über den Ozean kam die erste humanitäre Hilfe, die nicht nach "schuldig" oder "nichtschuldig" fragte; noch heute können viele von uns das Wort CARE nicht hören, ohne tief bewegt zu sein. Der Marshall-Plan, eine der größten politischen wie humanitären Taten der Menschheitsgeschichte, auf ganz Europa berechnet, hat auch Deutschland nicht ausgeschlossen. Die Stuttgarter Rede des amerikanischen Außenministers James Byrnes ist ebensowenig vergessen wie die großen Reden Winston Churchills von Fulton und Zürich.

Damals wurden neue Grundlagen für das Zusammenleben der europäischen Völker gelegt, Grundlagen, die weit in die Zukunft wiesen, die auch dem deutschen Volk wieder Perspektiven gaben und die ihm vor allem etwas abverlangten - und das ist im Leben der Völker stets das erste gewesen, wenn es darum ging, ihnen Verantwortung zu übertragen.

Wir wissen, daß sich in dieser Beziehung manches zögerlicher entwickelt hätte, wenn es nicht zum Kalten Krieg mit dem Stalinismus, wenn es nicht zum Eisernen Vorhang, nicht zur Blockade Berlins und nicht zum Koreakrieg gekommen wäre. Aber die Grundlagen waren nunmehr gelegt. Sie hätten auch dann ihre Frucht getragen, wenn der Menschheit das neue Unglück erspart geblieben wäre. Von Churchills Reden bis zur Gründung der europäischen Montanunion gingen lediglich sechs Jahre ins Land, vom Ende der Berlinblockade bis zu den Römischen Verträgen nur acht Jahre, und bis zur demokratischen Lösung der Saar-Frage dauerte es nicht länger. Wir Deutschen haben das alles nicht vergessen - wenn ich auch die Frage stellen muß, ob wir nicht etwas zu selten davon reden.

Ich kann all die großen Staatsmänner nicht einzeln nennen, die der Bundesrepublik Deutschland den Weg in die Westintegration geebnet haben, die Westintegration, die noch heute - und unverbrüchlich in alle Zukunft - zur Grundlage unserer gesamten Politik geworden ist. Die Zahl der Hände, die sich uns aus dem Westen, vor allem unseren Nachbarländern, darboten, wurde immer größer. Aus Israel kamen die ersten zeichenhaften Gesten; ich nenne nur David Ben Gurion. Und mit dem Ende des Stalinismus in der Sowjetunion wurde auch dorthin das Gespräch möglich, zaghaft zwar und immer wieder durch Phasen des Schweigens unterbrochen, aber doch so, daß die Fäden nie wieder ganz abrissen.

Das alles waren nicht nur Gesten von Politikern, sondern auch die Völker fanden allmählich wieder zusammen. Aus Haß und Mißtrauen, aus tiefer, berechtigter Verbitterung wurden erste, zaghafte Gesprächskontakte, aus diesen Kontakten wurden Besuche, aus Besuchen erwuchs gegenseitiges Verstehen und aus dem Verstehen wurde allmählich Vertrauen und Freundschaft. Die so oft beschworene Erbfeindschaft zwischen Franzosen und Deutschen verschwand und mit ihr so manche andere Erbfeindschaft, die auf Grund der Geschichte ebensogut hätte Wurzeln schlagen können.

Die Deutschen ihrerseits haben die Chance, die ihnen geboten wurde, auf eine sehr bewußte und verantwortungsvolle Art genutzt. Gewiß: ihre erste Sorge galt dem Bestreben, aus Hunger und Elend herauszukommen und sich wieder ein Dach über dem Kopf zu schaffen, und daraus ist - ganz allmählich - ein Wiederaufbau geworden, für den später das Wort "Wirtschaftswunder" erfunden wurde. Aber das allein war es nicht.

Im Zuge und im Gefolge des Wiederaufbaus gelang die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in ihrer neuen Heimat. Das Kalkül mancher, diese Elendsheere würden sich im Westen als sozialer und politischer Sprengsatz erweisen, ist nicht in Erfüllung gegangen. Und mehr als das: Schon im August 1950 haben sich die Heimatvertriebenen in ihrer Charta unverbrüchlich zu Frieden und Gewaltverzicht verpflichtet. 1949 legte die Bundesrepublik Deutschland das Verbot des Angriffskrieges in ihrer Verfassung nieder, 1954 verzichtete sie mit völkerrechtlicher Wirkung auf jegliche nukleare Bewaffnung. Und als sich im Gefolge des Koreakrieges die Wiederbewaffnung als unvermeidbar erwies, da gab es von vornherein keinen Zweifel, daß die neu entstehenden Streitkräfte unter internationaler Führung stehen würden.

Es ist schon richtig, daß Deutschland in allen diesen Fragen auch dem Wunsch der damaligen Schutzmächte folgte. Ebenso richtig ist es aber auch, daß die Überzeugungen und der politische Wille seiner führenden Politiker auf Grund eigener Einsicht mit diesen Wünschen übereinstimmten. Deutschland wurde reif, sich in die Gemeinschaft friedlicher Völker nicht nur gedrängt zu fühlen, sondern sich ihr aus voller eigener Überzeugung anzuschließen.

Und was für seine internationale Politik galt, das läßt sich ebenso von seinen inneren Überzeugungen sagen. Es soll niemand behaupten, daß die Deutschen im Frühjahr 1945 von einer Stunde zur anderen glühende Anhänger von Rechtsstaat und Demokratie geworden wären. Natürlich hatten viele überlebt, die diese Überzeugungen schon vor 1933 verfochten hatten, natürlich hatten sich viele andere unter dem Eindruck des NS-Regimes und seiner Taten stillschweigend dazu bekehrt. Ebenso ist es aber richtig, daß der Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat ohne die starke Hand der Besatzungsmächte nicht so vor sich gegangen wäre, wie wir es erlebt haben.

Doch das andere ist eben auch wahr: Daß die Deutschen in dieser Frage bereitwillige Schüler wurden, daß sie den Geist der westlichen Demokratie, der Gewaltenbeschränkung und vor allem der Menschenrechte in sich aufnahmen, daß die allermeisten von ihnen treue und überzeugte Anhänger der Demokratie geworden sind. Dieses Deutschland ist anders geworden, als es zu Zeiten des Kaiserreiches und der Weimarer Republik und erst recht unter dem Nationalsozialismus gewesen war. Es hat in dieser Frage keine deutsche Revolution gegeben, aber ein fundamentales Umdenken. Totalitäre, ja auch nur autoritäre Ideen haben heute bei der erdrückenden Mehrheit der Deutschen keine Chance, und seit sich die Deutschen in den östlichen Ländern von ihrer kommunistischen Diktatur in einer unblutigen Revolution selbst befreit haben, hat sich das noch entscheidend vertieft. Wer meine Rede bisher gehört hat, mag vielleicht den Eindruck gewonnen haben, als spräche ich nur von der Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands, und bis zu einem bestimmten Grade läßt sich das ja auch gar nicht vermeiden. Aber man hat in Westdeutschland doch immer gewußt, daß im Osten unendlich viele Menschen nicht anders dachten. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der Widerstand zahlloser Sozialdemokraten gegen die Zwangseingliederung in die SED, die Arbeit der Menschenrechtsgruppen innerhalb und außerhalb der Kirchen, die Leiden der Opfer von Bautzen - um nur diese wenigen Beispiele zu nennen - legen Zeugnis dafür ab. Und sie haben Früchte getragen. Heute steht die deutsche Demokratie auf zwei gleich starken Beinen: auf der geduldigen Aufbauarbeit und der Lernfähigkeit der Westdeutschen seit 1948 und auf der ostdeutschen Revolution von 1989. Ich wüßte keine bessere Grundlage für die Zukunft.

So ist Deutschland im Laufe der Jahre ein verläßlicher und vor allem friedlicher Partner der Welt geworden, einer Welt, die selbst auch viel Neues dazugelernt hat und die - vor allem in Europa - neue, in die Zukunft weisende Ideen entwickelt hat.

Die Westeuropäer haben in diesen mehr als vierzig Jahren gelernt, daß Interessengegensätze zwischen ihnen zwar fortbestehen mögen, daß aber keiner von ihnen es wert ist, mit militärischen Mitteln ausgetragen zu werden. Sie haben gelernt, daß man über Grenzen zwar streiten kann, daß es aber klüger ist, sie niedriger und immer niedriger zu machen, als sie gewaltsam zu verschieben. Sie haben gelernt, daß freier Handel nützlicher ist als die ausgeklügeltsten Zollschranken, daß man in Nationen weiterleben kann, ohne deshalb den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zu verewigen, daß Kooperation klüger ist als das Beharren auf Souveränitätsideen vergangener Generationen.

Ich will wahrhaftig nicht behaupten, daß Westeuropa auf diesem Wege zu einer Insel der Seligen geworden sei. Dazu sind die Sorgen zu groß, die uns auch hier bedrängen - Arbeitslosigkeit, Wanderungs- und Technologiefragen, Umweltprobleme. Aber eine Insel des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes ist Westeuropa in diesen Jahrzehnten eben doch geworden, und viele Völker auf der ganzen Welt beneiden uns darum. Wir sollten dafür dankbar sein.

Es ist - zumal in Deutschland - in den vergangenen Wochen leidenschaftlich darüber gestritten worden, ob der 8. Mai 1945 für die Deutschen ein Tag der Niederlage oder ein Tag der Befreiung gewesen sei. Diese Frage ist schon deshalb nicht sehr fruchtbar, weil sie den verschiedenen Erfahrungen verschiedener Menschen nicht ausreichend Raum gibt und das, obwohl meine Vorgänger Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker dazu schon Richtungweisendes, ja Abschließendes gesagt haben. Als Angehöriger einer jüngeren Generation, die den 8. Mai 1945 entweder überhaupt nicht bewußt oder - wie ich - jedenfalls nur im Kindesalter erlebt hat, möchte ich aber sagen, daß ich ihn - wenn auch nachträglich - vor allem als einen Tag begreife, an dem ein Tor in die Zukunft aufgestoßen wurde. Nach ungeheuren Opfern und unter ungeheuren Opfern. Aber doch ein Tor in die Zukunft.

Die dieses Tor - in allen Völkern - aufgestoßen haben und von deren Opfern, deren Mühen und deren Weisheit wir heute profitieren, sind zum Teil längst dahingegangen, zum Teil leben sie als alte Leute unter uns. Ich will sie nicht noch einmal alle aufzählen: die Überlebenden der KZ's, die die Kraft zum Verzeihen gefunden haben, die Soldaten, die sich über die Gräber hinweg die Hände gereicht haben, und vor allem die Millionen, die in allen Ländern Europas schweigend und beharrlich an den Wiederaufbau gegangen sind und ihn geschafft haben. Alle, die danach kamen, stehen eigentlich nur auf ihren Schultern. In einer Gesellschaft, in der so viel auf die Jugend geachtet wird und die alte Menschen fast nur noch als Rentenempfänger begreift, soll heute auch das einmal in allem Ernst gesagt werden. Und ich meine wieder nicht nur die Deutschen. Ich meine die Menschen aller Völker, die an diesem Werk des materiellen und des moralischen Wiederaufbaus beteiligt waren. Mein Dank, der Dank des deutschen Volkes gilt ihnen allen.

Ein besonderes Wort möchte ich im Gedanken an die Menschen im östlichen Teil Mitteleuropas und in Osteuropa sagen. Mehr als die anderen haben sie unter dem Zweiten Weltkrieg und den Taten des nationalsozialistischen Deutschlands gelitten. Länger als die Westeuropäer und die Westdeutschen, ja selbst als die Ostdeutschen leiden sie unter den politischen Verschiebungen, die der Krieg im Gefolge hatte. Bis heute sind die Narben nicht verheilt. Wir sind ihnen noch viel schuldig.

Wenn es richtig ist, daß Westeuropa seit 1945 zu einer Insel des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes geworden ist, so ist es auch seine Pflicht, anderen dabei zu helfen, daß sie in den Genuß vergleichbarer Entwicklungen gelangen. Trotz des 8. Mai 1945 leben wir in einer Welt, in der Krieg und Gewalt, Hunger und Not immer noch ihre Rolle spielen. Wir werden schon alle Hände voll damit zu tun haben, die Insel, auf der zu leben uns vergönnt ist, zu sichern und zu bewahren. Aber es ist auch unsere Pflicht und Schuldigkeit, sie mit allen Kräften zu erweitern. Die Insel muß größer werden, Stück für Stück und Land für Land. Nur wenn unsere Generation, wenn wir Europäer das schaffen, sind wir dessen würdig, was uns nach dem 8. Mai 1945 geschenkt wurde und was unsere Väter in einem Meer von Trümmern und über Strömen von Blut geschaffen haben.

Es ist nicht das Recht des deutschen Bundespräsidenten, in dieser Richtung politische Programme zu fordern oder gar selbst zu entwerfen; das will ich hier auch gar nicht versuchen. Aber die fünf Jahrzehnte, die wir nun in Frieden, Freiheit und Wohlstand gelebt haben, verpflichten uns mehr als alle anderen. Ich wiederhole es bewußt: Die Insel muß größer werden. Es ist an uns, dafür zu kämpfen und zu arbeiten. Von einer solchen Politik braucht sich auch niemand bedroht zu fühlen. Frieden, Freiheit und Wohlstand haben in der Geschichte der Menschheit noch keinen bedroht oder gar gefährdet.

Es ist ein Irrtum, Europa primär als einen Begriff der Politik oder gar der Ökonomie zu begreifen. Das, was uns Europäer zunächst einmal eint, ist unsere gemeinsame europäische Kultur. Sie ist das Dach, unter dem wir alle leben. Mehr als einmal haben die Kriege, die wir gegeneinander geführt haben, dieses Dach ins Wanken gebracht, und die Teilung Europas hat das ihrige dazu getan, daß Europa heute zunächst als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft vor uns steht. Aber das kann doch nicht alles sein. Heute haben wir die einmalige Chance, das Dach - den geistigen Überbau Europas - zu festigen und es auf einen soliden Unterbau politischer Einheit und wirtschaftlicher Entwicklung zu stellen.

Ich verwende hier ganz bewußt Begriffe der kommunistischen Ideologie. In der europäischen Kultur und in den Besonderheiten europäischen Denkens haben wir nämlich einen Überbau, der nicht irgendwelchen ökonomischen Verhältnissen folgt, sondern der - genau umgekehrt - Richtlinie und Maßstab des ihm folgenden Unterbaus, der Europäischen Einigung setzt. Wenn uns das gelingt, ist ein zentrales Stück kommunistischer Ideologie nicht nur praktisch, sondern auch geistig überwunden, ist Europa zu sich selbst zurückgekehrt.

Ich höre bereits die Kritiker, die mir nach dieser Rede vorrechnen werden, ich hätte auf eine Herausforderung mit einer Utopie geantwortet. Natürlich weiß ich auch, wie schwierig es ist, die Erfahrungen Westeuropas auf andere Teile des Kontinents zu übertragen; die Beispiele dafür liegen ja vor unserer Haustür. Aber von einer Utopie kann man nur dann sprechen, wenn die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung feststeht. Wenn sich lediglich Schwierigkeiten abzeichnen, wenn man nur mit Gegenkräften und Rückschlägen zu rechnen hat, wenn der Erfolg also auch von der eigenen Anstrengung abhängt, dann spricht man nicht von einer Utopie, sondern von einer Vision. Solche Visionen braucht der Mensch, wenn er menschenwürdig und verantwortlich leben will, und solche Visionen brauchen auch Völker und Staaten. Die Hoffnung, ja die Entschlossenheit, den Bereich von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu erweitern, ist keine Utopie und sie ist nicht die schlechteste Vision, die Europa sich wählen kann.

Vor 200 Jahren schrieb Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum Ewigen Frieden", daß Demokratien untereinander nicht Krieg führen. Was damals noch als idealistische Utopie erscheinen mochte, ist heute die konkrete Vision einer internationalen Friedensordnung. Die Nachkriegsgeschichte Westeuropas ist dafür der eindrucksvollste Beleg. Das Kriegsende war eine Rückkehr zu den besseren geistigen Traditionen Europas und, wie das Werk Kants zeigt, auch Deutschlands. Es war eine Rückkehr in die Zukunft.

Daß sich Probleme und Hindernisse vor uns türmen, darf uns nicht entmutigen. Daß wir den vollen Erfolg nicht erleben werden, darf uns nicht lähmen. Wir wären der Chance, die der 8. Mai 1945 für uns alle bedeutet, nicht würdig, wenn wir an dieser Vision verzweifeln wollten.