Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog beim Zusammentreffen mit den Rumäniendeutschen in Hermannstadt in der evangelischen Stadtpfarrkirche

Schwerpunktthema: Rede

Hermannstadt, , 17. Mai 1995

Ich freue mich, die Deutschen in Rumänien hier in Hermannstadt besuchen zu können. Vielen Dank für die überaus herzliche Aufnahme, die meine Frau und ich bei Ihnen heute und schon gestern gefunden haben.

Hermannstadt ist eines der Symbole der mehr als acht Jahrhunderte alten Geschichte der Deutschen in dieser Region. Seit König Geza II im Jahre 1132 Deutsche zum Schutz der Karpatengrenze ins Land gerufen hat, verbindet sie eine gemeinsame Geschichte mit ihrem Gastland. Seit damals ist hier unendlich viel Hervorragendes geleistet worden, nicht nur auf dem Gebiet der Landwirtschaft, des Städte- und Burgenbaus und der Verteidigung: Der "goldene Freibrief" von 1224 ist eine der ältesten europäischen Verfassungsurkunden überhaupt. Keine deutsche Kulturlandschaft verfügt über eine längere Tradition des republikanischen Gemeindewesens, eines geordneten Schulwesens und der praktizierten religiösen Toleranz.

Diese Geschichte der Deutschen in Rumänien - so habe ich in den letzten Jahren mitunter zu meinem Ärger gehört - geht nun ihrem Ende zu. Zukünftige Entwicklungen in Europa vorauszusagen, hat sich in den letzten, an Überraschungen nicht gerade armen 10 Jahren aber als risikoreich erwiesen. Gewiß: Angesichts der bisherigen Entwicklung ist die Fortsetzung der Auswanderung bis zum Ende nicht gänzlich auszuschließen. Aber in meinen Augen würde sie einen unschätzbaren Verlust bedeuten. Ich habe Verständnis für die oft schwierige Situation derjenigen, die eine solche, für jeden Einzelnen schwerwiegende Entscheidung treffen. Ich anerkenne auch die Berechtigung der Wünsche nach kultureller Identität mit der Heimat der Eltern und Großeltern. Und ich achte den großen Anteil und die historischen Verdienste, die sich die Deutschen in Rumänien nicht nur in über 800-jähriger gemeinsamer Geschichte, sondern eben auch in der Gegenwart und beim Aufbau des modernen Rumänien erworben haben. Das alles ist in Deutschland nicht unbemerkt geblieben.

Aber gerade deswegen möge sich jeder Deutsche in Rumänien fragen, ob der gegenwärtige Zeitpunkt für ihn der richtige ist, dieses Land zu verlassen. Europa ist zu einem Einigungsprozeß aufgebrochen, der die Grenzen - und zwar alle Grenzen - unbedeutender, die vielfältige Zusammenarbeit bedeutender und die Aussichten für Minderheiten hoffnungsvoller macht als in den Zeiten des engstirnigen Nationalismus.

Die Auswanderung ist die Folge der großen politischen Umwälzungen dieses Jahrhunderts. Die Bundesregierung hat bereits vier Wochen nach dem Sturz des alten Regimes eine Kommission nach Rumänien entsandt, die Vorschläge erarbeitet hat, um die Lebensverhältnisse der Deutschen in Rumänien zu verbessern. Parallel zu dem daraus entstandenen Stabilisierungsprogramm haben wir die Tore für alle diejenigen offengehalten, die aufgrund ihrer persönlichen Entscheidung auswandern wollten. Zu diesen beiden Linien unserer Politik gab und gibt es keine vernünftige Alternative. Das Ende unserer Aufnahmepolitik wäre nicht nur einem Wortbruch gleichgekommen. Wir hätten damit die Nabelschnur zwischen den Deutschen in Rumänien und der Bundesrepublik Deutschland zerschnitten, und heute gilt: Je mehr wir das Tor zumachen würden, um so mehr würden gehen. Und zwar in einer panikartigen Reaktion. Je mehr wir es offen lassen, um so mehr werden bleiben.

Allen jenen, die noch immer vor der Entscheidung "bleiben oder gehen" stehen, möchte ich zu bedenken geben:

- Heimat kann man nicht in einen Koffer packen und mit nach Deutschland nehmen.

- Wer auswandern will, der sollte sich auch ein realistisches Bild von Deutschland machen - und dabei Vor- und Nachteile gewissenhaft gegeneinander abwägen.

Wer auswandern will, sollte auch bedenken, daß sich die Zeiten geändert haben. Hieß es früher "entweder - oder", so heißt es heute "sowohl als auch". Die Grenzen sind durchlässiger geworden und sie werden immer durhlässiger werden. Man kann von Hermannstadt nach Dinkelsbühl und wieder zurück fahren. Man kann Verwandte in allen Teilen Deutschlands besuchen. Aus Deutschland kommen Tausende jährlich zum Urlaub.

Die rumäniendeutsche Jugend hat eine Zukunft in diesem Land: Die wirtschaftlichen Rahmendaten Rumäniens haben sich gebessert und sie werden sich weiter bessern. Qualifizierte deutschsprachige Arbeitskräfte werden gebraucht und gesucht. Damit will ich keineswegs sagen, daß sich die Jungen nicht auch nach Deutschland orientieren sollen. Die Zeiten, in denen man in den Grenzen nur eines Landes gefangen war, sind vorbei: Schon heute fahren Schüler zu Studienfahrten nach Deutschland und Lehrer zu Hospitationen und Fortbildungsveranstaltungen, Landwirte können bei uns ein Praktikum absolvieren. Man kann in Klausenburg ein Studium beginnen, es mit Hilfe eines Stipendiums in Deutschland fortsetzen und seinen Abschluß wieder in Klausenburg machen, um danach zu einem Forschungsaufenthalt wieder nach Deutschland zu gehen. Das alles wird von Jahr zu Jahr zunehmen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch eindeutig sagen:

- Wer im Besitz eines Aufnahmebescheids ist, kann sicher sein, daß dieser seine Gültigkeit behält.

- Und: Das Hilfsprogramm für die Rumäniendeutschen wird fortgesetzt.

Die Bundesregierung hat seit 1990 mit Hilfe der Landsmannschaften und anderer Mittlerorganisationen mehr als 120 Millionen DM für die Rumäniendeutschen und ihr rumänisches Umfeld zur Verfügung gestellt. Es wurden Altenheime gebaut, Kleinbetriebe unterstützt, Hilfen zum Lebensunterhalt geleistet, Lehrer entsandt, um nur einige Maßnahmen zu nennen. Das ist ein beachtliches Beispiel der Solidarität mit den Rumäniendeutschen in einer Zeit, da in Deutschland selbst, insbesondere nach der Vereinigung mit den neuen Bundesländern, auch ungeheuere Probleme zu bewältigen sind und die Deutschen erstmals seit dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem zweiten Weltkrieg Einkommenseinbußen hinnehmen müssen.

Trotz allem: Die Auswanderung der Deutschen aus Rumänien ist leider immer noch nicht zu Ende. Aber wir können feststellen, daß all jene Unrecht hatten, die vorschnell von einem Ende der Geschichte der Rumäniendeutschen sprachen. Die deutsche Kultur in Rumänien wird nicht untergehen: Die deutsche Sprache erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Deutschsprachige Kindergärten und Schulen können sich der Nachfrage kaum erwehren. Gleiches gilt für die Sprachkurse an den Universitäten. Indem wir versuchen, diese Nachfrage zu befriedigen - durch unser Lehrerentsendeprogramm, durch unsere materiellen Unterstützungen und Fortbildungsangebote -, bauen wir auch das kulturelle Erbe der Deutschen in Rumänien auf und entwickeln es den neuen Umständen entsprechend weiter. Dabei wirken wir auch in die rumänische Gesellschaft hinein: 90 Prozent der Schüler an deutschsprachigen Schulen sindkeineRumäniendeutschen.

Ich sehe für die Rumäniendeutschen eine Zukunft. Was mich zuversichtlich macht, ist ihre Kraft, immer wieder einen neuen Anfang zu wagen: Sie haben ihre zerstörten Dörfer stets neu aufgebaut. Sie haben aus Sümpfen fruchtbares Land gemacht, und sie haben neu angefangen, als sie aus dem Krieg und aus der Deportation zurückkamen. Sie standen 1990 vor einem Neuanfang in einem Land, das wie kaum ein anderes in Osteuropa wirtschaftlich, politisch, geistig und moralisch herabgewirtschaftet war. Ich danke all jenen, die sich dieser neuen Herausforderung gestellt haben, und ich versichere ihnen, daß Deutschland auch in Zukunft an Ihrer Seite stehen wird.