Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog vor dem Europäischen Parlament in Straßburg

Schwerpunktthema: Rede

Straßburg, , 10. Oktober 1995

Wir haben eine Vision, und diese Vision heißt Europa.

Aus Erfahrungen gemeinsamer Geschichte sind immer wieder Visionen für die Zukunft entstanden. So ist es auch heute, nach dem Ende des kalten Krieges und am Beginn eines neuen Jahrhunderts. In Maastricht haben wir einen Vertrag geschlossen, der das Einigungswerk weiter treibt als je zuvor. Wir haben uns zur politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion verpflichtet. Die Integration West- und Nordeuropas wirkt wie ein Magnet auf Osteuropa und auf den Mittelmeerraum. Die Erweiterungsdiskussion dynamisiert die Vertiefungsdiskussion. So war es schon immer, so ist es auch heute.

Allerdings sind Visionen unbequem, anders als Utopien! Für den Eintritt einer Utopie ist niemand verantwortlich, weil sie gar nicht eintreten kann, für die Erfüllung von Visionen sind wir es selbst.

Jede Vision trägt auch das Risiko des Scheiterns in sich. Man tut also gut daran, zu wissen, was auf dem Spiel steht. Ich bin nach Straßburg gekommen, um Fragen zu stellen, die sich die Bürger in allen Ländern unseres Kontinents stellen. Es sind drei Fragen, auf die die Brüsseler Technokraten ebenso wie die politischen Eliten der nationalen Hauptstädte überzeugende Antworten finden müssen, wenn sie nicht selbst politischen Schaden nehmen wollen.

- Warum Europa?

- Wie Europa?

- Für wen Europa?

Ich kann den politischen Entscheidungsträgern die Antworten nicht abnehmen. Da ich viel mit Bürgern verschiedenster Herkunft zu tun habe, kann ich aber einige Sorgen, Erwartungen und Hoffnungen nennen, die gewisse Antworten zumindest nahelegen.

Zunächst zur Frage "Warum Europa".

Ich höre gelegentlich die These, nach dem Ende des kalten Krieges sei der äußere Feind und damit der Anreiz zur inneren Integration Europas entfallen. Die Frage ist nicht neu. Sie ist 2000 Jahre alt. Schon der alte Cato fragte nach dem Fall von Karthago: "Was wird Rom sein ohne seine Feinde?". Also kommt es darauf an, ob Europa sich nicht nur negativ als Gegenmodell, sondern ob es sich auch positiv aus seiner Substanz heraus definieren kann. Darauf gibt es - wenn ich es recht sehe - zwei Antworten.

Erstens war der Entwurf Jean Monnets, Robert Schumans, Alcide de Gasperis, Paul-Henri Spaaks und Konrad Adenauers weit mehr als ein Reflex auf äußere Bedrohung. Er war die Rennaissance einer 1100 Jahre alten Idee der innereuropäischen Versöhnung. Von den Enkeln Karls des Großen war sie 842 in den Eiden von Straßburg auf deutsch, französisch und lateinisch formuliert worden. Es waren die ersten schriftlichen Zeugnisse der deutschen und französischen Sprache überhaupt. Können sich französiche und deutsche Europäer einen besseren Symbolismus wünschen, als die Tatsache, daß sich der Ursprung ihrer Sprachen in einem Eid der Versöhnung findet? In den nächsten tausend Jahren wurde die Verpflichtung dieses Symbolismus - wie wir alle wissen - allzu oft vergessen, mit selbstzerstörerischen Folgen für Europa. Die ethische Lektion dieser Geschichte wurde dann zur Triebkraft für die europäische Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Botschaft der Versöhnung ist die beste Botschaft, die Europa auch heute der Welt bieten kann.

Die Vision Jean Monnets war jedoch auch ein Projekt der schöpferischen Zukunftsgestaltung. Der Bildung der ersten europäischen Wirtschaftsgemeinschaft folgte sofort eine präzedenzlose Blütephase der europäischen Geschichte. Heute mögen die Römischen Verträge angesichts der Debatte über die Durchführung des Vertrages von Maastricht schon fast vergessen sein. Damals aber waren sie eine europäische Revolution mit wirtschaftlichen, außenpolitischen, und vor allem geistigen Folgen, von denen wir noch heute profitieren. Es wurde ein Modellversuch für die ganze Welt.

Außerdem ist schon die Annahme, seit dem Ende des kalten Krieges gebe es keine Bedrohung mehr, falsch. Mittlerweile ist man fast versucht, der Stabilität des bipolaren Systems im Gleichgewicht der Abschreckung nachzutrauern. Das Gemisch neuer Sicherheitsrisiken ist instabil und daher möglicherweise viel gefährlicher: Bevölkerungsexplosion, Klimaveränderungen, Armutswanderungen, Atomschmuggel, Drogenhandel, Fundamentalismen jeder Couleur, Völkermorde, Zerfall staatlicher Ordnungen.

Viele dieser Risiken wirken transnational. Die Machtlosigkeit der Nationalstaaten gegen sie wird täglich augenfälliger. In einem solchen Umfeld gibt es kein Gleichgewicht mehr. Bosnien hat es erneut gezeigt. Der anachronistische Rückfall in ein "Balance of Power" Denken, auch unter europäischen Partnern, hat den Krieg nur verlängert und verschlimmert. Darüber hinaus hat sich Europa mangels einmütiger Strategien als handlungsunfähig erwiesen. Erst die klare Sprache Präsident Chiracs gegenüber den Serben, das unmißverständliche Eingreifen der NATO und die konstruktive amerikanische Diplomatie haben Bosnien dem Frieden wenigstens näher gebracht. Gerade diese Erfahrung zeigt, daß wir ein Europa brauchen, das politisch - und auch sicherheitspolitisch - handlungsfähig ist.

Gegen die um sich greifende Anarchie gibt es nur eine Strategie: Soviel Integration wie nötig und möglich. Keine Region der Welt hat da bessere Chancen als Europa und wir sollten alles daran setzen, diese Chance nicht zu verspielen!

Von der gleichen Logik sollten wir uns auch bei der Erweiterung der Europäischen Union leiten lassen. Ich kann immer nur wieder an den Satz von Vaclav Havel erinnern: "Wenn wir den Osten nicht stabilisieren, destabilisiert der Osten uns". Auch in den westlichen und südlichen Mitgliedsländern beginnt diese Logik auf Verständnis zu stoßen, denn inzwischen müssen sie sich im Mittelmeerraum mit ganz ähnlichen Herausforderungen auseinandersetzen. Die Sicherheit Europas ist jedoch unteilbar. Osteuropäische Instabilität bedroht auch Frankreich, mediterrane Instabilität auch Deutschland. Gegenüber den heutigen transnational wirkenden Sicherheitsrisiken verliert die Geographie und mit ihr auch manches alte geopolitische Denken an Bedeutung.

Daß die Stabilisierung des Mittelmeerraumes eine Herausforderung an Europa ist, in der sich Außen- und Innenpolitik, Kultur- und Gesellschaftspolitik verbinden, wird täglich deutlicher. Wie fragwürdig auch das Szenario des "clash of civilizations" sein mag, im Verhältnis zum Islam muß Europa alle Ressourcen seiner integrativen Kraft mobilisieren. Außen- wie innenpolitisch gibt es nur eine Friedensstrategie, die Strategie der Verständigung. Europa wird von der internationalen Staatengemeinschaft an der Art gemessen werden, wie es diese Herausforderung meistert. Nicht nur sein Ansehen, sondern auch sein Einfluß auf die Weltpolitik und die Weltwirtschaft wird davon abhängen. Es wäre absurd, wenn Europa die Strategie der Integration gerade in dem Moment vergessen würde, in dem der Rest der Welt beginnt, sie von Europa zu lernen. Defensiver Eurozentrismus wäre eine Falle, die wir uns selbst stellen würden.

Aber, so heißt es dann oft, Sicherheitspolitik ist Sache der politischen Klassen. Was den Bürger interessiere, das sei die harte Mark im Portemonnaie oder der feste Job bei Pechiney. Ich glaube zwar nicht, daß die wirtschaftlichen Interessen das Maß aller Dinge sind. "L'intendance suit", sagte schon Charles de Gaulle, "der Troß folgt der Armee" und läuft ihm nicht voraus. Und es stimmt ja: Die allzu einseitige Betonung der Wirtschaft war gerade das Defizit der alten EG, um dessen Abbau es nun seit Maastricht geht. Es geht auch nicht nur um Politik im traditionellen Sinne. Entscheidend wird die Zukunft Europas auch von der Bündelung seiner Kräfte in Kultur, Wissenschaft und Information abhängen.

Gewiß, Europa ist die Weltregion mit der höchsten Vielfalt unterschiedlicher Sprachen, Kulturen und Lebensformen. Und doch hat es sich von der Antike bis heute stets als Einheit verstanden, die mehr als ein bloßer geographischer Begriff ist. Josê Ortega y Gasset hat es eindringlicher als alle anderen ausgedrückt: "Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, daß das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut."

Aber ohne die Wirtschaft geht es eben auch nicht, und an den Devisenmärkten sehen wir gerade in diesen Tagen wieder einmal, wie ernst wir den "Troß" im Interesse unserer Bürger nehmen müssen. Nach wie vor liefert die Wirtschaft die handfestesten Beweise für den Sachzwang zur Integration in Europa. Die Zeit der nationalen Wirtschaften ist lange vorbei. Die deutschen Bürger, die fürchten, ihre harte Mark in der Währungsunion zu verlieren, argumentieren durchaus aus einer berechtigten Position. Aber sie müssen sich auch sagen lassen, daß die Härte dieser Mark schon heute nicht allein in der Hand der Deutschen Bundesbank liegt. Sie hängt auch von der Offenheit ausländischer Märkte für deutsche Exporte ab, die allein 30 % des deutschen Bruttosozialprodukts ausmachen. Und mehr als zwei Drittel aller deutschen Exporte gehen wiederum in europäische Länder. Mit anderen Worten: Die Härte der DM war stets auch ein Gewinn, der der wirtschaftlichen Integration Europas zu verdanken war.

Schon heute sehen wir, daß nationale Interessen im wirtschaftlichen Bereich überhaupt nicht mehr verläßlich definiert werden können. Lassen Sie mich versuchen, für den Bürger ganz deutlich zu machen, worum es beim Streit der Währungsexperten eigentlich geht.

Verbraucher, die ihr Einkommen aus fest verzinslichen Ersparnissen beziehen, sind an einer festen oder gar überbewerteten Währung interessiert, weil sie sich für eine solche Währung mehr kaufen können. Produzenten und Arbeitnehmer, die ihr Einkommen aus Unternehmen oder Arbeitsverträgen in der Exportindustrie beziehen, neigen dagegen eher zur Präferenz für eine weiche oder gar unterbewertete Währung, weil sie ihre Produkte im Ausland billiger macht und deswegen Absatz und Arbeitsplätze sichert. Wir haben bei unendlich vielen Regierungsgesprächen in den letzten Monaten erlebt, wie nach innen anders argumentiert werden mußte als nach außen. Das Problem, an dem wir nicht vorbeikommen, ist jedoch, daß in der Brust der meisten Menschen eben die berühmten zwei Seelen nebeneinander wohnen, eine Verbraucherseele und eine Produzentenseele. Ein zweites Problem ist, daß sich in der Wirtschafts- und Währungspolitik mancher Länder die Produzentenseele stärker niederschlägt - so offenbar zeitweilig in den USA und in den sogenannten Weichwährungsländern - in anderen Ländern dagegen, so insbesondere in Deutschland, die Verbraucherseele. An der Vereinigung der beiden Seelen geht kein wirtschaftspolitisch vernünftiger Weg vorbei. Es hat ja jeder Mensch auch nur eine Seele.

Die beste Währungspolitik ist also eine solche, die Unter- und Überbewertungen gleichermaßen vermeidet, so daß die Interessen der Verbraucher und die Interessen der Produzenten zum Segen der Gesamtwirtschaft einigermaßen ausgeglichen sind. Der beste weltwirtschaftlich mögliche Weg dazu ist die internationale Koordination der Wirtschaftspolitik. Der noch bessere europäische Weg aber ist die europäische Wirtschafts- und Währungsunion.

Ich will auch sagen, was uns droht, wenn wir diesen Weg nicht gemeinsam finden. Es drohen Abwertungswettläufe, Handelskriege, Protektionismus, Renationalisierung der Wirtschaftspolitik, Deflation, vielleicht sogar Depression. Das wäre, um es kurz und bündig zu sagen, ein Rückfall in die Dreißiger Jahre. Wie real diese Gefahr sein kann, wenn wir nicht acht geben, zeigen der Handelskrieg zwischen den USA und Japan, die gefährliche Deflation in Japan und die daraus resultierenden Währungsturbulenzen. Wir können die Augen nicht davor verschließen, daß diese Währungsturbulenzen auch in Europa Arbeitsplätze und Ersparnisse bedrohen können.

Bitte fragen Sie die Bürger in Ihren Wahlkreisen, ob sie ein derartiges Spiel mit dem Feuer wollen. Ich bin überzeugt, daß die europäischen Bürger vernünftiger sind, als die europessimistischen Meinungsumfragen sie erscheinen lassen. Die Bürger sind überhaupt meistens vernünftiger als die Fachleute. Es kommt nur darauf an, daß man klar und verständlich mit ihnen redet.

Das gilt auch für Fragen des Lebensgefühls und der Kultur. Franzosen und Deutsche, Briten und Italiener, Spanier und Schweden, Dänen und Griechen denken unbewußt schon sehr viel europäischer, als manche nationale Politik es wahrhaben will. Ihr tägliches Leben ist ja auch schon lange europäisch geprägt. Das zeigt sich in den Reisen, die sie unternehmen, in den Touristen, die sie empfangen, im Warenangebot jedes einzelnen Geschäfts, in den Eßgewohnheiten und in den Moden, in der Kunst und in der Wissenschaft. Vor allem zeigt es sich in den Jugendkontakten, die sich mit immer größerer Selbstverständlichkeit grenzüberschreitend organisieren. Ich sage bewußt nicht, daß sie organisiert werden, was auch notwendig ist, sondern daß sie sich weitgehend selber organisieren. Auf die Frage "Warum Europa?" gibt es also auch die Antwort: Weil die gemeinsame europäische Kultur schon da ist, weil man sie im Westen des Kontinents nicht verlieren möchte, und weil man sie auch im Osten wieder frei pflegen und gestalten kann. Selbst auf dem Weg zur viel diskutierten inneren Einheit Deutschlands bietet sich diese europäische Kultur als "Abkürzungsweg" an. Zumindest die Jugend, das zeigen mir zahllose Gespräche, die ich fast täglich führe, nutzt diesen Abkürzungsweg massenhaft.

Wer einmal die Frage "Warum Europa" beantwortet hat, dem fallen auch die Antworten auf die Fragen des "Wie" und des "Für wen" leichter. Ich will mich deswegen hier ziemlich kurz fassen.

Zunächst zur Frage des "Wie".

Als deutscher Verfassungsrechtler bin ich von Haus aus Anhänger einer politischen Organisationsform, die mit dem Buchstaben F beginnt, die aber neuerdings, wie Sie wissen, in der europäischen Debatte nicht mehr erwähnt werden darf. Selbst in die Europapolitik haben offenbar die Tabus der "political correctness" schon Einzug gehalten.

Wie dem auch sei, ich halte die erwähnte Organisationsform, die mit F beginnt, nach wie vor für eines der besten Politikangebote der Geschichte, vom Städtebund der griechischen Antike bis zu der sich abzeichnenden Friedenslösung für Bosnien. Der Föderalismus, nun ist es mir doch herausgerutscht, ist ja das Gegenteil von Zentralismus, ist, wie man an der deutschen Nachkriegsgeschichte sehen kann, geradezu eine Methode der Dezentralisierung. Er sollte deswegen auch die angelsächsischen Europäer nicht erschrecken. Daß der Erzzentralist Alexander Hamilton als Gegenspieler Thomas Jeffersons 1791 eine Partei gründete und diese Partei "Federalist Party" nannte, kann doch wirklich nur Hamilton, nicht aber dem Föderalismus vorgeworfen werden.

Andererseits gewährleisten föderale Entscheidungsprozesse auch die Rationalität und Effektivität, die insbesondere der großen französischen Staatstradition stets am Herzen lagen. Nichts hindert Vaterländer daran, sich in einer Föderation zusammenzuschließen und dennoch Vaterländer zu bleiben. Ich bin auch Bayer und trotzdem deutscher Bundespräsident. Europa als "patrie des patries" hat auch in den Ohren eines Föderalisten einen ausgezeichneten Klang. Schließlich waren es ja nicht Vertreter eines deutschen Partikularismus, die zuerst den Begriff der "Vereinigten Staaten von Europa" prägten, den ich gar nicht verwende, sondern es waren große Franzosen wie Saint-Simon und Victor Hugo. Nichts zwingt die Mitglieder der Europäischen Union - und das sage ich jetzt im Ernst -, gerade das schweizerische, amerikanische oder gar deutsche Modell des Föderalismus zu wählen. Es gibt doch ganz unbestreitbar auch noch die tröstliche Möglichkeit, sich eine ganz andere, ganz neue föderale Variante einfallen zu lassen. Hier liegt, wie ich meine, eine der größten Aufgaben und Chancen des Europäischen Parlaments. Die Debatte über die zukünftige politische Organisation der europäischen Union gehört ins Parlament. Hier kann der europäische Souverän, wenn es ihn denn schon geben sollte, sich äußern. Und: Je mehr er sich äußert, desto mehr "gibt es ihn" auch.

Die Lektion der Bescheidenheit, die Bosnien uns Europäern erteilt hat, sollte genügen, um uns drei Einsichten zu vermitteln, die die Einigung über das Verfahren der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fördern könnten:

- Erstens: Einstimmige Entscheidungen entfalten nach außen größere Wirksamkeit als knappe Mehrheitsentscheidungen, die vom innereuropäischen Meinungsstreit gekennzeichnet sind.

- Zweitens: Mehrheitsentscheidungen sind andererseits besser als gar keine Entscheidungen, da sonst andere Mächte über europäische Schicksalsfragen entscheiden und wir dann nur hoffen können, daß sie es in unserem Sinne tun. Das wird bei amerikanischen Entscheidungen in der Regel der Fall sein. Wie immer man es drehen und wenden will, die USA bleiben eben doch immer auch eine "europäische Macht" und wir sollten froh darüber sein. Andererseits können wir aber nicht immer von den Amerikanern verlangen, daß sie für uns die Kastanien aus dem Feuer holen.

- Drittens: Beherzte Führerschaft und der Mut, frühere eigene Positionen auch einmal zu überdenken, sind immer noch der beste Weg für große Nationen, im europäischen Meinungsbildungsprozeß nicht minorisiert zu werden.

Eine zweite Lektion wird uns durch die gegenwärtigen Währungsturbulenzen erteilt. Ihre Botschaft ist zweifach:

- Erstens: Eine Währungsunion ist nicht ohne politische Union denkbar. Insofern kann ich Bundesbankpräsident Tietmeyer nur zustimmen.

- Zweitens: Öffentlich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten über die Erreichbarkeit der Währungsunion innerhalb der gesetzten Frist und über die Beitrittsfähigkeit bestimmter Länder können nicht nur die Währungsunion, sondern auch die politische Union gefährden. Insofern stimme ich Premierminister Juppê von Herzen zu.

Daß ich beiden so uneingeschränkt zustimmen kann, bedeutet nicht, daß ich dazu neige, dialektisch zu denken. Mir geht es nur um die dringend notwendige Erweiterung des Blickfeldes. Ein allzu starres sektorales Denken - der eine ist für das, der andere für jenes zuständig - birgt stets die größten Gefahren für die Europäische Union.

Damit komme ich zu der Frage, "Für wen" wir Europa einigen wollen. Die Antwort kann nirgendwo eindeutiger ausfallen als im Europäischen Parlament. Es darf nicht das Europa der Brüsseler Technokraten und auch nicht das Europa der politischen Klassen der Hauptstädte sein. Meine Damen und Herren, in ihrer traditionellen Konkurrenz liegt die Gefahr hypertrophierter Eitelkeiten mit allen sich daraus ergebenden hypertrophierten Kosten. Auf Dauer wird es ein einiges und demokratisches Europa nur geben, wenn es sich als das Europa der Bürger versteht und zwar nicht, wenn es das behauptet, sondern wenn es das ist.

Bei Ihrer Antrittsrede hier vor 15 Monaten, lieber Herr Hänsch, haben Sie gesagt, daß die Köpfe und die Herzen der Menschen für Europa gewonnen werden müssen. Sie haben da vielleicht unsere wichtigste Aufgabe in dieser Zeit beschrieben. Die Europäische Union kann nur weiterentwickelt werden, wenn sie von den Unionsbürgern akzeptiert wird, und sie kann nur mit Leben erfüllt werden, wenn sie auch in den Herzen der Bürger fest verankert ist. Dazu brauchen wir aber mehr Bürgernähe, mehr Durchschaubarkeit dessen, was geschieht, und mehr demokratische Legitimität des europäischen Handelns. Lassen Sie mich hierzu hervorheben, was in der Öffentlichkeit sehr oft bemängelt wird und was ich persönlich genau so empfinde: Das Europarecht ist zu verstreut, es ist zu schwer verständlich, es ist zu technokratisch und es ist vor allem zu perfektionistisch. Ich weiß natürlich auch, woher das kommt und wer daran schuld ist, aber die Schuldzuweisung kann keine Entschuldigung sein. Mit einem Wort: das ganze Ding ist zu bürgerfern. Unionsvertrag und Sekundärrecht der Gemeinschaft müssen dringend konsolidiert und an vielen Stellen auch ausgedünnt werden - allerdings ohne neue dogmatische Debatten, zu denen wir Europäer ja immer wieder neigen.

Ich habe wirklich Verständnis dafür, daß die Bürger sich heute mit Europa schwertun. Das ist jedoch eine Vertrauenskrise, die sich nicht nur gegen Europa, sondern gegen Großorganisationen schlechthin richtet, auch gegen nationale Großorganisationen. Wir brauchen Bewegung, aber wir dürfen die Bürger nicht überfordern. Wir müssen Europa besonnen wachsen lassen, damit das Vertrauen mitwachsen kann.

Vor allem aber brauchen wir Orientierung, daß heißt, wir müssen selber wissen, was wir wollen. Deswegen kann Europa sich eine Erstarrung in Expertokratie nicht leisten. Wir brauchen die dynamisierende Kraft der politischen Debatte. Nur eine offensive Diskussion über die Zukunftsprobleme, die die Bürger bewegen, bietet auch die Chance, Europa den Bürgern wieder näher zu bringen. Denn, wie man es dreht und wendet, die meisten der Zukunftsprobleme sind uns gemeinsam, wie unterschiedlich die strukturellen und rechtlichen Ausgangspunkte auch immer sein mögen.

Ich will ganz kurz noch sechs Fragen stellen, um deutlicher zu machen, was ich meine:

Erstens:

Wie stellen wir uns den Veränderungen der Arbeitswelt, die sich aus der Globalisierung der Märkte, aus den neuen Technologien und aus der Entwicklung zur Informationsgesellschaft ergeben? Machen wir uns eigentlich ausreichend klar, daß Massenarbeitslosigkeit trotz allem kein unentrinnbares Schicksal ist? Sehen wir die Chancen einer dynamischen Wirtschaft, in der das Einkommen aus neuer Technologie zur Quelle auch neuer Arbeitsplätze wird?

Zweitens:

Werden wir uns unserer Verantwortung für diejenigen bewußt, die beim Tempo der Innovation nicht mehr mithalten können? Haben wir alle vernünftigen, auch unkonventionellen Vorschläge geprüft, Langzeitarbeitslose in sinnvoller Weise wieder ins Arbeitsleben zurückzuführen?

Drittens:

Wie sichern wir eigentlich die Zukunft unserer sozialen Netze? Haben wir erkannt, daß wir ihre Schutzfunktion aufs Spiel setzen, wenn wir zulassen, daß sie sich jenseits aller Gedanken an Finanzierbarkeit aufblähen? Sind wir auch hier zum Wettbewerb der besten Lösungen bereit, der besten Lösungen, die in irgendeinem Land Europas gefunden wurden?

Viertens:

Haben wir alles getan, um unserer Jugend, die doch unser kostbarstes Zukunftskapital ist, durch Bildung die nötigen Chancen zu geben, und zwar durch die richtige Bildung, die, die sie braucht? Haben wir genug in Wissenschaft und Forschung investiert, das heißt, in die ausschlaggebenden Quellen der technischen wie der gesellschaftlichen Innovation?

Fünftens:

Werden sich Ökonomie und Ökologie endlich in der Erkenntnis zusammenfinden, daß Umweltschutz nicht mit Verzicht auf technischen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum erkauft werden muß? Öffnen wir uns wirklich ausreichend der Einsicht, daß zwar die natürlichen Ressourcen, nicht aber das menschliche Wissen endlich ist und daß auf neues Wissen gestütztes wirtschaftliches Wachstum gleichzeitig unsere ökologischenundsozialen Probleme lösen helfen kann?

Und schließlich sechstens:

Haben wir den Mut, das Erfolgsgeheimnis der Europäischen Gemeinschaft in den letzten vier Jahrzehnten, nämlich die offene freiheitliche Gesellschaft auch gegen die Anfechtungen der Zukunft zu bewahren? Machen wir uns ausreichend klar, daß nur in freiheitlichen offenen Gesellschaften die Quellen der Kreativität zu sprudeln beginnen, die wir zur Lösung unserer Probleme brauchen?

Ich will mit einem osteuropäischen und einem britischen Zitat schließen, die sich, wie ich meine, gegenseitig hervorragend ergänzen. Das osteuropäische sagt: "Europa ist verunsichert. Das kann es gebrauchen. Allzu viel Selbstsicherheit macht dumm". Das britische Zitat sagt: "Europa im Zweifel? - im Zweifel Europa!". Genauso ist es.