Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Kommandeurtagung der Bundeswehr

Schwerpunktthema: Rede

15. November 1995

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

In einer Vielzahl von Veranstaltungen haben Parlament, Regierung und Öffentlichkeit das 40jährige Bestehen der Bundeswehr gewürdigt. Es ist mir eine ganz besondere Freude, mit der heutigen Rede gewissermaßen den Schlußpunkt der Gratulationstour zu setzen.

Wenn man Vierzigjährigen öffentlich zum Geburtstag gratuliert, tut man normalerweise gut daran, Lob und Anerkennung sorgfältig zu dosieren und neben dem Blick auf das bereits Geleistete auch den Notwendigkeiten und Möglichkeiten zukünftiger Entwicklungen nachzuspüren.

Der Rückblick auf "40 Jahre Bundeswehr - 5 Jahre Armee der Einheit" rechtfertigt allerdings eine Ausnahme von dieser Regel. Mit ihren 40 Jahren ist die Bundeswehr die älteste deutsche Armee in diesem Jahrhundert überhaupt, die erste Wehrpflichtarmee in einer Demokratie, die erste deutsche Armee, die in ein Bündnis von parlamentarischen Demokratien integriert ist.

Sie ist also in einem durchaus guten Sinne ohne Vorbild. Auftrag und Wertebezug unterscheiden die Bundeswehr fundamental von der Reichswehr, von der Wehrmacht und von der Nationalen Volksarmee. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Struktur ihrer Armee - anders als die erste deutsche Republik - nicht von einer untergegangenen Staatsform übernommen, sie hat angesichts des menschenverachtenden und verbrecherischen Systems des Nationalsozialismus sie auch nicht übernehmen können. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vielmehr 10 Jahre nach Kriegsende und 6 Jahre nach ihrer Gründung ihre eigenen Streitkräfte geschaffen und ihnen von Anfang an ihren Platz im demokratischen Gefüge des Staates zugewiesen.

Die Bundeswehr wurde zwar von ehemaligen Soldaten der Wehrmacht mit aufgebaut. Daß diese Soldaten sich aber mit der demokratischen Staatsidee, mit dem defensiven Auftrag der Streitkräfte, mit der Integration in das westliche Bündnis und dem Konzept der Inneren Führung - zusammen mit dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform - identifizierten, das ist in der Rückschau zumindest bemerkenswert.

Tradition ist nämlich nicht die pauschale Fortsetzung von Geschichte. Tradition ist die Auswahl von Menschen, von Worten, Haltungen und Taten, die als beispielgebend bewertet werden. Tradition heißt Überlieferung von Werten in diesem Sinne und dient in genau diesem Maße auch der Erziehung von Menschen. Nicht die Wehrmacht von 1933-1945, wohl aber einzelne, ja viele Soldaten der Wehrmacht können durchaus traditionsbegründend sein, genauso wie Blücher und Yorck, Scharnhorst und Gneisenau und natürlich die Männer vom 20. Juli 1944. Männer der Wehrmacht haben die Bundeswehr mit aufgebaut. Männer der Nationalen Volksarmee dienen in der Bundeswehr. Und immer geht es um die Frage nach dem individuellen Verdienst oder dem individuellen Verschulden. Kollektivurteile sind von vornherein falsch und liegen mir persönlich, wie Sie wissen, überhaupt nicht.

Das gilt auch für Kollektivurteile über Soldaten und besonders über die Soldaten der Bundeswehr. Viele Vorurteile und Negativurteile gegen sie rühren aus der deutschen Geschichte, auch aus einem Auflehnen der jüngeren Generation gegen die Väter und aus der Verurteilung mancher kolonialer Unternehmungen anderer Länder. Auch die "Soldaten sind Mörder"-Debatte auf die ich später noch einmal komme, hat damit etwas zu tun. Die Ereignisse in den Ländern Ex-Jugoslawiens, das gegenseitige Schlachten und Vertreiben, die absonderliche Lust am Zerstören und Töten, der unversöhnliche, unbändige Haß wie auch das nüchterne, verbrecherische Kalkül, die sich dort austoben, all das nährt den Streit um die Rolle des Militärs und um die Ethik des Soldatenberufs.

Die Soldaten der Bundeswehr zeigen aber, daß militärisches und ethisches Handeln miteinander nicht im Widerstreit stehen müssen. Vier Jahrzehnte lang haben sie gemeinsam mit den Verbündeten die Sicherheit unseres Landes garantiert. Friede und Freiheit sind nicht durch einen "ohne mich"-Pazifismus gesichert worden, sondern durch die Entschlossenheit, Aggressionen auch militärisch zu begegnen. Unsere Soldaten haben damit eine in der jüngeren Geschichte der Deutschen einmalige Leistung vollbracht und sich in der für Soldaten vornehmsten Rolle bewährt: als Bewahrer des Friedens und als Schutz der Bürger.

Den Krieg ächten heißt nämlich nicht, den Soldaten abschaffen. Auch manche Pazifisten sind jetzt dabei, diesen Denkfehler zu korrigieren. Wer die weltweite Achtung der Menschenrechte fordert und die friedensstiftende und friedenserhaltende Rolle der Weltgemeinschaft und der kontinentalen Gemeinschaften anerkennt, der braucht auch gut ausgebildete, disziplinierte Soldaten, die in letzter Konsequenz bereit sind, mit ihrem Leben dafür einzutreten. Auch die Kirchen verschließen sich dieser Wahrheit nicht.

Lassen Sie mich jetzt in diesem Zusammenhang einige Worte zum jüngsten Stand der unglückseligen "Mörder"-Debatte sagen. Es mag ja sein, daß Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht immer ganz leicht zu lesen sind. Auf Grund meines beruflichen Werdegangs bin ich aber ziemlich sicher, daß ich sie jedenfalls nicht völlig falsch verstehe, und da sagt mir die Lektüre des Beschlusses vom 10. Oktober 1995 zunächst einmal ganz einfach folgendes:

- Es kann bestraft werden, wer konkrete Soldaten einfach deshalb, weil sie Soldaten sind, als Mörder bezeichnet, und

- es kann sogar bestraft werden, wer die Bundeswehr als Ganzes - also immerhin einen Kreis von 340.000 Personen - als Mörder bezeichnet.

Damit steht zunächst einmal fest, daß die Soldaten der Bundeswehr nicht als Mörder denunziert werden dürfen. Und das ist auch völlig richtig; denn die Soldaten der Bundeswehr sind keine Mörder. Und einen anderen Kreis von dieser Größe, der in Deutschland strafrechtlichen Schutz genießt, gibt es nicht.

Entscheidend ist nun allerdings, was die Strafgerichte aus den Richtlinien des Verfassungsgerichtes machen. Und klar ist auch, daß jede einzelne Äußerung sorgfältig darauf überprüft werden muß, ob sie eine solche Behauptung wirklich aufstellt. Das gebietet schon der Grundsatz "in dubio pro reo". Die Dinge liegen hier bei Soldaten nicht anders als bei Beamten, Unternehmern, Gewerkschaftern und bei Richtern. Und diese Diskussion werden wir alle miteinander auch aushalten müssen.

Mehr als acht Millionen Bürger haben in diesen 40 Jahren als Soldaten in der Bundeswehr gedient, seit 5 Jahren schon über 200.000 Wehrpflichtige aus den neuen Ländern. Sie haben erlebt und bewiesen, was eine Armee in der Demokratie ausmacht: daß man als Bürger gefordert ist, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv einzutreten. Das heißt: einzutreten für den Geist der Freiheit, für die Menschlichkeit und den Frieden, mit Wort und Tat bis hin zum Einsatz von Gegengewalt gegen die Gewalt von Aggressoren.

Das Grundgesetz verpflichtet die deutsche Politik auf moralisch-ethische Maßstäbe. Es verpflichtet jeden Bürger und alle staatliche Gewalt auf den Schutz der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, die Grundlage jeder Gemeinschaft, und Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt sind. Es bestimmt auch den Zweck und den Auftrag unserer Streitkräfte und es begrenzt diesen nicht auf die Verteidigung der nationalen Grenzen, so sorgfältig die Entscheidungen darüber auch bedacht und getroffen werden müssen.

Das war vierzig Jahre lang die Legitimation der Bundeswehr zum Schutz unseres Landes, und es bleibt die Legitimation für die Bundeswehr als Teil der westlichen Schutzgemeinschaft. Gerade weil Deutsche in der jüngsten Geschichte militärische Gewalt in so schrecklicher Weise mißbraucht - und übrigens auch erlitten - haben, ist unser Land besonders verpflichtet, sich im Rahmen der Völkergemeinschaft an der Wiederherstellung des Rechts zu beteiligen. Das muß mit Augenmaß geschehen, im Hinblick auf unsere Geschichte, auf die Verantwortung für unsere Soldaten und auf die Akzeptanz in der Bevölkerung.

Wir verfolgen mit Sorge die Beschädigung des Ansehens internationaler Institutionen, deren Wirksamkeit für die internationale Friedensordnung unverzichtbar bleibt. Aber wir blicken auch mit Dankbarkeit auf die Soldaten und zivilen Mitarbeiter, die in dieser Stunde in Kroatien, Italien, Georgien und im Irak ihren Dienst tun und auch an anderen Stellen unsere Bündnispartner solidarisch unterstützen. Ich spreche heute noch einmal ausdrücklich diesen Soldaten und all denjenigen, die in der Vergangenheit an solchen Einsätzen beteiligt waren, meinen Dank und meine Anerkennung aus.

Mein Dank gilt aber auch denen, die 40 Jahre Bundeswehr zur Erfolgsgeschichte der deutschen Streitkräfte in der Geschichte gemacht haben: den Wehrpflichtigen, die kamen und kommen, um sich für die Landesverteidigung ausbilden zu lassen, den Soldaten auf Zeit, den Berufssoldaten und nicht zuletzt den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehrverwaltung.

Es ist vor allem die Landes- und Bündnisverteidigung und nicht die Beteiligung an internationalen Missionen, die Umfang und Struktur der Bundeswehr und die Beibehaltung der Wehrpflicht rechtfertigen. So wichtig es ist, daß die Soldaten der Bundeswehr die vom Bundestag zu beschließenden Auslandseinsätze mit höchster Professionalität durchführen, und so selbstverständlich es ist, daß sie hierauf bestens gerüstet sein müssen - und damit meine ich neben Bewaffnung, Ausrüstung und guter Führungsorganisation vor allem auch die geistig-seelische und die körperliche Vorbereitung - so selbstverständlich ist es doch auch, daß sich die tägliche Bewährung von 98% unserer Soldaten nicht im Einsatz, sondern in der vorsorglichen Ausbildung für den leider nicht auszuschließenden Fall der Landes- und Bündnisverteidigung vollzieht. Danach, und wie das geschieht, bilden sich die Bürger ihr Urteil über die Bundeswehr. Das bestimmt ihre Bereitschaft zur Unterstützung nachhaltiger als die Kurzzeiteindrücke von Auslandsmissionen, die freilich dann Fernsehen, Funk und Presse bieten.

Das Urteil der Bürger über 40 Jahre Bundeswehr ist positiv. Lassen Sie sich da durch das Auf und Ab der demoskopischen Zahlen nicht beirren. Diejenigen unter Ihnen, die wie ich den Weg der Bundeswehr von Anfang an verfolgen konnten, wissen schließlich, wie lange es dauerte und wie schwer es war, für die Bundeswehr und die NATO eine so große Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten, wie sie heute Tatsache ist.

Diese hohe Zustimmung ist das Resultat eines vierzigjährigen gemeinsamen Lernprozesses. Die Deutschen haben Viererlei gelernt:

1. Sicherheit für Deutschland gibt es nur durch nationale Streitkräfte und im europäischen Rahmen an der Seite Nordamerikas.

2. Sicherheit in Europa ist unteilbar und bedeutet in erster Linie Kriegsverhinderung, in gewissem Umfang aber auch Kriegseindämmung, um sicherzustellen, daß Krieg in Europa nicht zu politischen Erfolgen führen kann.

3. Streitkräfte müssen institutionell, rechtlich und geistig im demokratischen Staat verankert sein. Sie müssen umfassend durch das Parlament kontrolliert werden und gegenüber der Öffentlichkeit so weit wie möglich transparent bleiben.

4. Landesverteidigung und Wehrpflicht haben sich als Einheit bewährt.

Die Deutschen - da bin ich ganz sicher - werden auf die Dauer auch verstehen, daß die Mitgliedschaft in internationalen Einrichtungen und die Verantwortung Deutschlands als demokratischer und sozialer Rechtsstaat unsere internationale Solidarität erfordern, und daß diese - in besonderen Fällen und stets nur als letztes Mittel der Konfliktlösung - auch einmal militärische Beiträge beinhalten kann. Es ist eine wichtige Aufgabe für das Parlament und die in ihm vertretenen politischen Parteien, auch bei der Beteiligung an Auslandseinsätzen eine deutliche mehrheitliche Zustimmung in der Bevölkerung zu gewinnen. Nicht nur, aber gerade auch deshalb wiederhole ich hier, was ich schon oft gesagt habe: Wenn wir von der Übernahme größerer weltpolitischer Verantwortung durch Deutschland sprechen, stehen militärische Einsätze - auch argumentativ - nicht im Vordergrund. Unendlich viel wichtiger ist die Mithilfe bei der Lösung politischer Konflikte, noch ehe sie "heiß" werden. Das darf bei Diskussionen über die gewandelte Rolle Deutschlands in der Welt nie aus den Augen verloren werden. Die militärische Option ist immer die ultima ratio.

Die hohe Zustimmung zur Bundeswehr in der Bevölkerung ist das Ergebnis ihrer eigenen Leistungen. So hat sie zum Beispiel vor fünf Jahren eine Aufgabe übernommen, die abenteuerlich schien. Zwei ehemals feindliche Armeen wurden zusammengeführt. Und besser als in vielen anderen Bereichen ist hier die Vereinigung gelungen. Heute ist die Bundeswehr ein Ort der Begegnung junger Menschen aus Ost und West. Mit dieser Zusammenführung war aber auch ein ungeheuerer Personal- und Materialabbau verbunden. Die Bundeswehr hat sich dabei den politischen Vorgaben untergeordnet und die tiefgreifenden Strukturveränderungen erfolgreich mitgestaltet. Auch dafür gebührt ihr alle Anerkennung und aller Dank.

Sorge bereitet mir nach wie vor die hohe Zahl derjenigen, die nach Gesetz den Wehrdienst verweigern. Zwar ist auch der Zivildienst ein bedeutsamer Faktor im sozialen System unseres Landes, und auch die Zivildienstleistenden verdienen hohen Respekt. Aber die Wehrpflicht ist für uns unabdingbar.

Wir müssen bei klarem Bekenntnis zur Wehrpflicht als der originären Bürgerpflicht zu einem angemessenen Verhältnis zwischen Wehr- und Ersatzdienst finden und auf jeden Fall eine Entwicklung verhindern, die noch mehr als schon bisher zu Lasten der Wehrdienstleistenden geht.

Ich halte, wie ich soeben sagte, die Wehrpflicht für unabdingbar. Ich stehe aber auch zur Verpflichtung des Parlaments, sie glaubwürdig zu begründen, gerecht zu vollziehen und den Wehrdienst als die gegenüber dem Zivildienst vorrangige Pflicht öffentlich herauszustellen. Es wäre falsch, aus der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Gleichbehandlung der Wehrdienst- und Zivildienstleistenden eine Gleichrangigkeit beider Dienstformen abzuleiten. Gesellschaftlich wichtig und wertvoll - auch daran möchte ich keinen Zweifel lassen - sind allerdings beide Dienste.

Wir müssen also darauf achten, daß das Gleichgewicht der Belastung von Wehr- und Ersatzdienstleistenden sichergestellt wird. Der Zivildienstleistende darf im Vergleich zum Wehrdienstleistenden weder schlechter noch besser gestellt werden.

Es wäre meines Erachtens falsch, in diesem Zusammenhang die Wiedereinführung der Gewissensprüfung anzustreben. Wir müssen vielmehr den Wehrdienst attraktiver machen und - wenn nötig - auch über manche Formen des Zivildienstes noch einmal diskutieren. Allerdings: Ohne daß die Bevölkerung die Notwendigkeit der Wehrpflicht innerlich bejaht, laufen alle materiellen und streitkräfteinternen Aktualitätsmaßnahmen ins Leere.

Manche fragen heute wirklich: Wozu überhaupt Wehrpflicht? Ihnen sage ich: Wehrpflicht macht alle Bürger verantwortlich für die Sicherheit ihres Gemeinwesens. Und sie macht übrigens auch die Politiker in besonderem Maße sensibel für Einsätze, weil diese dann ja Söhne aus allen Familien und allen Schichten, auch ihre eigenen Söhne betreffen. Sie garantiert, daß die Armee in der Gesellschaft und mit der Gesellschaft lebt. Und sie sichert natürlich auch den personellen Gesamtumfang der Streitkräfte und ihre Qualität.

Die vielfältigen Vorteile für Staat und Streitkräfte reichen aber m.E. nicht als Begründung aus, ebensowenig wie wolkige Rufe nach mehr Pflichtgefühl der jungen Leute. Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, daß ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente können dann ruhig noch als Zusätze verwendet werden. Aber sie werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis für Konsens sein können.

Wehrpflicht glaubwürdig zu erhalten, heißt also zu erklären, weshalb wir sie trotz des Wegfalls der unmittelbaren äußeren Bedrohung immer noch benötigen.

Ich wiederhole das ganz bewußt: Nur wenn die Bevölkerung davon überzeugt werden kann, wird sie die Wehrpflicht auch in der Zukunft akzeptieren. Und hierzu, meine Damen und Herren, können Sie einen Beitrag leisten. Machen Sie also der Bevölkerung sowohl wie den Wehrpflichtigen klar, weshalb Vorsorge für die Landes- und Bündnisverteidigung in dem vorgesehenen Umfang ohne eine Verpflichtung des Bürgers nicht realisierbar ist. Der Generalinspekteur hat im militärischen Teil seiner Standortbestimmung hierzu deutliche Vorgaben gemacht. Er hat ausführlich beschrieben, daß es zwar einen erklärten Gegner nicht mehr gibt, daß aber neue Instabilitäten und Risiken mit einer Vielzahl auch militärischer Konflikte entstanden sind, die die Streitkräfte weiterhin notwendig machen.

Sorgen Sie aber vor allem, ich will fast sagen, sorgen Sie um Gottes willen dafür, daß der Wehrdienst als sinnvoll empfunden werden kann. Die "Akzeptanz" der Bevölkerung leidet nämlich nicht nur wegen einer nicht durchschlagenden Begründungsstrategie, sondern auch wegen des "Image" des Grundwehrdienstes und vieler Pflichtwehrübungen; ich erinnere nur an das böse Wort vom "Gammeldienst", das ich mir allerdings nicht zu eigen mache.

Die Streitkräfte müssen heute gegen gute Konkurrenz um die künftigen Soldaten werben, besonders um die qualifizierten. Werben heißt aber nicht schöne Worte machen, sondern eine Realität schaffen, die für sich wirbt, die ein positives Image schafft und damit Bewerbungen auslöst. Das beginnt mit der Sprache, es setzt sich fort im Umgangston, es zeigt sich an der Frage, ob man wirklich die besten Soldaten "am Mann" ausbilden läßt oder ob man sie anders verwendet. Und es endet bei der Einplanung und vor allem bei der Betreuung der Reservisten. Eine exzellente Armee brilliert nicht nur im Gefechtsdienst.

Meine Sorge gilt auch der Spannung zwischen Quantität und Qualität der Streitkräfte. Qualität kleiner, für den Einsatz bestimmter Teile, die Sie Krisenreaktionskräfte nennen, darf nicht zu Lasten der Ausbildungsqualität des Gesamtkörpers Bundeswehr gehen. Bieten Sie den Soldaten in allen Teilen der Streitkräfte eine lohnende und sinnvolle Ausbildung und eine Zeit, die die Wehrpflichtigen danach als gewinnbringend und nicht als Verschwendung betrachten und Sie werden keine Sorgen um den Nachwuchs haben.

Was das Innere der Bundeswehr angeht, so hat es in den 40 Jahren wie überall Höhen und Tiefen gegeben. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber der Staat und die Gesellschaft der nächsten 40 Jahre werden aller Voraussicht nach den Streitkräften nicht mehr das gleiche stabile Umfeld garantieren können wie bisher. Ich denke dabei vor allem an die Entwicklung in Europa.

Wenn das Wort von der wiedergefundenen nationalen Identität der Deutschen die Runde macht, dann müßte man in diesem Zusammenhang auch einmal die besondere Entwicklung der Bundeswehr bedenken. Dem Außenstehenden erscheint sie manchmal schon als eine der ersten postnationalen Institutionen, auch wenn man das in Ihrer Fachsprache - wie ich mir habe sagen lassen - mit Multinationalität bezeichnet.

Die Sicherheit Europas ist unteilbar und wir können sie auch nur gemeinsam gewährleisten. Dafür brauchen wir einen engen politischen und militärischen Verbund. Europäische Streitkräfte mag es eines Tages ebenso geben wie das europäische Geld. Dennoch bleibt man Deutscher und vertritt neben Europa auch Deutschland. Dabei wird man sich aber vielem öffnen, auch manche gewohnte Tabus abbauen müssen. Ich denke etwa an Frauen auf dem Gefechtsfeld, eine unsere Krisenreaktionskräfte zukünftig erwartende Selbstverständlichkeit. Ich denke an andere Formen der Rechtsanwendung, der Entscheidungsfindung und der Dienstgestaltung.

Die Debatte um das Einsatzspektrum der Streitkräfte hat allen gezeigt, daß "ewige" Wahrheiten nur kurze Halbwertzeiten haben können. Wir sollten an die Dinge ohne Denkschablonen herangehen und nach einer offenen Debatte dann nüchtern und rational entscheiden. An der bisherigen Rechtslage sollte die Beantwortung wichtiger Fragen nicht scheitern, beispielsweise Fragen wie die, ob ein niederländischer Soldat in Zukunft einem deutschen Soldaten vorgesetzt sein kann oder ob deutsche Wehrpflichtige in Frankreich oder umgekehrt dienen können. Neue rechtlich abgesicherte Lösungen werden dann gefunden werden, wenn der politische Wille dahinter steht.

In Zeiten des Wandels und der Instabilität werden Organisationen wie die Streitkräfte ein besonders hohes Maß an Phantasie, an Anpassungsfähigkeit und an Aufnahmefähigkeit für Veränderungen in der Welt aufbringen müssen, um funktionstüchtig zu bleiben. Diese Fähigkeiten müssen jetzt unter Beweis gestellt werden. Dabei ist hochmoderne Technologie gewiß bedeutsam für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Von offenkundiger Wichtigkeit sind aber ebenso Grundwerte wie Disziplin, Tapferkeit, Verläßlichkeit und Kameradschaft.

Zwei dieser Grundwerte, die ich Ihnen abschließend mit auf den Weg geben möchte, stammen von einem jungen Offizier, der sie in einem Buch mit Ideen und innovativen Konzepten zur Inneren Führung in der Bundeswehr formuliert hat. Ich finde sie eher traditionell und konservativ, aber auf jeden Fall gut und richtig. Also erlauben Sie bitte, daß ich ausnahmsweise nach 40 Jahren Bundeswehr, einmal nicht Clausewitz und Scharnhorst zitiere, sondern Ralf Bultschnieder:

1. "Die Bundeswehr dient den Bürgern und den von ihnen gewählten Vertretern."

2. "Nicht die Technik, sondern der qualifizierte und motivierte Soldat ist das Erfolgspotential der Bundeswehr."

Er ist es eigentlich immer gewesen und es wird so bleiben. Keine Technik, keine Maschine wird je den mutigen, den entschlossenen und einsatzbereiten Menschen ersetzen.