Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog bei der BDI-Jahrestagung

Schwerpunktthema: Rede

18. Juni 1996

Sie haben sich heute schon den ganzen Tag mit dem Thema Informationsgesellschaft beschäftigt und dazu zahlreiche hochkompetente Fachleute gehört. Ich kann heute abend also kaum noch etwas hinzufügen, und ohnehin wäre es ja vermessen, die Fachleute übertreffen zu wollen. Wenn ich dennoch, und durchaus mit Vergnügen, zugesagt habe, heute abend zu Ihnen zu sprechen, dann haben Sie eigentlich Anspruch darauf, etwas anderes zu hören, etwas Heiteres, etwas Erbauliches oder, da wir nun einmal in Deutschland sind, etwas Grundsätzliches.

Aber das Amt des Bundespräsidenten wurde, wie ich höre, nicht dazu geschaffen, um Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu erheitern oder zu erbauen. Also muß es etwas Grundsätzliches sein. Und es trifft sich, daß die Frage, die mich in diesen Tagen am meisten beschäftigt, eine ausgesprochen grundsätzliche ist. Es ist die Frage, ob wir für das 21. Jahrhundert ausreichend gerüstet sind. Sie stellt sich, wie ich meine, auf drei Ebenen, der deutschen, der europäischen und der globalen. Wir leben in einer Zeitenwende, obwohl erst nachfolgende Generationen darüber entscheiden können. Eine unglaubliche Dynamik hat die Welt erfaßt. Wir können es uns nicht leisten, in ergebnislosen Debattenritualen zu erstarren. Wir dürfen den Anschluß nicht verlieren und wir müssen den Aufbruch jetzt schaffen.

Auf der deutschen Ebene müssen wir uns der Frage nach der Zukunft des sozialen Zusammenlebens in einer offenen Gesellschaft und einer dynamischen Wirtschaft stellen. Auf der europäischen Ebene geht es um die Frage des nächsten großen Schritts nach Maastricht, um die Vollendung der politischen Union. Auf der globalen Ebene aber drängt sich die Frage der deutschen und europäischen Verantwortung für den Aufbau einer Weltfriedensordnung auf. Die Tücke des Objekts, oder, wenn man so will, die List der Vernunft bringt es mit sich, daß die Zukunftsfragen auf allen drei Ebenen auch etwas mit dem Thema Informationsgesellschaft zu tun haben. Es gibt also immerhin Anknüpfungspunkte zu Ihrer Jahrestagung und ich hoffe deswegen auf Ihr Verständnis für meine Ausflüge in alle drei Bereiche.

Auf der nationalen Ebene drängt es mich ganz besonders, die Frage nach der Zukunft unseres sozialen Zusammenlebens zu stellen. Hier beginnt schon der Zusammenhang mit dem Thema Informationsgesellschaft. Die einen sprechen über das Horrorszenarium des vereinsamten, vom Bildschirm hypnotisierten, zu menschlicher Kommunikation unfähig gewordenen Menschen. Die anderen sehen das genaue Gegenteil, nämlich das kontaktspendende Internet, das nicht nur geographische, sondern auch menschliche und gesellschaftliche Grenzen mühelos überwindet, das Menschen, die sich nie kannten und möglicherweise nie kennenlernen, zusammenbringt, ihrem Leben neue Inhalte gibt und ihnen damit ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.

Ich für meinen Teil verhehle nicht, daß mir der soziale Kulturoptimismus eher liegt als der soziale Kulturpessimismus. Zum Nachweis dieser Neigung will ich auch gleich etwas verkünden: Mein Amt ist vor wenigen Tagen "on line" gegangen, und jeder, der es will, kann über das Internet mit mir korrespondieren, oder wie es so schön heißt, mit den Herren meines Hauses. Jeder kann meine Reden nachlesen oder mir über die "Mail Box" Vorschläge machen. Die Reaktion der Internet-Surfer war bisher überwältigend. Der On-line Dienst klagte über Überlastung. Aber das wird sich ja vielleicht auch wieder beruhigen.

Wenn wir Vertrauen in Immanuel Kants Menschenbild, nämlich das Bild des mündigen Menschen, haben, dann müssen wir uns nicht von der Furcht leiten lassen, das Internet oder die Multimedien würden den Menschen zum willenlosen Objekt machen. Das Internet ist glücklicherweise so dezentral, daß Widerspruch gegen seinen Mißbrauch sich schon mit erstaunlicher Spontanität aus dem eigenen Nutzernetzwerk mobilisiert. Und bei den Medien bin ich mit Fragen nach geeigneten Formen der Medienethik schon auf beachtliches Interesse gestoßen. Jedenfalls darf eine Gesellschaft, die frei sein will, nicht bei jeder geringen Reizung der eigenen psychologischen "Befindlichkeit" gleich in den Reflex der Selbstfesselung verfallen.

Übrigens ist niemand gezwungen, den Kurzschluß zwischen dem Bildschirm und dem Bauch unter Umgehung des eigenen Kopfes zuzulassen. Das beste Mittel dagegen ist die Bildung, und auf die Bedeutung der Bildungspolitik für die Herstellung des Rüstzeugs für das 21. Jahrhundert werde ich noch mehrfach zurückkommen. Das Problem besteht in dem Verhältnis zwischen Bildung und Bildungspolitik. Ich habe meine Zweifel, ob letzere immer zur Bildung beiträgt. An dieser Stelle möchte ich nur die folgende Frage stellen: Ist es nicht gerade die Verantwortung der Bildungspolitik, daß die Gesellschaft der Zukunft nicht bei dem nur mechanischen, noch inhaltslosen Begriff der Informationsgesellschaft stehen bleibt? Bloße Beschleunigung, Dichte und Frequenz der Informationsübermittlung sagt ja noch nichts über den Inhalt und die Umsetzung dieser Informationen aus. Haben wir nicht ein Interesse, von der Informationsgesellschaft ausgehend zur lernenden, zur Problemlösung fähigen Gesellschaft vorzudringen?

Das Stichwort Problemlösung bringt mich zu einer weit gravierenderen und durchaus konkreten Frage des sozialen Zusammenlebens, und auch sie hat nicht nur, aber doch auch, mit der Informationsgesellschaft zu tun. Es ist die Frage des Zusammenlebens der Generationen, genauer gesagt der Verantwortung der Generationen füreinander. Sie ahnen schon, worauf ich hinaus will. Es geht um die Zukunft des Sozialstaates im nächsten Jahrhundert.

Ich werde mich hüten, hier intuitiv Lösungen dieses Problems zu verkünden. Aber Fragen stellen möchte ich doch. Sie wissen, der Bundespräsident hat wenig zu entscheiden, aber er lebt nach dem Motto: "Man wird doch noch fragen dürfen". Es hat ja keinen Zweck, die Augen davor zu verschließen, daß nicht nur die demographische Entwicklung, sondern auch die Techniken der Informationsgesellschaft die hergebrachten Formen des Sozialstaates in atemberaubender Weise in Frage stellen. Die elektronische Datenverarbeitung, die Verkürzung der Informationswege, der PC am Arbeitsplatz, der Laptop auf dem Schoß im Flugzeug und im Zug und schließlich immer wieder das Internet führen zur Abschmelzung zahlreicher traditioneller Arbeitsplätze, zum Wegfall ganzer Betriebsstrukturen und Entscheidungsebenen. Den Begriff "corporate re-engineering" brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Dieser Prozeß stellt möglicherweise alle anderen Ursachen von Arbeitsplatzverlusten weit in den Schatten. Immer mehr Dienstverträge, also nichtselbständige Arbeit, werden aufgrund der attraktiven Anreize der Informationstechnik durch Werkverträge, also selbständige Arbeit, ersetzt.

Die Beitragsbasis unseres Sozialversicherungssystems scheint also doppelt bedroht, einmal durch eine auf dem Kopf stehende Alterspyramide und daneben durch eine neue industrielle Revolution. Da stellen sich dann zwei ganz harte Fragen. Die erste ist: Wollen wir an einem Umlagesystem der Rentenversicherung festhalten, bei dem eine schrumpfende Zahl nichtselbständiger Erwerbstätiger die wachsende Masse der Ruheständler aus den nichtselbständigen Arbeitsverhältnissen vergangener Jahrzehnte versorgen müssen? Ich sage nicht, daß die Rettung des Umlageverfahrens undenkbar ist. Wenn wir sie aber wollen, dann müssen wir uns auch fragen, ob wir die Voraussetzungen schaffen wollen, die dafür erforderlich wären:

- Verlängerung der Lebensarbeitszeit
- Erhöhung der Erwerbsbeteiligung der Frau
- aktive Einwanderungspolitik
- Dynamisierung der Wirtschaft, um das zusätzliche Angebot Erwerbswilliger auf dem Arbeitsmarkt aufzunehmen.

Wer die eine oder andere dieser Bedingungen aus welchen Gründen auch immer ablehnt, muß die Ersetzung des Umlageverfahrens durch das in den angelsächsischen Ländern verbreitete Kapitaldeckungsverfahren erwägen, in dem jeder Erwerbstätige die eigene Altersversorgung durch eigene Beiträge anspart. Dafür gibt es dann wiederum verschiedene denkbare Wege: entweder ein staatliches Altersversorgungssystem oder private Pflichtversicherungen oder private freiwillige Versicherungen.

Bisher hat aber noch niemand eine überzeugende Antwort auf die zweite harte Frage gefunden, nämlich wie wohl der Übergang vom Umlagesystem zum Kapitaldeckungssystem gefunden werden soll. Will man der jungen Generation, die heute in das Leben hinein geht, etwa zumuten, gleichzeitig für die Umlageversorgung der alten Generation und für die Kapitaldeckung der eigenen Altersversorgung aufzukommen? Oder will man die Jugend dadurch entlasten, daß die alte Generation, der Deutschland ja immerhin seinen Wiederaufbau nach dem Kriege und die Jugend ihre Berufschancen verdankt, ihrer verdienten Altersversorgung mehr oder weniger beraubt wird?

Hier handelt es sich nicht um gedankliche Spielereien, sondern um einen möglichen sozialen Zündstoff größten Ausmaßes. Die Lösung dieses Problems ist des Schweißes der Edlen wert, und ich stelle diese Fragen heute abend in aller Offenheit, weil ich glaube, daß wir die Augen davor nicht mehr lange verschließen können. Die Lösung tut weh, und sie wird nicht nur den Arbeitnehmern weh tun.

Jedenfalls werden wir das Problem nicht lösen können, indem wir versuchen, der Informationsgesellschaft, die bereits die ganze Welt erfaßt hat, das Burgtor nach Deutschland zu verschließen. Im Vorfeld möglicher Arbeitskonflikte appelliere ich an alle Beteiligten, sich bewußt zu machen, daß wir alle verlieren würden, wenn wir so täten, als könnten wir uns fortgesetzte Verteilungskämpfe im Rahmen einer nationalen und dazu noch statischen Volkswirtschaft leisten. Ich verhehle nicht, daß ich aus diesen Gründen für ein Bündnis für Arbeit gewesen wäre. Wie die Dinge liegen, bleibt mir vorläufig aber nur zweierlei zu tun: Erstens alle, die es angeht, zu ermahnen, auf das Schüren falscher Emotionen zu verzichten - und das betrifft auch nicht nur die Gewerkschaften -, und zweitens an das zu erinnern, was sich in der Weltwirtschaft tut, ob wir es wollen oder nicht.

Daß sich in der Weltwirtschaft ein fundamentaler Wandel vollzieht, war bereits seit Mitte der 70er Jahre zu ahnen. Das sicherste Zeichen war, daß konjunkturelle Aufschwünge nicht mehr in der Lage waren, die Sockelarbeitslosigkeit zu senken. Die kurzfristigen Konjunkturzyklen wurden von etwas ganz anderem überlagert, was man zuletzt vor einem halben Jahrhundert erlebt hatte; nämlich dem Ende einer sogenannten langen Welle und dem Beginn einer neuen.

Die erste dieser Wellen begann im 18. Jahrhundert mit der Erfindung der Dampfmaschine, die zweite im 19. Jahrhundert mit der Eisenbahn, die dritte zu Anfang dieses Jahrhunderts mit Telegrafie, Telefon und der ersten Autogeneration, die vierte nach Depression und Krieg mit den Schlüsselindustrien Öl, Luftfahrt, Pharmazie und Fernsehen. Nikolai Kondratieff, der diese durch technologische Innovation ausgelösten Wellen 1926 zuerst beschrieb, gab ihnen ihren Namen. Die Ölkrise in den 70er Jahren leitete das Ende der vierten Kondratieff-Welle ein, die mikroelektronische Revolution und die Informationstechnik den Beginn der fünften. Das Ende einer langen Welle ist typischerweise mit institutioneller Sklerose verbunden, der Beginn einer neuen mit technologisch bedingten Preiseinbrüchen und Arbeitslosigkeit. Das Gute an den Kondratieff-Wellen aber ist die lange Boomphase danach. Aber auch hier sage ich, aus vier Vorgängen kann man nicht auf die Zuverlässigkeit des fünften schließen.

Was zur Zeit in den USA zu beobachten ist, scheint den Beginn der Boomphase der Informationstechnik anzudeuten. Die Frage, die ich heute stellen möchte, ist, welchen Anteil Deutschland an diesem Boom haben wird. Vom zweiten bis zum vierten Kondratieff-Zyklus gehörte Deutschland zu den technologischen Pionieren mit allen damit verbundenen Wohlstandsgewinnen. Die Frage ist aber, ob wir auch beim fünften Zyklus wieder dabei sein werden.

Wenn wir uns fragen, welchen Vorzügen unser Land es zu verdanken hatte, daß es an den drei vorausgegangenen Wellen erfolgreich beteiligt - bei der Dampfmaschine waren wir nicht dabei - war, so sollten wir uns an eine historische Tatsache erinnern. Die deutsche Forschung war von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts führend und die deutsche Unternehmerschaft verstand es, die Ergebnisse der deutschen Forschung zu nutzen. Ich frage Sie: Was hindert uns daran, diese gegenseitige Mobilisierung von Wissenschaft und Wirtschaft zu erneuern? Ist es etwa noch die für Abschwungphasen typische institutionelle Sklerose? Finden wir sie in den deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen? Finden wir sie etwa auch in der deutschen Unternehmenslandschaft? Aber vor allem: Was tun wir dagegen?

Ich habe schon oft gesagt und will es hier nur noch einmal wiederholen: Institutionelle Innovation setzt mentale Innovation voraus. Diese muß schon in der Jugend, in den Schulen und Hochschulen beginnen. Ich erinnere erneut an die zentrale Bedeutung der Bildungspolitik - hier handelt es sich um Persönlichkeitsbildung, die die jungen Menschen auch wetterfest macht - und kann das vielleicht mit einem letzten historischen Hinweis andeuten: Die erste Kondratieff-Welle ging Ende des 18. Jahrhunderts von England aus und im wesentlichen an Deutschland vorbei. Dann kamen 1810 die Humboldtschen Reformen. Sie leiteten mit durchschlagendem Erfolg eine beispiellose Blüte deutscher Wissenschaft und Technik ein, die ein Jahrhundert dauerte und unseren Wohlstand über drei große weltwirtschaftliche Zyklen hinweg sicherte. Mir scheint, wir brauchen so etwas wie einen neuen Humboldt oder, im dezentralen Informationszeitalter sicher angemessener, viele neue Humboldts.

Alle Fragen, die ich bisher zur Zukunft Deutschlands behandelt habe, stellen sich auch auf europäischer Ebene. Wenn wir den Problemen des globalen Wandels wirkungsvoll begegnen wollen, brauchen wir eine europäische Vision. Wenn die Deutschen sich jetzt in ihr Wolkenkuckucksheim zurückzögen, die Franzosen in ihr Hexagon und die Briten in ihre splendid isolation, würden wir allesamt die einmaligen Chancen, die sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert bieten, kläglich verpassen. Nicht nur die Größe des europäischen Wirtschaftsraums, sondern gerade auch die kulturelle Einheit und Vielfalt Europas sind außerordentliche Stärken für das vor uns liegende Informationszeitalter. Alle Europäer haben ein Interesse, mit diesen Pfunden zu wuchern. Und ich wundere mich nur, warum wir sie ständig zerreden. Zerreden wir sie lieber nicht!

Gerade an Sie als Vertreter der deutschen Industrie möchte ich mich mit einer Sorge wenden: Die Europadebatte hat zur Zeit bei uns eine gefährliche, fast möchte ich sagen populistische Schlagseite. Diejenigen, die die Währungsunion wollen, weil sie ihre Vorteile erkannt haben, schweigen noch allzu oft - obwohl ich zugebe, sie schweigen auf eine sehr vornehme Weise - und überlassen denen das Feld, die aus den unterschiedlichsten Motiven die Angst der Bevölkerung vor Europa schüren. Deshalb sage ich: Werden Sie öffentlich! Entlarven Sie die Scheinargumente! Erklären Sie den Zweiflern das vitale deutsche Interesse an der politischen und wirtschaftlichen Union Europas! Es bringt nicht sehr viel, wenn man Zweifel äußert, um - wenn es schiefgeht - sagen zu können, man habe es gleich gewußt.

Und noch eines will ich sagen: Europa ist mehr als nur die Währungsunion. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts an Europa ist, sich zu einer wirklichen politischen Union durchzuringen. Maastricht ist nur eine Etappe auf diesem Weg. Das Modell des Friedens durch Integration, das in den vergangenen vierzig Jahren in Westeuropa entwickelt wurde, muß sich nun auch in Osteuropa bewähren. Wir haben gar keine andere Wahl. Denn weiterhin gilt Vaçlav Havels Wort: Wenn der Westen den Osten nicht stabilisiert, destabilisiert der Osten den Westen. Dieser Zwang hat übrigens auch sein Gutes, denn bisher hat noch jede Erweiterungsdiskussion zugleich als Motor für die Vertiefung des Einigungsprozesses gewirkt. Die Berliner Einigung über eine europäische Verteidigungsidentität im Rahmen der NATO ist schon ein ermutigendes Zeichen für die Dynamik dieses Prozesses.

Damit bin ich bei der dritten Ebene, der globalen. Es geht um deutsche und europäische Mitarbeit an einer Weltfriedensordnung ganz neuer Art. Auch hier spielt die Informationsgesellschaft eine Rolle. Die zurückliegenden langen Boomphasen der Weltwirtschaft waren auch Phasen der Globalisierung der Märkte, der Verkürzung der Distanzen, der Erweiterung der geistigen Horizonte, der Spannung, die sich aus Einheit und Vielfalt ergibt. So ist es auch am Beginn des Informationszeitalters, wir erleben es ja täglich.

Chancen und Risiken in Politik, Wirtschaft und Kultur werden zunehmend transnational wirksam. Traditionelle Muster nationaler Politik, sei es nun Außenpolitik, Wirtschaftspolitik oder Kulturpolitik, werden zunehmend wirkungsloser. Transnationale gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen immer stärker die nationalen, regionalen und lokalen Entscheidungen. Ein deutsches Unternehmen, das im amerikanischen Bundesstaat Mississippi investiert, wird dort Teil des örtlichen Gemeinwesens. Es beeinflußt örtliche Entscheidungen und wird seinerseits durch örtliche Entscheidungen beeinflußt. Ähnliches tritt ein, wenn das gleiche Unternehmen in Japan oder Mexiko Produktions- oder Vertriebsstätten aufbaut. Akio Morita, der Gründer von Sony, hat es auf einen scheinbar paradoxen und gerade deswegen einprägsamen Begriff gebracht: "Global Localization". Ähnliches geschieht bei gesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen, politischen Stiftungen und wissenschaftlichen Netzwerken und schließlich - dank des Internets - auch in weltweiten Kontakten zwischen Individuen.

Wenn ich nun die Frage stelle, wie Deutschland und Europa auf globaler Ebene für das 21. Jahrhundert gerüstet sind, so läßt sich das ebenfalls nicht mehr in den Kategorien der nationalen Diplomatie oder Strategie beantworten. Worauf es ankommt, ist, welche Qualität die tausendfachen Botschaften haben, die von Deutschland und Europa im Prozeß der Global Localization ausgehen und überall auf der Welt empfangen werden. Es handelt sich im weitesten Sinne um kulturelle Ausstrahlung - wobei Kultur in diesem Sinne die traditionell getrennten Bereiche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umfaßt. Denken Sie an die deutsche Sprache, denken Sie an die soziale Marktwirtschaft, denken Sie an das deutsche Recht. Immerhin hat es kein geringerer als Karl Popper im Vorwort zur letzten Auflage seiner "Offenen Gesellschaft" den Reformländern des früheren Ostblocks zur Orientierung empfohlen.

Ich muß, wie Sie wissen, als Bundespräsident viel reisen. Gerade komme ich aus Georgien zurück, und vor kurzem fand in Polen ein Treffen aller mitteleuropäischen Staatspräsidenten statt. Immer wieder muß ich feststellen - die Erwartungen an uns sind riesig groß. Es geht nicht darum, die Welt am deutschen Wesen genesen zu lassen. Man möchte ganz einfach von unseren Erfahrungen lernen, auch wenn wir heute selbst unter Anpassungsdruck stehen. Die Erfolgsgeschichte unserer letzten 40 Jahre ist für andere ein außerordentlich gelungener Modellversuch, man mag das glauben oder nicht. Diesen müssen wir - freilich auch mit unseren negativen Erfahrungen - zur Verfügung stellen.

Auf den global tätigen Unternehmen der deutschen und europäischen Wirtschaft ruht in diesem Sinne eine besondere Verantwortung. Auch bei ihren Investitionen und gesellschaftlichen Aktivitäten vor Ort betreiben sie kulturelle Außenpolitik in dem eben beschriebenen Sinne. Die Kosten, die damit verbunden sind, lohnen sich langfristig auch betriebswirtschaftlich für die Unternehmen. Daß der dadurch geschaffene "good will" immer auch über das einzelne Unternehmen hinaus unserem Land und unserem Kontinent zugute kommt, ist ein Zugewinn, der auch politisch nutzbar ist. Ich selbst denke darüber nach, wie diese Art öffentlich-private Partnerschaft in der kulturellen Außenpolitik gestärkt werden kann, und werde meine Möglichkeiten, soweit es nur geht, nutzen, um zu einer solchen Stärkung beizutragen.

Zum Schluß möchte ich noch ein drittes Mal die Bildungspolitik erwähnen. Die stärkste kulturelle Ausstrahlung, die dezentral von einem Land ausgehen kann, liegt in der Qualität der Bildungseinrichtungen. Die Elite-Universitäten der USA sind heute zweifellos eine der wichtigsten Quellen der sogenannten "soft-power", das heißt des Einflusses durch Intelligenz. Deutschland braucht sich seiner heutigen Schulen und Universitäten zwar gewiß nicht zu schämen, aber der Glanz, der noch zu Beginn dieses Jahrhunderts von ihnen ausging, weckt in der Rückschau doch eine gewisse Wehmut. Muß es aber bei der Wehmut bleiben? Sind überdurchschnittliche Anstrengungen für das Bildungswesen nicht die gewinnträchtigste Investition für die Zukunft? Liegt der Schlüssel zum Rüstzeug des 21. Jahrhunderts nicht letztlich in der Bildungspolitik? Wobei ich nicht Rechtschreibreform meine oder ähnliche Faxen, die möglicherweise sein müssen, und nicht Redekünste oder anderes mehr.

Zum Schluß also meine herzliche Bitte an die deutsche Industrie: Denken Sie langfristig. Investieren Sie auch in die Köpfe und Herzen. Denken Sie an die Jugend unseres Landes. Hier beginnt der Aufbruch. Und den Aufbruch brauchen wir.