Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in Saarbrücken

Schwerpunktthema: Rede

Saarbrücken, , 21. Juni 1996

I.

Ich freue mich, heute unter Ihnen, der Max-Planck-Gesellschaft, zu sein. Allein vier Nobelpreisträger hatte die Max-Planck-Gesellschaft in den letzten fünf Jahren zu verzeichnen. Man nennt sie die Nobelpreisträgerschmiede Deutschlands. Dabei sind diejenigen nicht eingerechnet, die den Nobelpreis nur knapp verfehlt haben - oft nur, weil ihr Fach in dem Jahr zufällig nicht dran war. Die Max-Planck-Gesellschaft hat also eine forschungspolitische Führungsrolle im Wissenschaftssystem in Deutschland. Sie hat vor allem in den neuen Bundesländern beim Aufbau von zahlreichen neuen Forschungseinrichtungen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Die Selbstverwaltung hat sich bewährt und sichert ein weltweit anerkanntes Forschungssystem, das immer noch seinesgleichen sucht.

Aber ich bin nicht hierhergekommen, um nur zu beweihräuchern! Ich bin gekommen, weil mich auch an der deutschen Forschungslandschaft einiges beunruhigt.

- Erstens: Obwohl Deutschlands Forscher international mit an der Spitze sind, wandern doch viele von Ihnen aus, insbesondere viele junge, hoffnungsvolle Kräfte. Stimmt da etwas nicht bei uns? Es geht doch eigentlich nicht an, daß wir für die beste Qualifikation von Physikern, Chemikern, Biologen und Ingenieuren sorgen und daß diese dann arbeitslos werden oder auswandern müssen, um einen attraktiven Arbeitsplatz zu finden, der auch von seinen Bedingungen her attraktiv ist. Problematisch scheint mir in diesem Zusammenhang vor allem der Rückgang der industriellen Forschung. Was wir vermeiden müssen ist, daß eine ganze Generation von jungen, leistungsstarken Menschen in Deutschland überhaupt nicht mehr zum Zuge kommt oder nicht das Gefühl hat, es sei attraktiv, hier zum Zuge zu kommen.

- Zweitens: Deutsche Wissenschaftler haben Computer, Mikroprozessor, Telefax und Compact-Disc als erste entwickelt; aber japanische und amerikanische Firmen haben diese Schlüsseltechnologien als erste vermarktet. Wieder drängt sich die Frage auf: Was machen wir falsch? Sind wir zu langsam, weil wir zu große Bedenken haben wissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen, oder haben wir es einfach nicht nötig sie zu vermarkten? Ich erinnere nur an die Diskussion über die Gentechnologie, die erst durch die Novelle des Gentechnikgesetzes wieder einigermaßen ins Lot gebracht werden konnte.

- Drittens: Die Zahl der deutschen Forscher und Entwickler, der Hochschulen, der Abiturienten und Studenten, der öffentlich geförderten Institute, alles hat seit Jahrzehnten an Zahl zugenommen. Trotzdem droht unser Land gerade bei den zukunftsträchtigsten Technologien zurückzufallen. Und wieder stelle ich die Frage: Warum eigentlich?

- Viertens: In Deutschland studieren an über 300 Hochschulen mehr als 1,8 Millionen Studenten. Viele Hörsäle sind so überfüllt, daß die Vorlesungen per Video auf die Flure übertragen werden müssen: "Der Professor", so brachte es neulich eine Studentin auf den Punkt, "ist so weit weg wie Michael Jackson in der Saarlandhalle". Frustration, Masse statt Klasse und überlange Studienzeiten sind die Folge. Ist das die richtige Ausgangsbasis für anschließende Spitzenforschung?

Mein Resümee in dieser Sache ist: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Es muß sich etwas ändern in Deutschland. Das gilt insbesondere auch für das deutsche Hochschulsystem und für die deutsche Forschungslandschaft. Wenn man die Hochschulfazilitäten nicht mehr erhöhen kann, wird man über eine Reduktion der Studentenzahl und eine Erhöhung der Konkurrenz der Hochschulen untereinander um Studenten nachdenken müssen.

Herrn Rüttgers wird eine Schlüsselrolle bei diesem Änderungsprozeß zukommen. Zu beneiden ist er darum nicht. Nicht nur weil nichts so schwer zu verändern ist wie "gewachsene" Strukturen, sondern vor allem, weil gegen sie ein heute in Deutschland verbreitetes Lebensgefühl steht, das besagt, daß sich sehr wohl etwas ändern muß..., aber bei den anderen! Im Gegensatz zum Bundesforschungsminister hat es der Bundespräsident leichter. Er muß nicht auf alles eine Antwort haben. Er kann es sich leisten, gelegentlich nur Fragen zu stellen. Und mir drängen sich weitere Fragen auf: Sind wir in Deutschland schon genügend auf die europäische Forschungs- und Technologiezusammenarbeit vorbereitet? Und damit meine ich nicht die Anzahl der europäischen Wissenschaftskonferenzen, sondern die wirkliche Zusammenarbeit. Fordert schon die Europäisierung eine Überprüfung unserer Strukturen mit allen Förderinstrumenten heraus, um wieviel mehr dann die Veränderungen, die im Zusammenhang mit den weltweiten Informationsnetzen und der Globalisierung der Kommunikation vor uns stehen.

Stellen wir uns schnell und offensiv genug auf die Internationalisierung des Wissens- und Wirtschaftswettbewerbes ein? Sind alle unsere Wissenschaftler genügend darauf vorbereitet? Wird an unseren Hochschulen schon global genug gedacht? Sind unsere Förderungsinstrumente, unsere Forschungsstrukturen geeignet, auf das schnelle Tempo der Veränderungen angemessen zu reagieren?

Und wie verkraften Menschen immer mehr Wissen? Wie werden sie mit den immer schnelleren Veränderungen fertig, zu denen auch das Veralten von Wissen und Erfahrung gehört?

Wir sprechen heute so leichthin von einer "mitlernenden" Gesellschaft. Aber wie schnell kann sie lernen? Entwickelt sich nicht eine neue Kluft zwischen einer immer kleiner werdenden Zahl von Menschen, die über immer spezielleres Wissen verfügen, und solchen, die das Gefühl haben davon abhängig zu sein.

Eines ist sicher: Zur Bewältigung dieser Fragen helfen uns die Naturwissenschaften allein nicht weiter. Wir brauchen dafür eine stärkere Verknüpfung mit den Geisteswissenschaften, die uns das notwendige Orientierungswissen zur Verfügung stellen. Die Triumphe des naturwissenschaftlichen Zeitalters führen meines Erachtens daher nicht, wie noch vor wenigen Jahren befürchtet, zum Ende der Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern sie sind möglicherweise geradezu ein Motor ihrer Renaissance.

Die Geschwindigkeit der Wissensvermehrung und die weitreichenden Auswirkungen von Erfindungen verlangen stets auch die Folgen zu bedenken. Verbote allein helfen da nicht weiter. Mit Verboten kann man da gar nichts erreichen. Nicht jede Gefahr im Nanobereich rechtfertigt es auch schon, den Gesetzgebungsapparat, den "furor legislativus germanicus", in Gang zu setzen. Notwendig sind stattdessen vorausschauende Forschung, vernetztes Denken, mehr fachübergreifende Diskussion statt zunehmende Spezialisierung, mehr Dialog zwischen Politik und Wissenschaft und vor allem ein stärkerer Dialog zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit. Wissenschaft und Forschung in einer Massen-, einer Medien- und Kommunikationsgesellschaft - das ist eine ganz neue Herausforderung an die Wissenschaft in unserem Land. Da müssen nicht die Bürger studieren, damit sie die Wissenschaftler verstehen, da müssen die Wissenschaftler studieren, um sich mit den Bürgern zu verständigen.

Wie kommt es eigentlich, daß unser Wohlstand und ein Großteil unserer Arbeitsplätze von Wissenschaft und Forschung abhängig sind und es dennoch - zumindest in akademischen Zirkeln - chic ist, sich wissenschaftskritisch zu geben? Es gibt bei uns eine "meinungsführende" Schicht, die es fertigbringt, sich via Handy über die neuesten Erkenntnisse zum Elektrosmog zu unterhalten. Politisch korrekt ist bei uns das sorgenvolle Stirnrunzeln bei Diskussionen über Technologie. Zumindest ein "aber" muß die kritisch gemessene Distanz zur Forschung deutlich machen. Alles andere gilt als leichtfertig und oberflächlich. Als ob das Problem der Ambivalenz von Wissenschaft und Forschung nicht ein uraltes Menschheitsproblem wäre.

Wir Deutschen gefallen uns immer noch in der Rolle der Dichter und Denker. Wir haben aber keine Zukunft, wenn wir nicht auch das Land der Forscher, der Erfinder, der Tüftler, der Techniker und Ingenieure bleiben. Sie müßten "Stars" unserer Gesellschaft sein; denn von ihren Erfindungen leben wir letztlich. Als Leitbilder für unsere Jugend wären die Tugenden des Forschers - wissenschaftliche Rationalität, logisches Denken, Sachgerechtigkeit, geistige Abenteuerlust - und zurückhaltende Ehrlichkeit sich selber und den Kollegen gegenüber ohnedies eher geeignet als die "Tugenden", die uns heute mancher Show-, Film- oder Sportstar vermittelt.

II.

Deutschland muß sich in einem globalen Wettbewerb als Wirtschaftsstandort bewähren. Nur durch Fortschritte bei wissenschaftlichen Erkenntnissen und bei erheblicher technologischer Leistungs- und Innovationsfähigkeit werden wir hohe Löhne und soziale Standards, an denen wir festhalten wollen, beibehalten können? Dazu brauchen wir auch jenseits von Naturwissenschaft und Technik neue Forschungsfelder. Ich frage mich zum Beispiel - ohne die Gründung eines Max-Planck-Instituts anregen zu wollen ?, warum es in Deutschland so viele Betriebswirtschaftslehrstühle für Finanzen gibt, aber bislang keinen Lehrstuhl, der sich schwerpunktmäßig mit Venture-Kapital befaßt. Die Züricher machen das im Augenblick.

Angesichts einer Zahl von rund 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland ist es überhaupt hohe Zeit, manches in unserer Wirtschaft, unserer Wissenschaftslandschaft und unserer Gesellschaft zu überdenken.

Nicht nur mir scheint etwa die Schnittstelle von Forschung und wirtschaftlicher Umsetzung reformbedürftig, und zwar auf beiden Seiten. Denn erfahrungsgemäß haben diejenigen wissenschaftlichen Innovationen die größten Erfolgschancen, bei denen die wirtschaftliche und technische Anwendung bereits in den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten Beachtung findet.

Ich weiß natürlich auch, daß ein Unternehmer schief gewickelt ist, wenn er bei einem Forschungsinstitut gewissermaßen ein neues Produkt in Auftrag geben will. Aber umgekehrt wird eben auch ein Schuh daraus: Selbst die Max-Planck-Gesellschaft, die sich definitionsgemäß auf die Grundlagenforschung konzentriert, könnte helfen, Brücken zur Wirtschaft zu schlagen. Denn wer, wenn nicht ihre Mitarbeiter, erkennen oft in ihrer täglichen Arbeit auch sehr früh einen zumindest denkbaren Anwendungsbezug eines Forschungsgegenstandes? Und da könnte man doch Laut geben.

Die bewährte Forschungslandschaft, die durch die Hochschulen, die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und ein gutes Stiftungswesen getragen wird, reicht heute nicht mehr aus. Mir scheinen noch viele andere strukturelle Hilfen für eine dynamischere Forschungsumsetzung notwendig zu sein:

- mehr private Forschungszentren,
- mehr wissenschaftliche Politik- und Wirtschaftsberatung,
- mehr Anreize für Unternehmensgründungen in technologie- und wissensbasierten Bereichen und vor allem
- mehr Innovations- und Risikokapital.

Auch mehr Flexibilität in unseren Wissenschaftsstrukturen wären hierzu ein wichtiger Beitrag. Ich denke etwa an die Möglichkeit, die ich oft genannt habe, Professoren für eine Zusammenarbeit mit der Industrie zu beurlauben, Zeitverträge für Praktiker als Dozenten an den Universitäten und als Mitarbeiter an Forschungsinstituten zu schaffen. Wir könnten an den Universitäten Patentbüros, "Research Parks" und Verbindungsstellen zur Industrie einrichten. Das hängt oft von der richtigen Person ab. Mit Institutionalisierung erreicht man nicht alles. Damit könnten vielleicht sogar zusätzliche Drittmittel an die Hochschulen und Forschungseinrichtungen fließen.

Gerade in Zeiten knapper Kassen gilt es auch immer wieder zu prüfen: Erreichen die Fördermittel auch wirklich den Forscher, der die Mittel braucht und verdient? Sind die Fördermöglichkeiten für den einzelnen Forscher leicht zu durchschauen, oder sind nur noch Spezialisten oder Fachabteilungen großer Forschungs- und Technologieunternehmen in der Lage, die Forschungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Aus dem "Ausschöpfen" wird dann leicht ein "Abschöpfen". Erhält die Mittel der gute Forscher oder der gute Experte für Forschungsförderung? Eröffnet sich hier gar schon ein neues Berufsfeld - für den "Forschungsförderungsbeantragungsconsultant"?

III.

Ich habe schon oft gesagt, daß eine dynamische Wirtschaft nicht funktioniert ohne eine neue Wagniskultur. In Deutschland scheinen wir alles zu wagen, wenn es um nichts geht, aber nichts zu wagen, wenn es um alles geht. Tausende von Menschen suchen den Nervenkitzel, beim "free climbing", Bungee- oder Fallschirmspringen und beim Gleitschirmfliegen. Wenn es aber darum geht, in der eigenen beruflichen Existenz einmal ein Risiko einzugehen oder gar auf neue Ideen zu setzen, hört die Risikofreude auf. Dann geht man doch lieber in den Öffentlichen Dienst.

Wenn Sie heute in Deutschland einen Naturwissenschaftler oder Techniker an einem staatlichen Forschungsinstitut fragen, warum er sich nicht selbständig macht, wird er ihnen vorrechnen, daß er mit geregelter Arbeitszeit, mit gesichertem Einkommen und Rentenanspruch viel besser dran ist; obwohl seine Frau vielleicht ohnehin eine verbeamtete, auf Lebenszeit abgesicherte Lehrerin ist. Außerdem braucht er das Risiko des Konkurses nicht einzugehen. Das führt dazu, daß sich - im Gegensatz zu anderen Ländern - kaum jemand aus dem akademischen Mittelbau selbständig macht. Von den Professoren ganz abgesehen.

Was wir brauchen, um das zu ändern, ist die bewußte Erziehung zu einer neuen Wagniskultur bereits in den Kinderschuhen. Hierbei muß man in den Familien und beim Bildungssystem ansetzen und die Faszination des Neuen wecken. Durch Reformen der Lehrpläne, der Unterrichtsformen, vor allem aber der Schulbuchliteratur und der außerschulischen Bildungsangebote könnten Phantasie, Kreativität, Eigeninitiative, Selbständigkeit und Risikofreude, die Freude daran, auch einmal etwas Eingeübtes hinter sich zu lassen, belohnt und unterstützt werden.

Auch die Wissenschaft hat in dieser Sache ihre Verantwortung. Wie viele neue Erkenntnisse werden von Wissenschaftlern hervorgebracht, und die Öffentlichkeit erfährt davon kaum etwas?

IV.

Man hält solchen Thesen manchmal allen Ernstes entgegen, die Wissenschaft sei frei, und damit auch zweckfrei, und habe deswegen nicht wirtschaftlich nützlich zu sein. So stehe es in Artikel 5 des Grundgesetzes und gerade ein Bundespräsident mit verfassungsrechtlicher Vergangenheit müsse das wissen. Ich kann Ihnen versichern, ich weiß es, und ich werde für die Freiheit der Wissenschaft in die Bresche springen, so oft ich nur kann. Eine offene Gesellschaft, die in der Freiheit ihren höchsten Wert und die Quelle ihrer Stärke sieht, kann nicht ausgerechnet die Freiheit der Forschung beschränken wollen.

Aber halten wir doch einmal einen Moment inne: Bedeutet die Garantie der Freiheit der Wissenschaft wirklich das Verbot ihrer Nützlichkeit? Kann nicht eine Wissenschaft, die frei ist, gleichzeitig auch nützlich sein? Und nützlich sein wollen? Mit der Freiheit der Wirtschaft ist es doch auch so. Der Artikel 5 Grundgesetz ist ein wichtiges Recht, aber er schützt nicht alles, was ein C-4er sagt.

Was anderes bedeutet denn die Erkenntnis, daß 200 Jahre ökologischen Rückschritts nur durch überkompensierende Beschleunigung technischen Fortschritts umgekehrt werden können? Ergibt sich daraus nicht geradezu ein ethischer Imperativ nützlicher Forschung? So eine Art Lebensführungsschuld, um es übertrieben zu sagen.

Eine Beschränkung legt Artikel 5 des Grundgesetzes allerdings auch der Wissenschaft auf. Sie ist an die Verfassung gebunden. Einem Juristen, der die immer wieder aufflammenden Diskussionen über die Ethik der Wissenschaft, etwa in den Bereichen Medizin und Biotechnologie, verfolgt, werden Sie nachsehen, daß er dabei an die Definition der Menschenwürde im Sinne des Artikels 1 des Grundgesetzes denkt.

Ihren Schutz hat das Bundesverfassungsgericht - lange vor meiner dortigen Tätigkeit - trefflich definiert: Der Mensch muß als Subjekt respektiert, darf nicht als Objekt mißbraucht werden. Glauben Sie nicht, daß ich hierbei nur auf das Bundesverfassungsgericht zurückgreife. Die Definition geht auf Immanuel Kant zurück, und das ist ja auch kein Fehler.

Keineswegs bedeutet diese Definition, daß Biologen, Mediziner und Psychologen nun etwa arbeitslos werden müssen. Wer forscht, um kranken Menschen Heilung zu bringen, macht sie nicht zum Objekt. Aber kein Wissenschaftler kann sich der persönlichen ethischen Verantwortung entziehen, wenn seine Forschungen in den Grenzbereich zur Instrumentalisierung des Menschen und damit zur Verletzung der Menschenwürde geraten.

Mut zur Forschung bedeutet also nicht etwa ein Ausblenden der Ethik, sondern geradezu ihre Mobilisierung. Wer das nicht zugibt mag ja Nobelpreisträger werden, aber für mich ist er ein moralischer Flickschuster. Übertriebene Reglementierung wissenschaftlicher Forschung kann die Ethik der Handelnden nicht erzwingen. Wenn der Staat die Forschung einschränkt, wandert sie entweder in die Hinterzimmer ab, oder sie unternimmt die moderne Form der Auswanderung: Sie globalisiert sich und wird international. Diesen Prozeß kennen wir ja; er findet zur Zeit statt. Nun würde auch dies kein unethisches Verhalten rechtfertigen. Aber die Abwanderung der Wissenschaft erhöht die Gefahr, daß die Frage nach der Verantwortlichkeit wissenschaftlichen Tuns überhaupt vergessen wird. Und sie verschüttet Chancen, die bei uns hinter einer überdimensionierten Gefährdungs-Diskussion oft gar nicht mehr wahrgenommen werden. Es hat Ursachen bei uns, wenn Biochemie jetzt vorwiegend in den USA ihre Heimat findet und nicht in Deutschland. Soll es denn unser Ziel sein, die biotechnologische Forschung in Deutschland zu verhindern? Sollen z.B. 8000 deutsche mukoviszidosekranke Menschen vergeblich auf ihre Heilung warten, weil wir uns eine Diskussion über Gentechnologie ad infinitum leisten?

Marie von Ebner-Eschenbach sagte einmal: "Freiheit ist Verantwortlichkeit." Dieser Satz trifft gerade in der Wissenschaft zu. Wir brauchen keine "entfesselte" Wissenschaft, aber auch keine Wissenschaft in den Fesseln einer überflüssigen Bürokratie, selbst dann nicht, wenn es die eigene Bürokratie der Wissenschaft wäre.

V.

Ich sagte zu Beginn, daß sich bei der Forschung etwas ändern müsse. Manches macht Hoffnung, daß es bereits Ansätze zur Veränderung gibt. Die Politik hat jedenfalls die Kraft gefunden, auf die Eigenverantwortung der Forschung zu setzen. Sie hat sogar einer überproportionalen Förderung der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugestimmt. Was kann man in diesen Jahren schon Besseres verlangen. Der langjährige Präsident Hans Zacher hat tatkräftig zum Gelingen dieses Wissenschafts- und Forschungskonzeptes beigetragen. Seine Verdienste für die Max-Planck-Gesellschaft möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen und hervorheben. Lieber Herr Zacher, mehr will ich dazu nicht sagen, unsere Freundschaft ist uralt, und ich will hier nicht den Verdacht erwecken, wir hätten die Laudatio gemeinsam verfaßt.

Ich weiß auch, daß der zukünftige Präsident, Hubert Markl, ein Mensch ist, der komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge der Gesellschaft in verständlicher Form vermitteln kann und so die Interessen seiner Zunft gut zu vertreten weiß. Lieber Herr Markl, ich wünsche Ihnen hierbei - auch als ehemaliger Wissenschaftler - von Herzen viel Erfolg. Gehen Sie davon aus, daß ich es nicht als einen Abstieg betrachte, wenn die Führung der Max-Planck-Gesellschaft jetzt von einem Niederbayern auf einen Regensburger übergeht.